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Gespenster

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24.04.2003
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Gespenster

Es war ein kleiner Raum ohne Möbel. Als man mich hineinführte, war ich ein kleiner Mann ohne Kleidung.
Sie spuckten mir ins Gesicht, brachen mir beide Arme, und gingen dann.
Unbeholfen stolperte ich hinter ihnen her, stürzte, weinte. Auch dann noch, als sie längst verschwunden waren.
Irgendwann verließ ich den Raum und zurück blieb das Gespenst, das sie mir ausgetrieben hatten.

Warum ich froh bin, in diesem Land zu leben?
Es gibt hier keine Geister, und wenn, dann schluchzen sie einsam in kleinen Räumen ohne Möbel.

***

Jenseits der Bars, Diskotheken, der Restaurants und Kinos, jenseits der Menschen.
Enge Gassen, aufgereihte Orte. Wer mittendrin ist kann durch die Fenster hören, was unter der Oberfläche der Leute ist.
Ein Mann brüllt. Ein Kind schreit. Eine Frau weint.
Hinter dem zweiten Fenster ist es still. Dort sitzt jemand auf seinem Sessel und tut nichts, außer atmen.
Ich beobachte ihn eine zeitlang. Es ist sinnlos. Er hat auch keine Arme. Vielmehr hatte er niemals einen Geist. Wie glücklich er sein muss, den kleinen Raum ohne Möbel nicht zu kennen.

Hinfortgetragen vom Walzer; jetzt die Silhouette der Stadt, dann von oben. Satellitenbilder mit eigenen, toten Augen photographiert für den Rest der Zeit; und ein unentwickelter, überbelichteter Film von Leere.
Und irgendwann kommt es zur Landung; selten auf den Füßen, aber irgendwie halt immer. Dann trinke ich von dem, was mir die Schaumkrone der Gesellschaft zu bieten hat. Dass ich auch das trübe Gebräu darunter kenne, das interessiert niemanden. Keiner sollte von engen Gassen aus durch Fenster starren. Das machen nur Spanner und Ausgegrenzte.
Meine Arme werde ich nicht wieder verwenden. Sie finden keinen Halt mehr, an den sich die morschen Finger klammern können.
Gebrochene Fingernägel wird es keine mehr geben, der Schmutz kann sich in den engen Hohlräumen ausbreiten.

Ob ich ein Aussteiger bin?
Nein. Ich bin froh, in diesem Land zu leben, obwohl manchmal ...

Manchmal wünsche ich mir, dass es spukt. Vielleicht würde ich dann mich selbst wiedertreffen.

So sitze ich bloß hier auf dem Bordstein und erinnere mich daran wie es war, als es Magie noch gab.

Der ganze Zauber, der in dem kleinen Raum ohne Möbel zurückbleibt.

Ich öffne meine Augen und erkenne ihn als mein Wohnzimmer, durch das Millionen Gespenster fliegen.

Wie schön.

 

Super geschrieben!

So viel Material in einen so kurzen Text zu bekommen. Respekt.
Es war mir sehr angenehm zu lesen und auch die Grundidee finde ich aufgreifendswert.


Viele Grüße,
Sumpfkuh

 

Hallo Sumpfkuh.

Warum will dein Nick so gar nicht zu deinem Bild passen? Lassen wird das.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.


Servus Blackwood.

Ich hoffe, die Muffins haben gemundet, obwohl du ja weißt, was sich unter der Oberfläche des Zuckergusses verbirgt :D
Übrigens auch schon lange E-Mail mäßig nichts mehr von dir gehört :)

Bis, ja bis er seine Phantasie wieder entdeckt.

Nun ... er entdeckt seine Phantasie wieder und merkt zeitgleich, dass sie niemals dagewesen ist, denn der kleine Raum ohne Möbel ist die Welt, die er wahrnimmt. Millionen von Gespenstern.
Er wollte irgendwann mal was bewirken, und ist zum Aussteiger geworden, was ihm letztendlich aber dennoch die Arme "gebrochen" hat.
Eigentlich müsste dir das Thema doch gefallen.
Man kann nichts Gutes und nichts Schlechtes tun, sondern nur ein wenig tiefer blicken als alle anderen, um im Endeffekt doch nichts zu bewirken.

Danke auch dir für deinen Kommentar.

Bis dahin.

Grüße

Cerberus

 

Hi cerberus,

um ehrlich zu sein, ich habe die Geschichte jetzt schon ein paar Mal gelesen, ohne wirklich eine Idee davon zu bekommen, was ich dazu schreiben kann.
Beim ersten Mal war sie noch jungfräulich und ich war von dem Verlauf irritiert. Die erste Szene, der Mann ohne Kleidung, die gebrochenen Arme, ließen mich Folterräume assoziieren, die ich mit dem Rest der Geschichte nicht in Verbindung bringen konnte.
Im zweiten Teil lese ich von Tiefe, von einem Menschen, der es nie schaffen wird, sich einzugliedern, weil er zu viel erkennt. Und er scheint, ohne zu richten erkennen zu können.
Das macht einsam, denn nur, wo er frei ist vom Überstrom der Eindrücke, die äußerlich und innerlich auf ihn einprasseln, kommt er zur Ruhe.
Ich lese von einem Menschen, der sich vor lauter Eindrücken nicht mehr erkennt, der darauf hofft, seinen Geist wiederzufinden, vielleicht auch genau die Sensibilität, die man ihm ausgetrieben hat, damit er in der Gesellschaft bestehen kann.
Erst darüber kam ich darauf, dass es sich nicht um einen realen Folterraum handelte, sondern um den Folterraum in uns, mit dem wir uns das Leben schwer machen und uns selbst die Arme brechen, um der Gesellschaft zu genügen, um die Einsamkeit zu überwinden.
Er versucht sich sozusagen "in Ordnung" zu foltern und spürt danach, dass etwas fehlt.

Ich gestehe, meine Interpretation ist sehr "ichbezogen", meine Lesart durch meine Erfahrungen bestimmt. Vielleicht hatte ich deshalb so viele Schwierigkeiten mit dem Text?

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim.

Es freut mich, dass du dich so mit der Geschichte auseinandergesetzt hast. Deine Interpretation ist vollkommen richtig. Aber anscheinend kommt doch zu wenig rüber, dass es sich bei der "Folterkammer" um keinen wirklich Ort handelt. Vielleicht habe ich da auch zu wenige Hinweise gegeben.

Viele Grüße

Cerberus

 

Hallo cerberus,
Ich habe auch eine Folterkammer vor dem Auge. Es ist, als ob der Protagonist aufgrund von Zwängen seine Talente verraten hat. Vielleicht fühlte er sich anfangs freier, ohne die Fesseln einer Begabung. Aber ich spüre auch einen Schmerz um dessen Verlust. Warum ein Talent vergeuden? Welchen Sinn macht es, es zu verleugnen?

Bisschen exzentrisch meine Interpretation. Ich geb`s zu. :)

Lieben Gruß
Goldene Dame

 

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