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Gesellschaftsfähig?

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14.07.2003
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Gesellschaftsfähig?

211. Eintrag
03. Oktober 2003 / 2.705 Tag im Gefängnis

Letzten Mittwoch wurde ein Umfragebogen bei uns ausgeteilt. Darin sollten wir anhand von Verbesserungsvorschlägen die Allgemeinsituation im Gefängnis verbessern. So ein Schwachsinn! Jeder sollte hier mit seinen Problemen selbst fertig werden. „Kümmert euch alle um euren eigenen Dreck!“ wie meine Großmutter immer so treffend keifte, ist hierbei meine Devise. Auf den Zettel habe ich einfach „Brot und Spiele“ draufgeschrieben und dem Wärter zurückgegeben.

Der Wärter ist im Prinzip ein freundlicher, angenehmer Zeitgenosse. Er trägt eine fast fensterscheibenartig dünne Brille, besitzt feine, zerbrechliche Gesichtszüge, die in einem bizarren Kontrast zu seinem restlichen Körper stehen. Denn dort ragt ein pompöser Bierspeicher in die Hemisphäre und seine Brust zieht sich unter seiner Arbeitskluft in Form eines Tortendreiecks in die Länge. Irgendwie beruhigt mich dieses Buddha-artige Mannsbild immer wieder auf eine angenehme Art und Weise.

Als er meinen Zettel gelesen hatte, schüttelte er besorgt den Kopf, zog seine Lippen zu einem Schlauchboot zusammen und säuselte: „Was besseres ist dir wohl nicht eingefallen, kleiner Racker?“. Dann lachte er. Offensichtlich aber nur deshalb um die Situation zu entschärfen. Ich hob schräg die Augenbrauen und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand, anschließend trottete ich zur Toilette.

Wenn du im Knast sitzt, kannst du an dir selbst beobachten, wie du versuchst, dir die gähnende Langeweile Monat für Monat stets durch eine andere Tätigkeit zu vertreiben. Natürlich sind diese hier äußerst begrenzt und auch jenes Denkvolumen, welches dringend für kreative Tätigkeiten benötigt wird, scheint bei uns allen konstant abzunehmen. Deswegen werden unsere kläglichen Selbstbeschäftigungsversuche immer dämlicher. Anfangs beobachtest du nur deine Mitinsassen um die Zeit totzuschlagen. Du musterst sie regelrecht, siehst gespannt zu wie sie essen, trinken, reden und schlafen. Wie die Haare bei jedem einzelnen anders fallen, nach dem morgendlichen Duschritual. Dann, nach einem halben Jahr etwa, beginnst du, die Wärter zu studieren. Wie sie die Schlüssel ins Schloss stecken, mit ihren Kollegen umgehen, man beobachtet Sympathien und Antipathien innerhalb des „Betriebs“, deren Kleidung wenn sie Abends nach Hause gehen. Man informiert sich bei anderen über deren Familie, ihren Werdegang, ja sogar über ihre finanziellen Mittel. Schließlich, wenn du bereits jede einzelne Handbewegung, die kleinsten Marotten, jedes verdammte auch noch so versteckte Detail des „Betriebspersonals“ kennst, fängst du damit an, die Einrichtung zu mustern. „Hier war letzte Woche noch keine Delle, oder Harry?“ „Sag ma, fällt dir auch schon auf, dass die Klimaanlage in letzter Zeit nicht mehr wie sonst arbeitet? Sie macht seit neuestem so brummende Geräusche...“ sind noch die harmloseren Konversationen.

Irgendwann sitzt du dann wie ich hier auf der Toilette deines Zimmers, betrachtest die Wand und beginnst damit, die eingekerbten Sprüche deiner Vorgänger zu zählen.

„NO FUTURE“ - „PUNKROCK RULEZ“ – „DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT“

.....1, 2, 3.....

