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Geschichten aus der Nacht

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08.11.2001
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Geschichten aus der Nacht

Geschichten aus der Nacht

Die Sonne schien durchs Fenster und Marie sah auf. Ihre Augen waren schwer nach der langen Nacht und sie hatte Mühe überhaupt etwas zu erkennen.

Marie bemühte sich, von ihrem Bett hochzukommen. Sie wollte fort. Weit fort von hier und von den Dingen, die hier geschahen. Aber ihre Kraft reichte nicht einmal zum Aufstehen. Sie fühlte sich ausgesogen und matt.
Nie im Leben hatte sie einen so schnellen Wandel durchgemacht. Seit vorgestern war in ihrem Inneren kein Stein mehr auf dem anderen. Als er auf sie zu getreten war, hatte sich die Welt gedreht. Auf ihre dunkle Seite. Dorthin wo auch die Morgensonne nur ein fahler Schatten ist.

Endlich gelang es ihr, sich von den Laken zu lösen. Sie schaffte es genau bis auf den blauen Bettvorleger, keinen Zentimeter weiter. Den Blick immer noch zum Fenster gewandt, rekapitulierte sie die Geschehnisse.

Das Auto war dicht an ihr vorbei gebrettert. Viel zu dicht. Und sie war vom Rad gestürzt. Mit dem Kopf aufgeschlagen. 'Mit dem Kopf aufgeschlagen. Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen.' Sie wiederholte und wiederholte diesen Satz in Gedanken. Die Erklärung für alles. 'Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen. Ich habe eine Gehirnerschütterung. Ein Trauma. Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen.' Und doch fühlte es sich an, als sei das nicht die Erklärung für die Dinge, die sie durchmachte.
Sie war mit dem Hinterkopf aufgeschlagen und auf der Fahrbahn regungslos liegen geblieben. Autos waren an ihr vorbei gerauscht, ohne dass sie einander wahrgenommen hätten. Zwei, drei, vielleicht auch mehr. Der Fahrer des Wagens hatte nicht angehalten. Nicht zurückgeblickt. Erst nach Minuten hatte jemand Marie bemerkt und sie konnte sich bis jetzt nicht erklären, wie man eine Frau auf einer Hauptstraße minutenlang übersehen konnte. Mitten auf der rechten Fahrbahn liegend, mit einem umgestürzten Fahrrad neben sich.

Unvermittelt kniete er neben ihr und sah sie prüfend an. Marie hatte die Augen geschlossen, aber sie hatte das Gefühl ihn durch die Lider sehen zu können. Er strahlte etwas Erhabenes und Beruhigendes aus und Marie versuchte ein schwaches Lächeln. Durch die Schmerzen und die Benommenheit schimmerte es nur verwaschen, aber sie war sich sicher, dass er es bemerkte. Jemand war gekommen und sorgte für sie. Ihre Lider flatterten für einen Moment unter der Anstrengung, die Augen offen zu halten. Dann breitete sich wohlige Wärme in ihr aus. Sie hörte ihn in ihre Dunkelheit hinein Murmeln. Ein rhythmischer und sanfter Ton, der sie einlullte und vergessen ließ, dass sie immer noch auf einer Straße lag und immer noch Autos an ihr vorbeirasten, als sei sie nicht einmal da.

Sie versuchte zu sprechen, aber kein Ton verließ ihre Lippen. 'Bring mich fort', dachte sie. 'Wenn ich es nur fest genug denke, wird er mich hören. Er wird mich hören. Bring mich fort!' Seine Hände strichen über ihr Gesicht und sie konnte fühlen, wie sie mit jeder Berührung leichter wurde. Sie dachte an zuhause und an die Geborgenheit ihres eigenen Bettes. An die Morgensonne auf der Wand gegenüber und das Geräusch von laufendem Wasser in der Wohnung nebenan. An einem perfekten Sonntag morgen hätte Martin, ihr Nachbar, ihr eine Tüte mit Brötchen vor die Tür gelegt. Noch warm und knusprig.
"Bist Du sicher? Dafür ist es zu spät", hörte sie ihn flüstern. Außer ihm schien noch jemand bei ihr zu sein. Und sie sprachen miteinander. Sie fühlte sich zu müde um die Augen zu öffnen und zu leicht um zu sprechen. 'Bringt mich nach Hause und alles wird gut.'

