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Gesellschaftsfähig?
211. Eintrag
03. Oktober 2003 / 2.705 Tag im Gefängnis
Letzten Mittwoch wurde ein Umfragebogen bei uns ausgeteilt. Darin sollten wir anhand von Verbesserungsvorschlägen die Allgemeinsituation im Gefängnis verbessern. So ein Schwachsinn! Jeder sollte hier mit seinen Problemen selbst fertig werden. „Kümmert euch alle um euren eigenen Dreck!“ wie meine Großmutter immer so treffend keifte, ist hierbei meine Devise. Auf den Zettel habe ich einfach „Brot und Spiele“ draufgeschrieben und dem Wärter zurückgegeben.
Der Wärter ist im Prinzip ein freundlicher, angenehmer Zeitgenosse. Er trägt eine fast fensterscheibenartig dünne Brille, besitzt feine, zerbrechliche Gesichtszüge, die in einem bizarren Kontrast zu seinem restlichen Körper stehen. Denn dort ragt ein pompöser Bierspeicher in die Hemisphäre und seine Brust zieht sich unter seiner Arbeitskluft in Form eines Tortendreiecks in die Länge. Irgendwie beruhigt mich dieses Buddha-artige Mannsbild immer wieder auf eine angenehme Art und Weise.
Als er meinen Zettel gelesen hatte, schüttelte er besorgt den Kopf, zog seine Lippen zu einem Schlauchboot zusammen und säuselte: „Was besseres ist dir wohl nicht eingefallen, kleiner Racker?“. Dann lachte er. Offensichtlich aber nur deshalb um die Situation zu entschärfen. Ich hob schräg die Augenbrauen und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand, anschließend trottete ich zur Toilette.
Wenn du im Knast sitzt, kannst du an dir selbst beobachten, wie du versuchst, dir die gähnende Langeweile Monat für Monat stets durch eine andere Tätigkeit zu vertreiben. Natürlich sind diese hier äußerst begrenzt und auch jenes Denkvolumen, welches dringend für kreative Tätigkeiten benötigt wird, scheint bei uns allen konstant abzunehmen. Deswegen werden unsere kläglichen Selbstbeschäftigungsversuche immer dämlicher. Anfangs beobachtest du nur deine Mitinsassen um die Zeit totzuschlagen. Du musterst sie regelrecht, siehst gespannt zu wie sie essen, trinken, reden und schlafen. Wie die Haare bei jedem einzelnen anders fallen, nach dem morgendlichen Duschritual. Dann, nach einem halben Jahr etwa, beginnst du, die Wärter zu studieren. Wie sie die Schlüssel ins Schloss stecken, mit ihren Kollegen umgehen, man beobachtet Sympathien und Antipathien innerhalb des „Betriebs“, deren Kleidung wenn sie Abends nach Hause gehen. Man informiert sich bei anderen über deren Familie, ihren Werdegang, ja sogar über ihre finanziellen Mittel. Schließlich, wenn du bereits jede einzelne Handbewegung, die kleinsten Marotten, jedes verdammte auch noch so versteckte Detail des „Betriebspersonals“ kennst, fängst du damit an, die Einrichtung zu mustern. „Hier war letzte Woche noch keine Delle, oder Harry?“ „Sag ma, fällt dir auch schon auf, dass die Klimaanlage in letzter Zeit nicht mehr wie sonst arbeitet? Sie macht seit neuestem so brummende Geräusche...“ sind noch die harmloseren Konversationen.
Irgendwann sitzt du dann wie ich hier auf der Toilette deines Zimmers, betrachtest die Wand und beginnst damit, die eingekerbten Sprüche deiner Vorgänger zu zählen.
„NO FUTURE“ - „PUNKROCK RULEZ“ – „DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT“
.....1, 2, 3.....
„I WUZ HERE“ – „FLÜCHTLINGE BITTE INS WC SPRINGEN“ – „RONALD REGIERT“
.....4, 5, 6.....
„SEXY BOY, WANTED BOY“ – „SKATE OR DIE” – “CARPE DIEM”
…..7,8,9…..
Genug damit! Langsam färbt das alles hier ab. Erst gestern hatte ich mich dabei ertappt, wie auch ich im Begriff war, irgendeinen unsinnigen Spruch in die Wand einzukerben. Der dunkle Rächer der geistigen Umnachtung hatte mich also schon in seinem schweißtriefenden Würgegriff. Aber ich bin nicht so wie meine „Kollegen“, denn ich werde das alles hier heil überstehen und mir nach meiner Entlassung wieder ein eigenes Leben aufbauen und Karriere machen. Und diesmal wird es keinen Banküberfall geben um sich auch ohne weltliche Arbeit sein Literaturstudium finanzieren zu können. 21 Monate muss ich noch absitzen, nach zehn Jahren Haft erscheint mir das wie ein Tagesausflug in den städtischen Zoo.
Nun muss ich allerdings meinen Eintrag beenden, mein Zimmergenosse Kurt beschwert sich schon seit geraumer Zeit über das angeblich unerträgliche Geräusch, welches mein Kugelschreiber auf dem harten, kratzigen Recyclingpapier hinterlässt. Wenn ich, wie er so treffend formuliert, diesen Scheiß nicht sofort sein lasse, würde ich es mit seiner geballten Faust zu tun kriegen und wenn das danach immer noch nicht reicht, ebenso mit seinen vom Fußpilz befallenen Tretern, mit denen er mir schließlich meine gottverdammten Davidoff lights in den Arsch rammen würde.
Ein netter Kerl, dieser Kurt, dennoch werde ich an dieser Stelle den Eintrag beenden.
********* 23 Monate später *********
295. Eintrag
04. September 2005 / 60. Tag in Freiheit
Gestern traf ich Kurt. Wir haben uns wie immer ziemlich gut verstanden und sogar auf seinem neuen Arbeitsplatz, der Tankstelle um die Ecke, ein kühles Helles getrunken. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mensch auch lachen kann.
Ich persönlich arbeite noch immer auf dem Verschiebebahnhof und traf mich bis vor kurzem jeden Abend um 9 in der Bahnhofskneipe mit meinen Kollegen. Diese Kontakte wären gut für meine Resozialisierung, meint mein Bewährungshelfer. „Da gebe ich ihnen vollkommen Recht!“ habe ich dem gütigen Vollbartträger erst letztens direkt ins Gesicht gesagt, als er mir die Sinnhaftigkeit dieser Kontaktaufnahme erläuterte.
Nur leider werde ich ihm bei unserem nächsten Treffen beibringen müssen, dass ich diese Psychotherapie meines Arbeiterkreises nicht mehr fortsetzen kann, da der Wirt meinte, er wolle mich „in seinem Haus“ nicht mehr sehen. Dabei habe ich doch lediglich die Wände des Herren WC`s mit Sprüchen aus Shakespeares Midsommernachtstraum bekritzelt. Wie man sich nur über so etwas aufregen kann...
Banause, verdammter!