„I WUZ HERE“ – „FLÜCHTLINGE BITTE INS WC SPRINGEN“ – „RONALD REGIERT“

.....4, 5, 6.....

„SEXY BOY, WANTED BOY“ – „SKATE OR DIE” – “CARPE DIEM”

…..7,8,9…..

Genug damit! Langsam färbt das alles hier ab. Erst gestern hatte ich mich dabei ertappt, wie auch ich im Begriff war, irgendeinen unsinnigen Spruch in die Wand einzukerben. Der dunkle Rächer der geistigen Umnachtung hatte mich also schon in seinem schweißtriefenden Würgegriff. Aber ich bin nicht so wie meine „Kollegen“, denn ich werde das alles hier heil überstehen und mir nach meiner Entlassung wieder ein eigenes Leben aufbauen und Karriere machen. Und diesmal wird es keinen Banküberfall geben um sich auch ohne weltliche Arbeit sein Literaturstudium finanzieren zu können. 21 Monate muss ich noch absitzen, nach zehn Jahren Haft erscheint mir das wie ein Tagesausflug in den städtischen Zoo.

Nun muss ich allerdings meinen Eintrag beenden, mein Zimmergenosse Kurt beschwert sich schon seit geraumer Zeit über das angeblich unerträgliche Geräusch, welches mein Kugelschreiber auf dem harten, kratzigen Recyclingpapier hinterlässt. Wenn ich, wie er so treffend formuliert, diesen Scheiß nicht sofort sein lasse, würde ich es mit seiner geballten Faust zu tun kriegen und wenn das danach immer noch nicht reicht, ebenso mit seinen vom Fußpilz befallenen Tretern, mit denen er mir schließlich meine gottverdammten Davidoff lights in den Arsch rammen würde.

Ein netter Kerl, dieser Kurt, dennoch werde ich an dieser Stelle den Eintrag beenden.

********* 23 Monate später *********


295. Eintrag
04. September 2005 / 60. Tag in Freiheit

Gestern traf ich Kurt. Wir haben uns wie immer ziemlich gut verstanden und sogar auf seinem neuen Arbeitsplatz, der Tankstelle um die Ecke, ein kühles Helles getrunken. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mensch auch lachen kann.

Ich persönlich arbeite noch immer auf dem Verschiebebahnhof und traf mich bis vor kurzem jeden Abend um 9 in der Bahnhofskneipe mit meinen Kollegen. Diese Kontakte wären gut für meine Resozialisierung, meint mein Bewährungshelfer. „Da gebe ich ihnen vollkommen Recht!“ habe ich dem gütigen Vollbartträger erst letztens direkt ins Gesicht gesagt, als er mir die Sinnhaftigkeit dieser Kontaktaufnahme erläuterte.

Nur leider werde ich ihm bei unserem nächsten Treffen beibringen müssen, dass ich diese Psychotherapie meines Arbeiterkreises nicht mehr fortsetzen kann, da der Wirt meinte, er wolle mich „in seinem Haus“ nicht mehr sehen. Dabei habe ich doch lediglich die Wände des Herren WC`s mit Sprüchen aus Shakespeares Midsommernachtstraum bekritzelt. Wie man sich nur über so etwas aufregen kann...

Banause, verdammter!

 

Hallo Jingles!

Deine Geschichte liest sich flott und angenehm, eigentlich wollte ich sie nur kurz anlesen, aber ich bin dann daran kleben geblieben. :)
Realistisch klingt sie für mich aber leider nicht. Da ist zum einen das, wie locker Dein Protagonist die Situation scheinbar nimmt, wie beobachtend er agiert, fast möchte man meinen, er sei nur Zuschauer (bis auf den Fragebogen). Zum anderen ist da der Gefängnisalltag. Es ist natürlich möglich, daß es in Deutschland menschlichere Gefängnisse gibt, als hier in Österreich, und ich tu Dir vielleicht jetzt unrecht, dann verzeih bitte.
Aber aus diversen Erzählungen (zum Beispiel sieben Jahre Brief- und Besuchskontakt mit einem Häftling) weiß ich, daß es sich da drin nicht so locker lebt und auch nicht so langweilig ist. Einerseits sind sie beschäftigt mit der Organisation der Dinge, die sie brauchen. Das fängt an beim Essen, denn das, was sie bekommen, ist nicht gerade viel, und wer halbwegs bei Kräften bleiben will, muß sich zusätzlich etwas kaufen. Ebenso Dinge wie Zahnputzzeug, Seife, Waschmittel… Das Geld dafür müssen sie entweder erarbeiten, wenn sie Arbeit bekommen, oder von Verwandten oder Freunden geschenkt bekommen, oder - tja. Wenn sie das Geld auf ihrem „Konto“ gutgeschrieben haben, können sie etwas bestellen. Bis das kommt, dauert es eine Woche, weil nur einmal in der Woche Bestellungen aufgenommen bzw. das Bestellte ausgeteilt wird. Manchmal haben sie dann auch Pech, und es kommt statt bestellter Butter und Brot nur die Butter… Dann muß derjenige schauen, daß er mit einem brotbesitzenden Häftling etwas tauschen kann. Das ist alles Beschäftigung.
Hat sich nun einer ein Radio zusammengespart, muß er kreativ werden. Denn wenn er einen Sender sucht, hat er Pech: Hinter den vielen Gittern gibt es leider kein Empfang. Wo bekommt er jetzt wieder einen Draht her, um sich die Antenne nach außen zu verlängern - die Steckdose ist nämlich in weitestmöglicher Entfernung zum Fenster montiert… Er besorgt sich Kugelschreiber, zieht die Federn auseinander und verdreht sie zu einer Antenne.

Aber jetzt hör ich auf, ich will Dir ja da keine Geschichte herschreiben, sondern Dir nur zeigen, warum ich Deine Geschichte nicht für realistisch halte. Nur eins noch. »21 Monate muss ich noch absitzen, nach zehn Jahren Haft erscheint mir das wie ein Tagesausflug in den städtischen Zoo« – das kenn ich von oben Erwähntem auch anders: Je näher es zum Ende kam, desto weniger konnte er es erwarten. Ich kann Dir auch sagen, warum: weil er dann, im Gegensatz zur ersten Zeit, auch manchmal Ausgang hat, aus dem Trott herauskommt und die Freiheit sieht…

Noch drei Kleinigkeiten:

»habe ich einfach „Brot und Spiele“ draufgeschrieben und den Wärter zurückgegeben.«
– dieser eine Buchstabe sinnentstellt den Satz etwas ;): „und dem Wärter zurückgegeben“ müßte es heißen

»über ihre finanzielle Mittel«
– finanziellen Mittel

»die kleinste Marotten«
– die kleinsten Marotten

Hoffe, Du bist jetzt nicht allzu traurig über meine negative Kritik, ist nicht bös gemeint. Wüßte ich das nicht alles anders aus Erfahrungsberichten, hätte ich nur Lob gestreut, weil geschrieben hast Du sie in meinen Augen wirklich gut. :)

Liebe Grüße,
Susi

 
Zuletzt bearbeitet:

Grüß dich Häferl!

Warum sollte ich traurig sein? Der Hauptgrund, warum ich hier meine Geschichten poste, ist, konstruktive Kritik zu bekommen. Dafür bin ich sogar dankbar.

Du hast übrigens Recht damit, wenn du behauptest, dass ich nicht viel vom Gefängnisalltag weiß. Ich stelle es mir eben einfach so vor, dass auch die von dir geschilderten Aktivitäten mit der Zeit unendlich öde werden und nach und nach zur langen Liste der persönlichen "Nebensächlichkeiten" gereiht werden. Und dann tritt Unterforderung ein und somit auch das von mir geschilderte Emotionsgefüge.