Seine Berührung wurde zögerlicher. Schließlich hielten seine Finger in der Bewegung inne. 'Ich will nur nach hause, mich in die Decken kuscheln und träumen. Mehr will ich nicht. Dann ist alles wieder gut.'
Sie konnte fühlen, wie er sie aufhob und auf seinen Armen von der Straße trug. In ihrer Benommenheit fragte sie nicht, woher er den Weg kannte, oder wie er in die Wohnung kam. Sie fragte nicht, warum er keinen Arzt rief und dachte nicht darüber nach, warum sie ihm vertraute. Stattdessen ließ sie sich mit geschlossenen Lidern auf ihr Bett sinken und atmete tief ein.

Sie konnte spüren, wie er über sie gebeugt stand. Mit aller Kraft öffnete sie die Lider einen Spalt breit und starrte in die dunklen Tiefen seiner Augen. Schnell deckte er die Hand über ihr Gesicht. "Das hättest du nicht tun dürfen." Seine Stimme klang rau und vorwurfsvoll. Irgendwie, als hätte sie ihn ertappt. "Ein wenig Zeit hast du noch. Bleib hier und halte dich von Menschen fern. Dann wird alles gut sein. Ein klein wenig Zeit für dich."
Bevor es ihr gelang, sich aufzurichten, war er verschwunden. Sie hatte noch nicht begriffen, was sie gesehen hatte. Ihr Verstand schob es von sich und wob sie wieder in den Pelz aus Benommenheit ein, so dass sie in die Kissen sank.

Als sie am frühen Abend wieder erwachte, fühlte sich ihr Mund trocken an, beinahe staubig. Ihre Beine wollten sie kaum zum Badezimmer tragen und sie hielt sich einige Male an der Wand fest. Sie fühlte sich schwindelig und taumelte gegen das Waschbecken. Durch das kleine Fenster fielen die letzten Strahlen der Abendsonne.
Unwillkürlich fuhr ihre Hand zum Hinterkopf. Die Beule war dick geschwollen und pochte heftig unter ihrer Berührung. 'Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen', ging es ihr durch den Sinn. 'Ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist. Ich hätte tot sein können.'
In ihrer Vorstellung überschlugen sich die Bilder ihres Rades und des Wagens und schließlich sah sie sich auf der Straße liegen, während die Autos an ihr vorbeirasten, über sie hinweg, durch sie hindurch. Niemand hielt an. Nur der Mann mit den schwarzen Augen. Er war gekommen um sie zu holen.
Sie zuckte zusammen wie unter Schmerzen. Der Mann mit den schwarzen Augen. Tiefe, schwarze Augen. In den Bruchteilen dieses Moments, als sie hineingesehen hatte, war etwas in ihr übergeschwappt. Seitdem war etwas aus dem Gleichgewicht geraten.
'Nein, es war der Unfall, der mich fertig gemacht hat. Der Mann hat mich gerettet.' Sie versuchte, sich an seine Worte zu erinnern. Aber alles was sie sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte war sein vorwurfsvoller Tonfall und der Blick aus der Dunkelheit. Um die Bilder zu verscheuchen, drehte sie den Wasserhahn auf und trank aus ihren hohlen Händen. Das staubige Gefühl im Mund blieb, aber das Taumeln ließ nach.

Schließlich richtete sie sich auf. Ihr Blick fiel in den Spiegel. 'Ich sehe grauenhaft aus', dachte sie. 'Wie vom Bus überfahren.' Ein unwillkürliches Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Mit einer zynischen Note. Sie studierte das Lächeln, bis ihr Blick auf ihre Augen fiel. Die Ringe darunter ließen sie Jahre älter aussehen, als noch heute morgen. Aber als sie genauer hinsah, konnte sie die Tiefe sehen. Anstelle ihrer Augen blickte sie in eine schwarze Unendlichkeit.
Sie musste sich am Waschbecken festhalten, um nicht zu fallen und riss den Blick mit Mühe von ihren Augen los. Das alles war ein Trugschluss. Musste Einbildung sein. Sie hatte blaue Augen. Schon immer blaue Augen. Keine schwarzen.
'Niemand hat schwarze Augen. Niemand!' Ihre Gedanken brachen durch, gerade als sie wieder zum Spiegel sah. Ihre Augen waren ebenso schwarz wie die des Mannes, der sie hergebracht hatte. Zwischen ihren Lidern breitete sich eine konturlose Dunkelheit aus, in der sie sich verlor, sobald sie hineinsah. Wage schob sich das Bild seiner Augen wieder in ihr Bewusstsein. Sie waren ebenso tief gewesen und ebenso unergründlich. Nur hatte sie geglaubt, im Hintergrund dieser Finsternis Schemen zu sehen, die umeinander kreisten.

Diese Eindrücke hatten sich eingegraben, auch wenn es nur ein winziger Moment gewesen war, den sie in diese Augen gesehen hatte. Nun starrte sie in ihre eigene Dunkelheit. Nichts bewegte sich dort, alles war leer. Aber ihr eigner Blick übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. 'Ich sehe aus, wie ein Monster. Das ist nicht normal.' Sie versuchte, sich in die Realität ihres Badezimmers zurückzuholen, aber es gelang ihr nur mühsam.

Schwer atmend fand sie sich Minuten später auf ihrem Bett wieder. 'Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen. Ich habe eine Gehirnerschütterung. Ich muss zum Arzt. Ich muss zum Arzt.' Wie in Trance suchte sie ihre Sachen zusammen. Ihre Handtasche konnte sie nicht finden. Ebensowenig ihre Schlüssel. 'Martin lässt mich nachher wieder rein. Ich muss jetzt zum Arzt.' Ihre Bewegungen liefen mechanisch ab, so als sei sie nicht dafür verantwortlich.

Auf der Treppe kam ihr Martin entgegen. Er hielt ihre Handtasche hoch. "Da bist du ja. Das hat grad jemand abgegeben. Wo hast du die denn verloren?" Sie griff nach der Tasche. Seine gute Laune und der spielerische Ton zerrten an ihr. "Ich hatte einen Unfall. Sieht man doch." Martin schüttelte den Kopf. "Nein, eigentlich nicht. Alles ok, würde ich sagen."
Sie trat noch einen Schritt näher an ihn heran. Ihre Stimme klang heiser und vorwurfsvoll "Alles ok? Dann sieh dir mal diese Beule an und sag mir, woher die kommt."
Martin trat neben sie und fuhr ihr mit der Hand über den Kopf. Die Schwellung pochte schmerzhaft. "Keine Beule. Alles bestens." Sie schnaubte ungehalten.
"Sieh mir in die Augen und sag mir, dass das hier normal ist!" Sie stand jetzt direkt vor ihm und hob die Lider. In diesem Moment würde er die Unendlichkeit sehen und ihr glauben. Nichts war normal. Gar nichts. Ihre Augen hatten sich verwandelt. Ihr Leben war aus den Fugen geraten.
Martin sah ihr in die Augen und ein trauriges Lächeln breitete sich um seine Mundwinkel aus. "Alles ok, wirklich. Genau wie immer. Blau wie der Juli-Himmel."
Marie hörte seine Worte nur durch die Flut von Bildern. Durch die Woge, die unvermittelt über sie hereinbrach. Martin, als er drei Jahre alt war und sein Vater ihn schlug. Als er sieben war und beinahe unter das Eis geriet. Als er neunzehn war und zum ersten Mal sein Herz brach. Als es im letzten Sommer wieder geschah. Ihretwegen. Zwischen diesen Bildern breiteten sich Unmengen weiterer Bilder aus. Grauenhafte Dinge, die in seinem Leben geschehen waren. Nur mühsam unterdrückte sie das Schreien, das in ihrer Kehle stieg. Mit einem Ruck riss sie sich los und stürmte an ihm vorbei ohne noch ein Wort zu sagen.

Erst auf der Straße holte sie wieder Luft. Sie hatte keine Erklärung. Und sie war nicht sicher, ob sie eine Erklärung wollte. Sie musste weiter. Das alles hinter sich lassen. Weg von Martin, weg von der Vergangenheit. Weg von diesen Bildern, um die sie nicht gebeten hatte.

Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre Handtasche fest an sich gepresst hielt. Sie lockerte ihre Umklammerung und griff unwillkürlich hinein. Zu oberst lagen ihre Schlüssel. Darunter ihr Geld und alles, was sonst hineingehörte. Es schien nichts zu fehlen. Marie stutzte einen Moment, dann verdrängte sie den schwammigen Gedanken und hastete weiter. Es war nicht weit zum Arzt. Und sie war mit dem Kopf aufgeschlagen. Auch wenn Martin es nicht sehen konnte. Sie hatte einen Unfall gehabt.

