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Gesellschaft zweier Raben
An einem schnöden Dezembermorgen saßen zwei Raben auf einer alleinstehenden Linde. Sie kannten sich schon lange und waren jeden Tag beieinander. Die Beiden suchten ihre Nahrung und Ruheplätze zusammen. Oft säuberten sie sich gegenseitig das Gefieder. Sie waren glücklich. An diesem Morgen war es sehr kalt, da sprach der eine Rabe: „Mir ist so kalt. Ich fliege nach Süden.“ Lange bewegte der Zweite den Schnabel nicht und blickte in die Ferne. Dann antwortete er: „Ein Flug nach Süden ist gefährlich. Wir haben hier genug Essen und zu kalt ist es nicht.“ Der erste Rabe wartete bis der Zweite zu Ende gesprochen hatte. Danach erhob er sich in die Luft und flog gen Süden. Lange Zeit überlegte der Zurückgebliebene was er nun tun solle und schaute dem Anderen ratlos hinterher.
An diesem Tag ist der Große gestorben. Zur Klärung seines Todes war keine Obduktion vonnöten. In seinem Hals steckte eine Kugel und der Schuldige bereute nichts.
Während die Mehrheit der Menschen zur Arbeit marschierte, ein polemischer Vergleich mit faschistoiden Robotern hätte ihm sicher gefallen, schlief der Große noch. Punkt neun Uhr rissen ihn zehn Wecker, die alle gleichzeitig ihr Konzert begannen, aus dem Schlaf. An seiner Tür hing immer noch der gelbe Zettel, den er tags zuvor beschriftet, und dort befestigt hatte. Darauf war in krakeliger Schrift zu lesen '1.) Duschen'. Während er unter seinem von Grünspan angegriffenen Brausekopf stand, ließ er unentwegt eine Rasierklinge über seine behaarten Finger wandern. Nur vier Finger gaben sich der gefährlichen Morgengymnastik hin. Nach dem Duschen trocknete er sich sorgfältig mit einem weißen Frottehandtuch ab. „Punkt zwei: Anziehen", las er laut. Geschmeidig glitt eine weiße Unterhose an seinen Beinen entlang, und hielt an ihrem Zielort inne. Danach stülpte er sich weiße Socken über die Füße, und zog seine Stiefel an. Plötzlich begann er, sein Gesicht mit bloßen Fäusten zu malträtieren. Nach fünf krachenden Treffern hielt er inne und schrie. Jetzt setzte er sein Rasiermesser an und fügte sich am ganzen Körper Schnitte zu. Kleine Blutrinnen bildeten sich auf seiner Haut und zeichneten ihn. Mit leicht zusammengekniffenen Augen las er den vierten und letzten Punkt seiner Liste. 'Messer und Aufbruch'. Ruhig ging er zur Kochnische seiner Einzimmerwohnung und nahm ein wunderschönes Hackebeil aus einer Schublade. Die Klinge war zwanzig Zentimeter lang und sieben Zentimeter breit. Sichtlich zufrieden betrachtete er sich ein letztes Mal im Spiegel und verließ seine Wohnung. Draußen war es kalt, doch er bemerkte die Kälte nicht. Seine Gedanken waren nur auf das Ziel seiner kurzen Reise gerichtet und das war die örtliche Metzgerei.
Natürlich starrten alle Passanten ihn an. Er sah furchterregend aus. Doch sein Blick war freundlich und entschlossen. Deshalb fragte ihn niemand, woher er kam und wohin er wollte. So ging er durch die Straßen seiner Heimatstadt, bis er in der Bahnhofsstraße angekommen war. Es war eine kleine Metzgerei. Nicht eine der integrierten Supermarkt-Metzgereien, sondern ein altertümlicher kleiner Laden an der Ecke, den der Große jedoch seit Jahren nicht mehr betreten hatte. „Guten Morgen", begrüßte ihn die Fleischereifachverkäuferin, als er hereinkam. „Um Himmels Willen, wie sehen sie denn aus?", fragte ihn eine alte faltige Frau und kramte dabei in ihrer Geldbörse herum. „Brauchen sie vielleicht einen Arzt?", fragte die zweite Verkäuferin mit besorgter Stimme. Er musterte sie kurz, aber antwortete nicht. Die kleine Frau legte zwei Münzen auf den Tisch und steckte vier erworbene Weißwürste in ihre Einkaufstasche. Der Große sah, dass nur zwei Verkäuferinnen und die alte Frau anwesend waren. Entschlossen hob er das Beil an, schrie und trat ohne Vorwarnung der Käuferin in die Beine. Behende sprang er über die Schwingtür, die den Raum hinter der Theke abtrennte. Panik ergriff die beiden Verkäuferinnen. Beide kreischten, doch er versperrte ihnen den Weg zum Ausgang. Geistesgegenwärtig ergriff die Jüngere ein Messer. Wild fuchtelte sie damit in der Luft herum und stammelte: „Komm nicht näher, ich werde". Doch er näherte sich Schritt für Schritt den Beiden, die in die Ecke gedrängten Katzen glichen. Kurz bevor sein Beil ihren Kopf traf, durchbohrte das Fleischermesser der Jüngeren seine Haut. Es steckte nun in seinem Arm, doch er zog es nicht heraus. Wie von Sinnen hackte er nun auch die Zweite zu Boden, die gar nicht versuchte sich zu wehren. Ihre Schreie waren kläglich und schwach. Fast hätte er sein blutiges Werk nicht vollendet. Doch sein Wille war stärker. Da lagen sie. Beide bluteten nicht stark. Zwei tote Frauen, nicht einmal dreißig Jahre alt. Die Großmutter lag immer noch am Boden. Der Große zog sie an ihren Haaren nach draußen auf die Mitte der Straße. Autofahrer hielten an und beschimpften ihn. Es bildete sich eine Menschentraube, während er drohend sein Hackebeil an den Hals der Alten hielt. „Kommt nicht näher!", schrie er immer wieder. Die Schaulustigen gehorchten ihm. So wartete er eine ganze Weile. Es war schon ein seltsames Pärchen. Der Große stehend, wie er die alte Frau mit dem Beil bedrohte.