Möglicherweise ist dies jedoch wirklich lokal bedingt und die Gefängnisse in BRD sind komplett anders aufgebaut als die in Österreich. Oder aber nichts von dem, was ich inhaltlich in meine Geschichte eingebaut habe, stimmt. Ich denke, um dies objektiv zu beurteilen, müsste man selbst schon mal drin gesessen haben oder in einem Gefängnis arbeiten. Alles andere ist sowieso nur eine wage Vermutung. Wenn wir hier also einen Eingeweihten unter uns haben, dann soll sich dieser doch bitte melden. Darüber hinaus denke ich aber auch, dass du dir durch deine Bezugsperson sehr wohl bereits ein realistisches Bild von alledem malen kannst, weswegen ich dir auch nicht wirklich widersprechen kann und möchte.

Allerdings denke ich nicht, dass ich das Leben im Gefängnis in meiner Geschichte "locker" geschildert habe.

Deine Rechtschreibkorrekturen waren übrigens wieder allesamt berechtigt, ich habe sie bereits ausgebessert.

 

Hallo Jingles,
eigentlich alles nur Vorschläge:

Darin sollten wir anhand von Verbesserungsvorschlägen die Allgemeinsituation im Gefängnis verbessern.
Wiederholung von "verbessern". Mach da einfach draus:
Darin sollten wir mithilfe von Vorschlägen

Auf den Zettel habe ich einfach „Brot und Spiele“ draufgeschrieben
aus "draufgeschrieben" würd ich nur "geschrieben" machen.

Offensichtlich aber nur deshalb um die Situation zu entschärfen.
"deshalb" füllt nur.

Wie die Haare bei jedem einzelnen anders fallen, nach dem morgendlichen Duschritual.
Wie die Haare nach dem morgendlichen Duschritual bei jedem einzelnen anders fallen.

Und diesmal wird es keinen Banküberfall geben um sich auch ohne weltliche Arbeit sein Literaturstudium finanzieren zu können.
Ein wenig dich aufgetragen...

Was fehlt ist meiner Meinung nach die nötige Itensität, die dieser Tagebuchgeschichte sicher helfen würde, interessanter lesen zu sein. Ich persönlich habe mir noch nie Gdanken über das Leben im Gefängnis gemacht, dachte auch erst es würde sich um eine Parabel auf die Gesellschaft handeln (dann hätt ichs mies gefunden :D). Jedenfalls finde ich die Gedankengänge des Erzählers nachvollziehbar und die Eintönigkeit hast du in wenig Sätzen gut beschrieben. Allerdings ist es mir eben zu beobachtend.

Eike

 

Hallo Jingles,
mir scheint, als wäre dir dieser Text locker von der Hand gegangen. Er ließt sich flüssig und weißt keine (wenigstens hab ich keine gefunden) stilistischen Fehler auf. Aber leider glaube ich auch, dass du dir nicht allzu viele Gedanken um den Unterhaltungsaspekt gemacht hast. Ich weiß leider nicht genau, was diese kg ausdrücken will. Der erste Eintrag wird noch zu Haftzeiten gemacht. Der zweite Eintrag stammt direkt aus der Freiheit und die Verbindung soll sich dann wohl mit der fragenden Überschrift beschäftigen. Aber leider beantwortest du sie nicht. Ich hätte mir ein paar Informationen darüber gewünscht, was deinen Prot in die Haft verschlagen hat und vor allem deckt sich für mich nicht so ganz sein Auftreten. Ist er nun erwachsen (er geht ja später arbeiten), oder ein Kind („kleiner Racker“)?
Und was hat es mit den Sprüchen auf dem Klo zum Schluss auf sich? Wie es aussieht hat er ja jetzt sein Literaturstudium begonnen. Oder? Es bleiben mir einfach zu viele Fragen offen, Fragen die einiges dazu beitragen könnten, den Sinn der kg besser zu verstehen. Aber wie gesagt: schön geschrieben ist sie!

Einen lieben Gruß...
morti

 

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