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Geteilte Weihnachtsbiere
Ich sitze an der Bar und starre die rote Nase eines Clowns an.
„Für ein Bier arbeite ich einen halben Tag“, ruft er mir zu. „Vor dem Kaufhaus, auf der Straße“, schiebt er nach und schlürft an seinem frisch gezapften Bier. „An Weihnachten drehen sie alle durch. Kaufen ein gutes Gewissen mit Geld. Und ich helfe ihnen dabei! Egal ob es pisst, schneit oder mein Arsch abfriert.“
Ich lasse ihn reden und nippe am abgestandenen Bier.
„Lade mich doch ein, es ist bald Weihnachten.“ Fordernd schaut er mich an.
Ich drücke ihm mein lauwarmes Bier in die Hand und zwänge mich schweigend durch die Menschenmasse zum Ausgang, zurück in die kalte Winternacht. Morgen platziere ich meinen Becher vor dem Kaufhaus. Die Fahrgäste an der U-Bahn Haltestelle schenken nichts. Vor allem an Weihnachten hetzen sie mit versteinerter Miene an mir vorbei.
Die Kälte frisst sich durch meinen abgewetzten Schlafsack. Aber ich bleibe. Vor dem Kaufhaus wälzt sich der Menschenstrom nahe an mir vorbei. Beschämt und heimlich mustern sie mich. Ich verfolge ihre Augen, und schon klimpern ihre Münzen im Becher. „Danke!“ Deine gute Tat, für heute. Die Bäckerin nebenan schenkt mir einen Kaffee. Aber ich bleibe sitzen.
„Ich war zuerst da, das ist mein Geld. Gib es sofort her!“ Er steht vor mir, der Clown. Sein verschmutztes Kostüm tropft vom Regen. Der alte Mann zittert am Leib.
„Verpiss dich!“, blaffe ich zurück.
„Gib mir das Geld! Du hast einen Schlafsack, du schläfst draußen. Ich brauche das Geld für die Schlafstelle!“ Die Menschenwalze stockt und drängt auf die Straße.
„Lass mich in Ruhe!“
„Gib mir das Geld!“ Er greift nach meinem Becher, ich schnappe sein dünnes Handgelenk.
„Du Dieb, bleib hier!“ Ziehe ihn an mich heran, trete mit den Beinen im Schlafsack nach ihm. Mit dem Kopf schlägt er auf. Blut tropft von seiner Stirn.
„Geil, Mann!“, höre ich jemanden schreien. Ein Jugendlicher filmt den Clown.
„Hau den Penner, du alter Sack!“, feuert er ihn an.
„Das ist Live, live! Und echt!“, brüllt er in die Kamera. Er rückt sich ins Bild, zeigt auf mich, auf den Clown und dann entdeckt er die Polizei: „Scheiße!“
Nach den Ereignissen der letzten Tage suche ich meine Kneipe auf. Zeit für Besinnung. Das Geld reicht aus für fünf warme Nächte auf der Schlafstelle, genügend für den milden Winter. Eine gute Adresse, das Kaufhaus. Ich setze mich an die Bar. Der Wirt toleriert mich, solange ich bezahle. Wärme gibt es gratis und manchmal ein paar Snacks. Die Kneipe hält die Wahrheit fern und suggeriert, dass ein Zuhause auf mich wartet. Ich danke dafür, besonders heute, am Weihnachtstag. Da tritt der Clown ein. Schminke und rote Nase gegen Platzwunde getauscht.
„Sorry“, murmelt er, „ich dachte nicht, dass du auf der Straße lebst.“ Ich bleibe stumm.
„Sein nächstes Bier auf mich!“, ruft er.
„Haste Geld?“, hallt es zurück. Zittrig kramt er die Münzen zusammen und legt sie ihm hin.
„Mein letztes Geld.“ Ich zögere, doch dann reiche ich ihm das spendierte Bier zurück.
„Das Kaufhaus lief doch gut? Was ist mit dem Rest?“
„Nichts mehr da: Essen, Trinken, Schlafen und Geschenke.“
„Familie?“, frage ich überrascht.
„Zwei Söhne. Wir stehen aber nicht mehr in Kontakt. Zu Weihnachten schreibe ich ihnen immer eine Karte und für die Enkel packe ich kleine Geschenke dazu.“
„Was ist passiert?“, ich kralle ein paar salzige Nüsse aus der Schale.
Er zeigt mir ein Familienfoto: „Martin, Paul und meine Frau Anna. Vor ein paar Jahren fand ich ihre Adressen nicht mehr im Telefonbuch. Glaubst du, sie wohnen noch dort?“ Mein Kopf verneint. „Rücksendung gab es nie“, bemerkt er stoisch, „aber was bedeutet das schon. Ich weiß ja nicht mal, wie viele Enkel ich habe!“
Neue Gäste treffen ein. „Anna fand mal auf dem Flohmarkt eine gebrauchte Eisenbahn“, fährt er fort, „und ich musste im Wald einen Tannenbaum fällen! Sie bestand darauf! Als die Kinder das große Geschenk entdeckten, da schauten sie uns mit glänzenden Augen an. Wir sangen sogar ein Lied und lachten viel. Kannst du dir das vorstellen?“ Ein Bier zischt. Eine ältere Dame prostet uns zu. „Ich war kein guter Vater, ich konnte es einfach nicht. Wer weiß, ob meine Enkel mich überhaupt kennen.“ Er fasst sein Glas und starrt hinein. „Und bei dir?“
Stühle knarren. Ein junger Mann setzt sich an die Bar, Gin Tonic in der Hand.
„Hab den Job verloren. Frau weg, Wohnung weg, und kam nicht wieder raus. Ich dachte, alles wird gut. Schämte mich zuerst. Bat meine Freunde nicht um Hilfe. Hatte nur wenige.“ Sie nicken mir zu. „In der ersten Nacht draußen, da überfiel mich eine Jugendbande. Die kickten mich wie ein Fußball und grölten. Ein Helfer flickte mich nachher zusammen. Gab mir den Schlafsack. Gutes Teil, wärmt mich bis heute.“ In der Ecke flackert der kleine billige Plastikweihnachtsbaum. Ein alter Kauz daneben grüßt uns.
„Um Weihnachten zu erinnern“, er schaut mir in die Augen. Ich verstehe ihn nicht. „Deshalb mache ich den Clown", erklärt er. "Kinder verurteilen mich nicht. Sie kichern, winken und lachen. Und wenn sie mich voller Freude anschauen, erinnere ich mich. Damals, wie Paul und Martin strahlten, wie rührend Anna lachte und mich zärtlich umarmte und ich an dem Abend glaubte, als Familie und Mensch Teil der Gesellschaft zu werden.“ Jemand räuspert sich. „Weiße Weihnacht war gestern“, seufzt er.
Wir saßen an der Bar und lauschten unseren Schicksalen: Zwei Murauer Bier, Gin Tonic, irgendein roten Wein und Augustiner. Der Wirt trank Wasser.