Was ist neu

Gespräch im Aufzug

Mitglied
Beitritt
20.11.2025
Beiträge
1

Gespräch im Aufzug

Nicht jeder ist wie er scheint und manchmal können ein paar Minuten ein Leben verändern. Ein Gespräch vollkommen ungeplant, geführt von zwei Fremden in einem Fahrstuhl. Klingt unbedeutend und nach wenig, doch vielleicht können genau diese paar Minuten und diese wenigen Worte neue Türen öffnen und nicht nur die Aufzugstür. Denn wie so oft im Leben offenbaren sich Neues und Unbekanntes, wenn man nur gut genug zuhört.

Als Samir das Gebäude betritt, ist es wie immer um diese Uhrzeit - voll. Zahlreiche Geschäftsmänner und -frauen eilen im strammen Schritt mit perfekt sitzender Kleidung durch den Eingangsbereich der Firma. Nur vereinzelt, wie einzelne unpassende Flecken, erblickt man farbliche oder nicht so perfekte Kleidung, doch diese Schandflecken werden von den Eilenden genauso wenig beachtet wie jeder andere. Jetzt wurden keine Beziehungen gepflegt, nicht um diese Uhrzeit. Niemand beachtet Samir oder seinen braunen Anzug. Vorsichtig, um nicht von den Anzugträgern angerempelt zu werden, beginnt der Mann seinen Weg zum Fahrstuhl und schlängelt sich an zahlreichen Ellbogen und rücksichtslosen Schultern vorbei. Auf die Menge an Menschen blickend, beschließt er schließlich den Fahrstuhl ganz rechts zu nehmen. Würden die Lackschuhe auch nur etwas besser aufpassen oder gar zuhören, wüssten sie, dass der Aufzug schon seit einer Woche wieder im Betrieb ist. Triumphierend drückt er auf den Knopf und ist sich der fehlenden Aufmerksamkeit der anderen sicher. Auch diesmal werden sie es nicht bemerken, denkt er bei sich. So schlau sie sich auch finden mögen, wäre auch nur einer in der Lage über seinen eigenen Tellerrand hinauszuschauen, würden sie wahrscheinlich so manch eine Sache hier feststellen, die sie wundern würde.
Während Samir im Fahrstuhl wartet bis sich die Türen schließen, betritt ein hochgewachsener Mann das Bürogebäude. Mit strammem Schritt nähert er sich den Fahrstühlen und geht dabei genauso rücksichtslos vor wie die anderen auch. Auch er kommt kurz vor den Fahrstühlen zum Stehen, doch nach einem Blick auf die Uhr schaut er sich um. Liam ist schon viel zu spät dran, er kann es sich nicht leisten hier noch zu warten. Verdammt. Der Blick auf die Uhr hatte im gezeigt, dass es bereits 7:56 Uhr ist. In 4 Minuten müsste er am Arbeitsplatz sein, das war er die letzten Jahre immer gewesen und würde es heute auch sein. Nein, es war kein Termin der ihn zur Eile antreibt, sondern Gewohnheit. In die Gewohnheit hatte er sich geflüchtet, als die Wunden noch frisch waren und auch jetzt halfen sie ihm zu vergessen. Ohne Routinen war er machtlos, wie der Junge es gewesen war. Nicht gewillt wieder darüber nachzudenken, steuert er schnell auf den Ort zu, an dem sein Blick hängen geblieben war. Kurz bevor die Aufzugtüren sich komplett schließen können, stellt er seinen Fuß in die Tür und verzieht kurz darauf kaum merklich das Gesicht, als die Tür ihm den Fuß einquetscht. Wer auch immer das in den ganzen Filmen machte, musste keinen Schmerz im Fuß spüren oder extrem verzweifelt sein.
Verächtlich beobachtet Samir den Anzugträger, der sich durch die Tür quetscht und den Knopf für die 10. Etage drückt. Alles an seinem Auftreten schreit nach der oberen Riege. Sein Anzug, zweifellos maßgeschneidert, sitzt perfekt und strahlt in einem sauberen Schwarz, er hat einen selbstbewussten Gang und trägt eine silberne Uhr, die besonders zu schreien scheint, wie wertvoll seine Zeit doch sei. Sich ein verächtliches Schnauben verkneifend sagt er nur: „Guten Morgen“. Gedankenverloren nickt der Geschäftsmann nur. Verächtlich nimmt der andere Mann diese Geste wahr und seine Achtung vor dem Krawattenträger sinkt, wenn nur irgend möglich, noch weiter.