„Geben sie die Geisel frei", rief einer der Polizisten. Der Große hatte die Sirene des herannahenden Streifenwagens nicht gehört. Überrascht presste er die Klinge stärker an ihren Hals.„Kommen sie nicht näher, sonst ist sie tot", sagte er laut. Mittleweile war die Menschenmenge auf über zweihundert Personen angeschwollen. Wie ein malignes Geschwür lag sie um den Ursprung herum und verleihte dem Tun des Großen höchste Aufmerksamkeit. Er sprach:„Hört gut zu! Ich werde heute zum letzten Mal sprechen und ihr alle sollt es hören. Sicher fragt ihr euch, warum ich es getan habe. (In der Menge wusste mittlerweile beinahe jeder von den beiden Leichen, die in der Metzgerei lagen.) Ich war verheiratet mit Elena. Wir hatten ein Kind und es war wunderschön. Wie alle jungen Familien brauchten wir Geld und deshalb ging ich zur Bank. Ich hatte die Idee zu einem Projekt. Deshalb benötigte ich einen Kredit. Obwohl die Idee unrealistisch und schlichtweg lachhaft war, bekam ich ihn. Nach einem Jahr war ich pleite. Ich war arm, arbeitslos und konnte meine Familie nicht mehr finanzieren. Die Sozialhilfe reichte nicht. Als meine Frau herausbekam, dass ich auch unser letztes Geld verspielt hatte, hat sie mich verlassen. Ich weiß, dass ihr Elena dazu getrieben habt mich zu verlassen. Sie hätte es selbst nie gewollt. Sie hat mich geliebt. Lange Zeit habe ich Arbeit gesucht. Ich habe jeden von euch gefragt. Jeden Einzelnen in dieser verdammten Stadt. Jeden der viertausendfünfhundertdreiundneunzig Einwohner. Keiner wollte mich haben. Manche lachten mich sogar aus. Irgendwann musste ich aufgeben. Ich war allein und blieb allein. Elena hatte mich ja verlassen und unser Kind zu sich genommen. Lange Zeit saß ich in meiner Wohnung und dachte nach. Ich dachte auch über euch nach und über Elena. Irgendwann habe ich verstanden, dass es nicht meine Schuld war. Irgendwann habe ich verstanden, dass ihr mich ausgeschlossen habt. Dass ich seit meinem Versagen, seit meiner mißglückten Geschäftsdee, ein Ausgeschlossener bin. Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Jeder Einzelne von euch trägt eine Mitschuld. Wie die Tiere in den Ställen der Massentierhaltung an denen ihr euch vergeht, habt ihr mich geschunden, beleidigt und zu Grunde gerichtet. Ihr habt mich meiner Würde beraubt. Ihr habt den Hühnern und Schweinen ihre Würde geraubt. In euren Augen bin ich ein Schwein. Dafür werde ich mich heute rächen. Ihr seid wie ich. Ich kann nicht alle von euch töten, aber Angst werdet ihr haben, bis in alle Ewigkeit. Angst vor anderen Ausgeschlossenen. Angst vor anderen, die sich gegen euer Terrorregime erheben werden. Deswegen wird diese Frau aus eurer Mitte jetzt sterben - genauso wie die Verkäuferinnen sterben mussten." Er rammte das Hackebeil in den Hals der alten Frau. Dann ließ er ihren Haarschopf los und rannte schreiend auf einen der Polizeibeamten zu. Diese waren während der ganzen Rede überfordert und wussten nicht was zu tun war. Sie hatten keine spezielle Geiselnahmeausbildung. Sie haben nur gehofft, dass er zur Vernunft kommt. Jetzt schossen sie auf ihn. Nicht wohlüberlegt, sondern weil sie es so gelernt hatten. In der Ausbildung wurde es 'Selbstverteidigung im Notfall genannt' und daran glaubten sie. Eine der Kugeln bohrte sich in den Hals des Großen und blieb darin stecken. Sie störte ihn genausowenig wie das Messer, das immer noch in seinem Arm steckte. Während er zu Boden sank wusste er, dass es gut war.
Es war Abend geworden und der Mond erschien am Horizont, als der erste Rabe sich auf einer Linde niederließ. Der zweite Vogel tat es ihm gleich. Diese Linde unterschied sich in zwei Punkten von der Ersten. Sie stand sechzig Kilometer südlich der Morgendlichen inmitten eines Lindenwaldes. „Warum bist du mir gefolgt?“, fragte der Erste den Zweiten. Hast du eingesehen, dass ich Recht hatte?“ „Nein", anwortete der Befragte. „Meine Meinung hat sich nicht geändert“. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Alleine wäre ich unglücklich.“