"Nein, wirklich. Es ist erst ein paar Stunden her. Und hier", sie legte die Hand auf die Stelle an ihrem Kopf, "hier ist die Beule, sehen sie?" Mittlerweile hatte sich Angst in ihre Stimme gemischt. Der Arzt schüttelte mitfühlend den Kopf. "Hören sie, ich kann nichts feststellen. Alles scheint in Ordnung mit ihnen. Bestimmt haben sie etwas schreckliches erlebt und stehen noch unter Schock. Ich würde ihnen empfehlen, sich einen freien Tag zu gönnen. Wenn es ihnen schwer fällt, zur Ruhe zu kommen, dann nehmen sie eine hiervon." Er reichte ihr einen Streifen mit vier Tabletten.
"Sie verstehen nicht. Sehen sie hier? Meine Augen! Das ist doch nicht normal. Sehen sie, hier waren mal meine Augen!" Sie konnte nicht verstehen, dass er es noch nicht bemerkt hatte. Freundlich drehte er sich wieder zu ihr um.
Mit professionellem Blick sah er ihr in die Augen. Und Marie sank in die Knie. Die Macht der Bilder, die aus ihm herausströmte übermannte sie. Bilder von Operationen und Verkehrsunfällen. Davon wie er einer Frau mitteilte, ihr Kind sei gestorben. Bilder von einem abgestürzten Flugzeug. Und Bilder von einem Kind, das weinend in einer Ecke saß. Sie wollte nicht wissen, was das zu bedeuten hatte. Ihr stockte der Atem, so als hätte man ihr auf die Brust geschlagen und das letzte bisschen Luft aus ihren Lungen gepresst. Ohne den Arzt, der sich gegen die Wand gelehnt hatte, noch eines Blickes zu würdigen, rannte sie wieder davon.

Erst als sie wieder auf der Straße war, hielt sie inne. Sie drückte sich in einen Hauseingang und kramte fieberhaft durch ihre Tasche, bis sie den kleinen Make-up-Spiegel fand. Langsam klappte sie ihn auf und hob ihn vor ihr Gesicht. Sie waren immer noch da. Schwarze Vertiefungen ohne Ende. Vielleicht lag es am undeutlichen Licht, aber weit hinten in der Finsternis sah sie zwei blasse Flecken, die nebeneinander waberten.
Sie klappte den Spiegel zusammen und rannte, bis ihre Lunge wieder schmerzte. Auf der Treppe zu ihrer Wohnung hielt sie inne. Martin saß auf der obersten Stufe. Er hatte die Arme um sich geschlungen, als ob er fror. Langsam wiegte er sich zu einer lautlosen Melodie vor und zurück.
"Martin?" Er hörte sie nicht. Sie berührte ihn an der Schulter. Nur leicht. Seine Pendelbewegung wurde dadurch ein wenig stärker, aber er sah nicht auf. Sein Blick war auf seine Füße gerichtet. Es durchzuckte sie schmerzhaft, als ihr bewusst wurde, dass auch Martins Augen schwarz sein würden. Verloren in der Dunkelheit. Daran wäre sie schuld. Dann hätte sie ihn hinein gestürzt, wie es der Mann mit den schwarzen Augen mit ihr getan hatte.
Es kostete sie Kraft, sein Kinn anzuheben. Sie wollte nicht sehen, ob ihre Befürchtung berechtigt war. Aber sie musste es wissen. Er wehrte sich nicht, ließ es einfach geschehen. Sie blickte vorsichtig auf seine Augen, ohne seinen Blick einzufangen. 'Nicht noch einmal diese Bilder.' Ihr Magen hatte sich verkrampft und sie hier die Luft an.
Martins Augen waren blass. Ein wässriges Grün, nicht mehr so, wie früher. Aber sie waren noch grün.

Ohne zu zögern ließ sie das Kinn los und sein Kopf schlug wieder auf die Brust herab. Seine Wiegebewegung hatte er währenddessen nicht unterbrochen. Marie hastete die letzten Stufen hinauf und schob den Schlüssel ins Schloss. Erst als sie die Tür hinter sich mehrfach verschlossen hatte und die Kette vorlag, sank sie zusammen.
An der gegenüberliegenden Wand erhaschte sie im Flurspiegel einen Blick in die Düsterkeit ihrer Augen und begann zu weinen. Ganz ohne Tränen.

Marie hatte sich zu ihrem Bett geschleppt und war hineingekrochen. Mit Schuhen und Jacke. Solange sie die Decke über den Kopf gezogen hätte, würde sie niemandem in die Augen sehen müssen. Nichts würde geschehen und alles würde wieder gut. Sie brauchte Ruhe. Und morgen wäre alles nur noch ein böser Traum.
Aber Zeit bis morgen blieb ihr nicht. Die Träume holten sie schon in der Nacht ein. Einer nach dem anderen, alle zugleich. Einmal wachte sie davon auf, dass sie sich selbst geschlagen hatte. Sie schnappte nach Luft, aber sofort sog die Traumwelt sie wieder herab.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich schwummerig und fiebrig. Aber sie quälte sich hoch und zog neue Sachen an. Auch wenn sie sich bemühte, nicht in den Spiegel zu sehen, wusste sie doch, dass die Schwärze noch da war. Durch den Türspion konnte sie Martin sehen. Er schaukelte noch immer im Takt seiner inneren Melodie. Offenbar hatte er sich nicht vom Fleck bewegt. Das Gefühl, verantwortlich zu sein, hatte sich ausgebreitet. Dafür, dass Martin auf der Treppe saß. Dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten war.
'Ich muss ihn finden.' Dieser Gedanke setzte sich fest. 'Er kann es erklären.' Sie griff nach ihrer Jacke und der Tasche. Schon an der Tür angekommen hielt sie inne. Dann kramte sie in einer Schublade herum und zog ihre Sonnenbrille heraus. 'Für alle Fälle.'
An Martin ging sie wortlos vorbei. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Er stieß mitten im Schaukeln leicht gegen ihr Bein, als sie schon beinahe vorüber war. Aber er unterbrach seine Bewegungen nicht.

Stundenlang lief sie durch die Straßen. Marie war den Tränen nah. Sie konnte sich nicht an den Mann erinnern. Sein Gesicht hatte sie gar nicht gesehen. Alles, was sich in ihrem Gedächtnis festgesetzt hatte, waren seine Augen. Und jedes Mal, wenn sie einem Menschen in die Augen sah, egal, wie flüchtig, wurde sie überspült mit Bildern, die sie in die Knie zwangen. Die Brille hatte es ein wenig abgeschwächt, aber immer noch war es mehr als sie ertragen konnte.
Er war nicht unter ihnen. Nicht einmal als sie an die Unfallstelle kam, war er da. Sie musste sich an einem Laternenpfahl festhalten, als sie das verbogene Gestell ihres Rades am Straßenrand liegen sah. Vermutlich waren noch Wagen darüber gefahren, nachdem sie gestürzt war. Auf der Straße war ein dunkler Fleck. 'Getrocknetes Blut.' Aber das konnte nicht sein. Sie hatte nicht geblutet. 'Ich bin nur mit dem Kopf aufgeschlagen. Mir ist nichts schlimmes passiert. Er hat mich nach Hause gebracht und ich habe ein Trauma. Morgen ist alles wieder gut.' Aber sie hatte den Verdacht, dass sie sich etwas vormachte. Zitternd sank Marie auf den Bordstein und schlang die Arme um sich.

Eine Frau beugte sich zu ihr herunter und sah sie freundlich an. "Liebes, ist alles in Ordnung mit ihnen?" Marie nickte, als sie aufsah. Dann schlug eine Granate neben ihr ein. Und noch eine. Ein Flugzeug donnerte mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinweg und kurz darauf hörte sie einen Mann um Hilfe schreien. Sie sprang auf und verließ die Frau, die sich auf dem Bordstein zusammengerollt hatte. 'Das alles ist meine Schuld. Ich kann es nicht stoppen.' Sie hastete nach Hause, an Martin vorbei. Hinter der geschlossenen Tür fühlte sie sich sicherer. Aber nur ein wenig. Im Spiegel betrachtete sie die hellen Flecken, die jetzt zahlreich aber orientierungslos in der Dunkelheit herumirrten. So weit in der Ferne, dass sie sie nur erahnen konnte.

Auch die nächste Nacht verbrachte sie im Chaos ihrer Finsternis. Verschollen in den Abgründen, die sie gesehen hatte. Nachdem sie unfreiwilliger Zeuge dieser Leben geworden war, fand sie keine Ruhe mehr.

Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich verlaufen, in den Gespenstern anderer Menschen, und mit jeder Minute wuchs die Befürchtung, dass es etwas Endgültiges war. Erst spät am Morgen erwachte sie. Die Sonne schien auf die Wand gegenüber und Marie lag in der Dunkelheit.
Etwas in ihr forderte, dass sie liegen blieb und alles über sich ergehen ließ, bis es vorbei war. Aber ein anderer Teil ihrer selbst forderte den Kampf. Bis ans Ende würde sie nach ihm suchen. Nach dem Mann mit den schwarzen Augen. Solange bis sie verstand, was geschehen war, als sie mit dem Kopf aufgeschlagen war und er sie nach Hause trug.
Sie zog sich an und ging in den Flur. Ihre Augen sogen sie an den Spiegel heran, bis ihr schwindelig war. Durch den Türspion sah sie auf Martin hinaus. Er saß noch an derselben Stelle, aber seine Bewegungen waren verebbt. Er wirkte um Jahre älter, als zuvor. Marie holte tief Luft und trat ins Treppenhaus. Als sie Martin versehentlich anstieß, rollte sein Körper auf die Seite. Seine grünen Augen waren starr an die Wand gerichtet. Blass und ausdruckslos.
Am Fuß der Treppe wartete der Mann mit den schwarzen Augen auf sie und sah zu ihr hoch. Er schüttelte langsam und mitleidig den Kopf. "Komm, es wird Zeit." Ohne Fragen zu stellen nahm sie seine Hand.

 

Eins ist klar: Man erkennt sofort Deinen Stil (wenn man ihn kennt).

rekapitulierte sie die Geschehnisse.
Hier würde ich eine Rückblende kursiv und in Imperfekt bringen, um den Plusquamperfekt zu vermeiden.
Die Visionen wirken etwas beliebig (wieso Granaten?), daher fließt alles etwas ruhig dahin.
Der größte Vorwurf aber, den ich der Geschichte inhaltlich machen muss, ist folgender: Es ist zu früh klar, dass die Protagonistin tot ist oder eine Art Zwischenlebenundtoderfahrung macht, dass der Mann mit den schwarzen Augen den Tod oder sowas ähnliches symbolisiert (schwarz=tot=plakativ!). Am Ende holt er sie ab und aus. Ich bin nicht überrascht, und ich wurde nicht mitgerissen.
Was tun?
Ich würde vermutlich die Visionen und die einzelnen Elemente stark komprimieren und szenisch mit harten Schnitten aneinanderfügen, um eine stärkere Wirkung zu erzielen. Jedes Element müsste dem Leser neue Angst einflößen, was freilich voraussetzt, dass er sich mit der Figur identifiziert. Die Aufwach-Szene als Einstieg erscheint mir dafür grundsätzlich geeignet. Trotzdem habe ich die Figur nicht vor Augen, und ich leide nicht mir ihr. Damit leide ich überhaupt nicht, was ich in diesem Genre (das freilich eigentlich nicht mein Zuhause im Netz ist) notwendig finde.
Fazit: Mehr Dichte! :cool:

 

Hallo arc en ciel,

schön, wieder von dir zu lesen. :)
Die Geschichte ist eher mystisch denn gruselig, auch wenn deine Protagonistin im Zwischenland ist.
Auf der anderen Seite scheinen die Begegnungen mit Martin und dem Arzt real zu sein. So kommt es, dass außer deiner Prot jeder weiß, wo sie ist. Dieses Konstrukt kann in Komödien funktionieren, wenn das lachende Publikum verfolgt, wann der Prot begreift, was es schon lange weiß. Ob es in einer Gruselgeschichte funktioniert, weiß ich nicht. Bei dir hat es das leider nicht. Deine Sätze sind schön, deine Sprache ist melodisch, so richtig Atmosphäre kommt bei mir aber nicht auf.

Was ganz gut funktionieren könnte ist die Verkehrung. Normalerweise sagt man, das eigene Leben laufe vor dem Tod noch einmal vor einem ab, Bei dir sind es die Leben derer, denen sie in die Augen schaut. Das ist wirklich eine Horrorvorstellung, etwa wenn das Leben von Granatenhagel begleitet war. Diese Aspekt würde ich an deiner Stelle noch ein bisschen ausbauen.

Zwei Details noch:

An einem perfekten Sonntag morgen hätte Martin
Bei den Formen von "Morgen" bin ich auch immer unsicher, aber mE hier Sonntagmorgen
Wage schob sich das Bild seiner Augen wieder in ihr Bewusstsein.
mE vage

Lieben Gruß, sim

 

Hi arc en ciel,

der Stil deiner Geschichte gefällt mir.

hätte deine Prot dem Tod nicht in die Augen gesehen, wäre sie wohl friedlich ins Jenseits gelangt.
Die Idee deines Plots finde ich nicht schlecht.
Doch fehlte mir die Spannung. Es geschieht nicht wirklich viel.
Sie ist hellsichtig geworden, das ist okay, aber es hätte gereicht, wenn du das bei einer Person verdeutlicht hättest.
Nebenbei hätte sie andere Dinge sehen oder erleben können.
Z.B. Krankheiten, Naturkatastrophen oder ähnliches.
Der Tod hat ihr noch Zeit gelassen. Vielleicht hat er sich was dabei gedacht?
Vielleicht hätte sie noch was zu erledigen.

Etwas fehlt in deiner Geschichte. Und ich finde, für das was du mitteilst, ist sie zu lang.
Es ist nicht so, dass ich deine KG nicht gerne gelesen hätte, aber sie plätschert so dahin, sie reißt nicht mit ...
Ach, ich weiß nicht recht wie ich es ausdrücken soll, (bin schon zu müde :schiel: )
Du wirst es schon selber rauskriegen. ;)

ganz lieben Gruß, coleratio

 
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Moikka Frauke,

ich stöbere grad nach guten älteren Geschichten, die die Rubrik auffrischen könnten. ;) Hoffe, Du nimmst mir das Vorholen nicht krumm.

Mir gefällt diese Geschichte ganz ausnehmend gut, wenn das kein Horror sein soll, weiß ich auch nicht. Und sie funktioniert für mich perfekt, sowohl vom plot, wie auch von Charakterisierung, Tempo und Spannung her. Es gibt so viele Geschichten, bei denen die Protagonisten nicht genau wissen, was mit ihnen geschehen ist, aber kaum eine davon erreicht diese Dichte und Beklemmung. Du läßt den Leser elegant eine Weile im Unklaren, aber sehr schön, daß die Prot dieses Unwissen nicht teilt - so kann sich der Schrecken langsam entfalten, sehr spannend gelöst!

Anstelle ihrer Augen blickte sie in eine schwarze Unendlichkeit.
Sie musste sich am Waschbecken festhalten, um nicht zu fallen und riss den Blick mit Mühe von ihren Augen los. Das alles war ein Trugschluss. Musste Einbildung sein. Sie hatte blaue Augen. Schon immer blaue Augen. Keine schwarzen.
Hölle, ist das gut! Persönlicher möchte ich nicht werden, aber die Sequenz hat mich gepackt, wunderbar und grausam erzählt.

Ob man hier die Nahtod-Diskussionen ausbreiten sollte, weiß ich nicht - denn strenggenommen ist dies eine Weiterführung ins tatsächlich Unbekannte. Das genau macht für mich den Reiz der Geschichte aus, und das hebt sie angenehm ab von esoterisch-spirituellen Texten zum Thema.

Berichte von Nahtoderfahrungen drehen sich ja nicht nur um diese Idee mit dem eigenen Leben als Film. Ich mag ganz falsch liegen, aber meiner Ansicht nach hast Du dieses Motiv hier gar nicht verwenden wollen. Es gibt diese Sache mit einem Tunnel und dem Licht, dem Über-dem-Körper-Schweben ebenso wie hyper-reale Erfahrungen von Zeit, oder besser: ihrer Abwesenheit, der Unendlichkeit. Abgesehen davon gibt es naturwissenschaftliche Theorien, daß Zeit (Zeit/Raum) weder kontinuierlich noch als 'einzelner Strang' zu sehen sei. Für mich liegt in der Kombiantion dieser beiden Themen der Knackpunkt: Die Protagonistin steht - durch den Aufschub des Todes bewußt - in der Unendlichkeit, und damit fallen verschiedene Geschehnisse für sie erlebbar auf einen Moment zusammen. Die Lebens-/Todeserfahrungen anderer, verschiedene eigentlich historisch, evt. auch regional, abgegrenzte Extremerfahrungen. Im Grunde eine andere, zusätzliche Dimension, die sich durch ihren Übergang zw. Leben und Tod erschlossen hat.
Und das trägt sie nun in ihren Augen - das Nichts, Abwesenheit von nicht nur Zeit, sondern auch Raum und Licht. So jedenfalls lese ich Deine Geschichte; und so verstehe ich auch den Titel.

Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich verlaufen, in den Gespenstern anderer Menschen, und mit jeder Minute wuchs die Befürchtung, dass es etwas Endgültiges war.
Feine, detaillierte Erzählung/Beobachtung, sehr schön.

Der Horror liegt für mich darin, daß sie dies - nämlich mit ihrem Ich bewußt - erlebt. Und das entsetzte, wie auch distanzierte Beobachten des Todes ihres Partners.

Sie zog sich an und ging in den Flur. Ihre Augen sogen sie an den Spiegel heran, bis ihr schwindelig war. Durch den Türspion sah sie auf Martin hinaus. Er saß noch an derselben Stelle, aber seine Bewegungen waren verebbt. Er wirkte um Jahre älter, als zuvor. Marie holte tief Luft und trat ins Treppenhaus. Als sie Martin versehentlich anstieß, rollte sein Körper auf die Seite. Seine grünen Augen waren starr an die Wand gerichtet. Blass und ausdruckslos.
Genial erzählt, der Blick durch den Spion hier.

Die Geschichte ist ja älter, von daher weiß ich nicht, wie Du zu Verbesserungsvorschlägen stehst, ich hätte eigentlich nur einen:

Am Fuß der Treppe wartete der Mann mit den schwarzen Augen auf sie und sah zu ihr hoch. Er schüttelte langsam und mitleidig den Kopf. "Komm, es wird Zeit." Ohne Fragen zu stellen nahm sie seine Hand.
Das erste Auftauchen war sehr dezent, hier bekommt die story einen unpassenden Kitscheinschlag, der einfach nur über die Personifikation des Todes, der sie 'abholt', entsteht. Ein so klischeehaftes Bild hat die Geschichte nicht nötig, hier ist mir diese Figur zu aktiv (anders als in der ersten Szene, in der er auftaucht). Wäre dieser Part gestrichen, wäre das Ende wesentlich schockierender, zumal der Schrecken für sie evt. weniger im tatsächlichen "Tod" liegen mag, denn im bewußten Erleben der Zwischenphase.

Ach ja: Da der fette Titel schon als solcher dient, könntest Du den im Textfeld löschen, das sieht doppelt immer so holperig aus.

Der Plusquamperfekt in der Rückblende gefällt mir nun wieder gut.

Schöne, schreckliche Geschichte! Ich hoffe sehr, das war nicht Dein letzter Ausflug in diese Rubrik. (Hast sicher viel zu tun, aber nu, wünschen darf man ja mal).

Herzlichst,
Katla

 

Hallo arc en ciel

Für mich funktioniert die Geschichte. Der Zeitpunkt, wo mir dämmerte, dass sie tot sein könnte, war irgendwann im letzten Drittel.
Teilweise zog es sich etwas, so wird ab für mich nicht viel Neues berichtet;

Schließlich richtete sie sich auf. Ihr Blick fiel in den Spiegel. 'Ich sehe grauenhaft aus', dachte sie. 'Wie vom Bus überfahren.'
Insgesamt eine Geschichte ähnlich zu sixth sense, aber es fehlt ihr so wie in sixt sence eine Art Auftrag, dem die Protagonistin verzweifelt hinterherrennt und der mehr Spannung reinbringt.

LG
Bernhard

 

Hi arc en ciel,

es wurde insgesamt zu oft "der Kopf angestossen" erwähnt. Dass hätte max. zweimal gereicht. Ansonsten nett!

Gruss Shade

 

Hallo!

In meinen Augen eine traurige Geschichte. Die Idee hat mir gefallen.
Ich hätte mir noch mehr Schicksale gewünscht, die die Frau in den Augen der Menschen sieht.
Dabei muss ich sagen: Komisch, dass sie nur auf die Menschen trifft, die eine schlechte Vergangenheit hatten. :-)

mfg
Geert

 

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