Ins Leere starrend nimmt der junge Geschäftsmann nur beiläufig wahr, wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt, er ist müde, war es all die letzten Jahre schon, aber nun ist wieder mal eine Zeit, wo die Erinnerungen ihm keine Entspannung lassen. Kaum kommt er zur Ruhe überrollen sie ihn, Bilder von dem Vermissten und seinen ehemaligen Kollegen, doch genau ein Bild hat sich eingebrannt und verfolgt ihn immer weiter. Ein kleiner Junge gerade einmal 7 Jahre alt, an der Hand eines etwa 30-Jährigen Mannes. Er sieht wieder den ängstlichen Blick des Kindes vor sich und erinnert sich daran wie er den fälschlicherweise als irrelevant eingestuft und ignoriert hatte. Am nächsten Tag war der Junge erst vermisst gemeldet und dann verstümmelt und tot gefunden worden. Seinen einstigen Traumberuf des Polizisten hatte er eine Woche später aufgegeben, zu groß war seine Schuld. Kurz darauf hatte er dank seines 2. Studiums hier eine Arbeit gefunden und sich seitdem hier hochgearbeitet.
Der eine Mann also in Erinnerungen versunken und der andere in Verachtung für den Herrn ihm gegenüber, stehen beide da und warten im gleichen Raum, nur um in ein paar Sekunden wieder getrennte Wege zu gehen. Ein Ruck fährt durch den Fahrstuhl und er hält, obwohl hier keine Etage ist. Die Türen bleiben verschlossen, auch wenn der junge Mann den Knopf zum Öffnen drückt.
Seufzend blickt Liam wieder auf seine Uhr, seine Routine drohte durcheinandergebracht zu werden. Entnervt drückt er den Notrufknopf und wartet. Nichts.
Samir muss sich nun zusammenreißen nicht zu grinsen, denn das geschieht dem ganz recht, denkt er bei sich. Der Anzugträger, dem die Situation sichtlich unangenehm zu sein scheint, deutet auf den leuchtenden Knopf für die 3. Etage: „Arbeiten Sie in der Medienabteilung?“ Verwundert starrt der 40-Jährige ihn an. Die Frage hörte sich nicht gestelzt, sondern verblüffend ehrlich an, als hätte der Andere ein wirkliches Interesse mit ihm zu reden.
Und das hatte Liam, denn alles war besser, als jetzt nicht nur im Aufzug, sondern auch in Gedanken gefangen zu sein. „Ja und sie“, der ältere Mann nickt zum obersten Knopf „gehören wohl zu den ganz Hohen?“ „Ich arbeite eng mit ihnen zusammen.“ Stille. Ein Räuspern durchbricht die Stille im Aufzug: „Samir“, kommt es von dem Mann im braunen Anzug. „Liam“, erwidert der andere. Nach gewisser Zeit kommt es von Samir: „Ich hätte nicht gedacht jemanden wie dich duzen zu dürfen.“ „Warum?“, fragt der Krawattenträger schmunzelnd. „Seid ihr nicht immer so formell da oben?“ „Wir sind immer noch Menschen.“
Nachdenklich schweigen beide. Liam erfrischt und abgelenkt durch den unverhofften Austausch und Samir verwundert. Der Mann ihm gegenüber ist nicht, wie er sich ihn vorgestellt hat. Schließlich bricht er wieder das Schweigen „Wie hast du es so hoch geschafft? Du siehst noch jung aus.“ „Bin ich auch.“, erwidert Liam, „Ich habe viel gearbeitet in den letzten Jahren.“ „Du hast keine Familie?“ „Nein.“ Erstaunt hebt Samir eine Braue oder versucht es zumindest: „Ich würde nicht ohne meine leben wollen. Du verpasst was. Ist das nicht das wahre Glück im Leben?“ „Oh, ich will gar keine Familie“, bevor Samir ihn unterbrechen kann, spricht Liam schnell weiter, „Ich bin aro-ace. Ich fühle keine romantische oder sexuelle Anziehung zu anderen.“ „Hm“.
