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Geschichte eines Boxers
Jetzt johlt ihr wieder. Füllt den ganzen Saal mit eurem hässlichen, affenartigen Geschrei.
Ich kann kaum glauben, wie sehr mich das früher getragen hat. Dass ich seine wahre Bedeutung nicht schon viel früher erkannt habe.
Für Jubel habe ich es früher gehalten, der mich anfeuert, den Kampf zu gewinnen. Ich glaubte, ich sei so etwas wie ein Idol für euch. Dass ihr mich als Vorbild brauchtet und nicht als Deppen, der über eure Mattscheibe hopst und sich das Hirn aus der Rübe schlagen lässt, damit euch richtig einer abgeht.
Jetzt wollt ihr mich also wieder gewinnen sehen. Mein Gegner steigt in den Ring, versucht sich die Buhrufe nicht anmerken zu lassen. Aber ich weiß, wie er sich fühlt. Auch ich habe mich damals zusammenreißen müssen, um nicht gebeugt zu gehen.
Ich weiß nicht einmal, warum ich mich wieder auf dieses Spiel eingelassen habe. War es mein Stolz? Wollte ich es allen noch mal so richtig zeigen? Aber wozu?
Ich bin Boxer geworden, weil ich den fairen Kampf liebte. Der Bessere gewinnt und sieht sein Können bestätigt. Der Verlierer bekommt eine Lektion, von der er in späteren Kämpfen profitiert. Der Beste schafft es nach oben. Die Lust an der Auslese gibt den Menschen Auftrieb. Ohne die Auslese wäre das Kräftemessen eine ungewürzte Mahlzeit.
Ihr brauchtet jemanden, der die Dinge so sieht. Jemanden, der ganz nach oben will. Der sich durch nichts aufhalten lassen würde, auch durch keine Probleme, die mit dem Boxen nichts zu tun haben. Der nicht nach links und nicht nach rechts schaut. Oder innehält, um über sein Leben nachzudenken.
Der seine Aufmerksamkeit nicht abschweifen lässt und so auch keine Dinge sieht, die seiner Motivation schaden.
Wäre ich nicht so gewesen, hätte ich viel früher erkannt, dass es euch nicht um den Sport ging, auch wenn ihr mich noch so sehr angetrieben habt.
Was für ein Scheißtag, wenn das Publikum vor lauter Begeisterung vergisst, Wetten abzuschließen! Was ist der schönste Sieg schon wert, wenn danach kein neuer Sponsor kommt und euch mit einem warmen Regen beglückt? Soll ich heute lieber gewinnen oder verlieren? Vielleicht ist der Sponsor ja ein Fan meines Gegners.
Und wo kämt ihr hin, wenn euer Gorilla sich nicht dressieren ließe? Ihr habt mich so zugeschnitten, dass ich möglichst vielen gefalle. Klar, mehr Fans, mehr Zuschauer, mehr Quote, mehr Werbegelder, mehr Wetteinsätze. Das leuchtete mir ein. Die wirtschaftliche Vernunft. Wovon wollt ihr denn sonst leben?
Und außerdem: Vertrag ist Vertrag. Hast du das Kleingedruckte nicht gelesen? Wir haben deine Seele schriftlich. Ganz freundlich habt ihr mir das ins Gesicht gesagt. Lächelnd. So wie an dem Tag, als ihr mich eingewickelt habt. Und genauso scheißfreundlich konntet ihr mich wieder kegeln.
Ihr hattet mich in der Hand. Denn es ist Naturgesetz, dass der Mensch erfolgreich sein will. Und gekegelt zu werden ist ein Misserfolg.
Ich durfte in der Öffentlichkeit nicht mehr sagen, was ich dachte, weil jedes meiner Worte auf die Goldwaage gelegt wurde. Ich sollte für Produkte werben, die ich nicht kannte, und für politische Programme eintreten, die mich nicht interessierten, damit wir Unterstützung erhielten, von der ich nicht verstand, warum wir sie brauchten.
Euer Gorilla hat es gut gemacht. Stell dich vor den Golf, sagten sie, und ich tat es. Wenn die Kamera läuft, lächle. Schön breit. So ist es gut. Und jetzt für die Babynahrung. Perfekt. Und immer schön weiterlächeln, gleich kommen die Reporter. Heute Abend kriegst du ne Banane.
Das Lächeln wurde zu meiner Maske, die alles, was darunter lag, langsam ersticken ließ.
Auch ein moralischer Lebenswandel war euch wichtig.
Es wäre ja schlecht fürs Image, wenn ich irgendwelche Affären hätte, auch wenn ich von meiner Frau getrennt lebe und meine Kinder kaum noch sehe.
Es wäre ja schlimm fürs Geschäft, wenn ich mir etwas anderes reinpfeifen würde als eure verdammten Masthormone, die euren Gorilla schön groß und kräftig und aggressiv machen sollen.
Denn euch ist alles recht, was mir den Sieg bringt, man darf sich nur nicht erwischen lassen.
Aber was beklage ich mich? Ich habe ja kräftig mitgemacht bei eurem Spiel und eingesackt, was das Zeug hielt. Ich habe keinen Widerstand geleistet, weil ich selbst geglaubt habe, dass es sich für mich lohnt. Ich bin ganz nach oben gekommen, habe mich auch am Erfolg berauscht, keine Frage. Ich tat alles für den Erfolg, denn das ist nun einmal der große Urinstinkt des Menschen, dass er immer und überall gewinnen will. Mich dagegen zu wehren, wäre gegen die Natur gewesen. Außerdem brauchte ich den Erfolg, um den nächsten Moment der Klarheit möglichst lange aufzuschieben. Und dann gab es ja noch meine Fans.
Ich wusste natürlich, dass sie nicht wirklich mich verehrten. Sie liebten das Abziehbild, das sie als Poster an die Wand hängen konnten.
Aber es reichte, um mir eine Art Pflichtgefühl einzuimpfen, damit ich im Ring immer mein Bestes gab. Ja, ich wollte euch ein Vorbild sein, euch, dem Publikum. Und dafür habt ihr zu mir gehalten. Dachte ich.
Aber als ich diese ständige Heuchelei und das ewige Brüllen meiner Antreiber nach mehr Leistung nicht mehr aushielt, mir Koks durch die Nase zog und dabei erwischt wurde, da war auf einmal das Geschrei groß. Da rochen sie Blut, stürzten sich auf mich, forschten akribisch nach weiterem Schmutz. Plötzlich wurde öffentlich, dass ich mich gedopt hatte. Dass ich als junger Bursche ein ziemlicher Schläger war. Dass ich als Kind Walkmans im Laden hatte mitgehen lassen.
Der Dammbruch kam, als ruchbar wurde, wo ich überall illegal eingesackt hatte. Ein Insidergeschäft hier, eine Steuerhinterziehung da - was kümmert das einen, wenn es alle anderen auch machen? Und man macht es ja nicht selber, man hat kompetente Leute, die das für einen erledigen und einem scheinbar die Verantwortung aus der Hand nehmen. Da gab es für sie kein Halten mehr. Alle stürzten sich plötzlich auf mich, und diesmal nicht um der Sensation willen, sondern um mich zu zerstören.
Nicht nur meine Karriere. Ich hatte das Gefühl, als wollten sie mich als Menschen vernichten. Eine Hinrichtung, um einen Rivalen aus dem Weg zu räumen. Um den Pöbel zu unterhalten. Um nicht selbst in der Arena zerrissen zu werden.
Ich wollte es an mir abgleiten, vorüberziehen lassen. Ich war sträflich unachtsam gewesen und musste die Konsequenzen tragen. Das akzeptierte ich. Aber irgendwie war da die Hoffnung, jemand würde noch zu mir halten, mir helfen, diese schwere Zeit durchzustehen. Und dieser Jemand, dachte ich, würdet ihr sein, die Fans.
Und dann der Schock, als ich eines Tages in das Stadion kam und mir statt Jubel nur noch Buhrufe entgegenschlugen. Eure Buhrufe.
Dieses Geschrei, als mein Gegner hereinkam. Zeig’s diesem Arschloch! Mach ihn alle! Hau ihm die Rübe ein. Urplötzlich war ich nur noch das Objekt für euren neuen Star, auf das es einzuprügeln galt. Und in diesem Moment habt ihr geschafft, was die ganze Hetzkampagne nicht vermochte: Ihr habt mir endgültig das Gefühl genommen, ein Mensch zu sein. Ich war nur noch ein Stück Fleisch auf dem Tranchiertisch.
Da wollte ich nicht mehr kämpfen. Ich stieg in den Ring, aber meine Niederlage war besiegelt. Nach drei Schlägen ging ich zu Boden, begleitet von eurem Gejohle.
Ich wusste nicht, was eure Meinung so plötzlich wieder geändert hatte. Wieso mich auf einmal wieder alle haben wollten. Ich hatte gehört, die Antreiber wären als Hauptverantwortliche hinter Gittern gelandet. Ich hatte nur eine Bewährungsstrafe bekommen. Man hatte mir erzählt, dass viele meiner "Fans" wieder zu mir "zurückgekehrt" wären. Was auch immer das heißen mochte. Aber meine Verantwortlichkeit war doch immer noch da, wieso dieser Sinneswandel?
Da begriff ich, dass es bei dieser Rufmordkampagne genausowenig um mich gegangen war wie bei meiner Boxkarriere.
Ich hatte als Boxsensation nicht mehr genug abgeworfen. Also versuchten die Sensationsverwerter mich noch schnell als kriminelle Attraktion auszuschlachten, bevor ich endgültig uninteressant wurde. Jetzt war ich wieder als Boxsensation gefragt. Und die Menschen machten die Wende mit, denn wenn ich auf der Mattscheibe wieder der Gute war, wie konnte ich im wirklichen Leben schlecht sein?
Was wollt ihr, habe ich gefragt, als die neuen Antreiber vor meiner Tür standen. Habt ihr wieder eine Banane dabei für euren Gorilla? Banane gegen Kette? Eine schön kurze diesmal, einen Gorilla muss man im Griff haben.
Ich bin trotzdem wiedergekommen. Ich wollte es euch allen noch einmal beweisen. Ich wollte es mir selbst beweisen. Was für eine Schnapsidee.
Da sehe ich meinen Gegner, wie er seine Lockerungsübungen macht und versucht, die Buhrufe und Beschimpfungen nicht wahrzunehmen. Genau wie ich damals.
Weshalb hassen sie dich? Bist du verheiratet und hattest eine Affäre mit einer Frau? Warst du auf Drogen wie ich? Haben deine Antreiber unmoralisch Geld an dir verdient wie an mir? Hast du selbst unmoralisch verdient wie ich, ohne darüber nachzudenken?
Der Ringrichter gibt die Runde frei. Das Gejohle wird lauter. Sie freuen sich riesig darauf, dass ich dich mit einem rechten Haken zu Boden schicke. Und deine Technik ist so erbärmlich, ich werde bestimmt leichtes Spiel haben.
Da trifft mich zufällig ein Blick aus deinen Augen. Nur für einen Moment, dann senkst du den Blick wieder und richtest ihn auf meinen Hals.
Plötzlich ist mir, als würde mich etwas tief drinnen einschnüren. In diesem Bruchteil einer Sekunde hat sich dein Blick in mir eingebrannt.
Ich habe so etwas wie Hass oder Wut erwartet. Auf der Boxschule lernen wir, unsere ganze Frustration, auch unsere Angst in Aggression umzuwandeln und auf den Gegner zu projizieren. Ich hätte dir nicht verdenken können, wenn du so gefühlt hättest.
Aber da war nichts dergleichen. Nicht einmal die natürliche Rivalität stand in deinen Augen.
Nur Müdigkeit und Angst. Aber das war es nicht, was mich so getroffen hat. Es ist noch etwas anderes darin gewesen.
Verletztheit.
Eine Verletztheit, von der ich bisher dachte, nur ich könne sie fühlen. Auf einmal weiß ich, ich bin nicht allein.
Ich bin wie erstarrt. Nur mühsam wehre ich deine halbherzigen Schläge ab. Was mache ich hier eigentlich? Ich soll dich niederstrecken? Wieso? Um ihren Sadismus zu befriedigen? Damit ich mir beweisen kann, dass ich der Bessere bin? Wozu? Damit das Spiel wieder von vorne losgeht? Das Spiel, bei dem jeder von uns nur verlieren kann?
Aber was soll ich denn tun? Ich stecke doch schon mittendrin. Der Kampf hat begonnen, und da gewinnt nun einmal der Bessere. Es ist zu spät, umzukehren und es sich anders zu überlegen.
Und plötzlich weiß ich, wie ich das alles beenden kann. Die einzige Möglichkeit, dem Ganzen zu entkommen. Die einzige Möglichkeit, dass wir es ihnen beide zeigen können. Dass wir den Platz beide als Sieger verlassen können. Jeder auf seine Weise.
Ich öffne meine Deckung für dich, Bruder. Schlag zu. Bereite ihnen die Enttäuschung, die sie verdienen.