Wieder Stille.
„Was macht dich dann glücklich?“, fragt Samir interessiert. „Arbeit“ „Das klang nicht sehr überzeugt“, kommentiert der Mann im braunen Anzug. „Ich habe gezeichnet“, kommt eine zögerliche Antwort. „Und warum nicht mehr?“ „Ich… ich denke zu viel, ich denke an die Vergangenheit, Fehler.“ Dem Mann ist das Thema sichtlich unangenehm, doch der andere denkt nicht daran das Thema zu wechseln „Du solltest es mal wieder probieren, wenn es dich glücklich macht. Hast du Freunde, also richtige?“ „Wenige, ich hab keine Zeit. Du hast Familie. Frau? Kinder?“ Mit einem stolzen Lächeln im Gesicht antwortet ihm Samir: „Ja, ich hab eine bezaubernde Frau, eine Tochter und einen Sohn in unserem Herzen.“, zum Ende des Satzes wird das Lächeln traurig und Samirs Augen sind starr als schauten sie in die Vergangenheit. Kopfschüttelnd verdrängt er seine Erinnerungen an ihn und kommt zurück zum Thema: „Du hast nie darüber gesprochen oder? Die Vergangenheit ist der Grund, warum du so viel arbeitest?“ „Nein, ich habe nie drüber gesprochen. Mit wem sollte ich auch?“ Plötzlich bildet sich ein harter Zug um den Mund des Älteren „Glaub mir auch du darfst mal schwach sein. Und es macht dich nicht schlecht mit jemanden zu reden. Aber verdränge nicht.“ „Du hast Erfahrung.“, es ist eine Feststellung keine Frage. „Hast du auch Fehler gemacht und wünschtest du könntest sie rückgängig machen?“, kommt diesmal eine Frage von Liam. „Viel zu viele. Aber letztendlich ist das Leben halt so, dass man es nicht ändern kann. Vielleicht ist es besser.“ „Das Leben ist grausam.“, stellt der junge Mann mit verbitterter Stimme fest. Ernst erwidert der andere „Eine der wenigen Thesen, der wohl jeder zustimmt. Aber es kann auch andere Seiten haben. Du solltest echt mal wieder zeichnen. Ich wünschte ich hätte das Talent.“ Ein leicht beleidigter Blick wandert in Samirs Richtung: „Glaub mir es ist vor allem harte Arbeit und am wenigsten Talent“
Wieder Schweigen.
„Was macht dich eigentlich außer deiner Familie noch glücklich?“ Nachdenklich starrt Samir gegen die Wand des Aufzuges. Liam rechnet schon mit keiner Antwort mehr, als Samir plötzlich antwortet: „Ich weiß es nicht. Freunde. Sonst habe ich nichts wirklich.“ Seine Stirn legt sich in Falten „Vielleicht solltest du auch mal probieren zu zeichnen oder zu lesen“, kommt es vom Mann in Schwarz. „Vielleicht“
Diesmal unterbricht keiner der Beiden die Stille, sondern das Ruckeln des Aufzuges, bevor dieser sich langsam wieder nach oben in Bewegung setzt. Der Fahrstuhl bleibt wieder stehen und mit einem letzten Lächeln verschwindet der Mann im brauen Anzug aus dem Fahrstuhl.

Lächelnd eilt Samir den Korridor zu seinem Schreibtisch entlang und zum ersten Mal in seinem Leben betritt er das Großraumbüro lächelnd. Immer noch über das Gespräch nachdenkend setzt er sich an seinen Arbeitsplatz und fährt seinen Rechner hoch.

Im Aufzug ist es nun endgültig still und Liam ist wie Samir tief in Gedanken, doch seit 6 Jahren ist er auch in der Stille wieder glücklich. Sobald der Aufzug die Türen aufmacht, verlässt Liam mit hastigen Schritten, mehr des Gesprächs als dem Zeitdruck geschuldet, den Aufzug. In seinem Büro angekommen, ist er noch so tief in Gedanken, dass er fast vergisst, das Fenster zu öffnen. Bevor er sich an seinen Computer setzt, schaut er auf seine Uhr. 8:04 Uhr. 4 Minuten zu spät, doch es machte ihm nichts aus.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom