Was ist neu

Gezeichnet

Mitglied
Beitritt
09.09.2015
Beiträge
448
Zuletzt bearbeitet:

Gezeichnet

Ihre Absätze klapperten über den geölten Holzfußboden, als sie zum Lehrerpult ging. Seit Fräulein Meyer Deutsch und Zeichnen in unserer Klasse gab, machte der Unterricht irgendwie viel mehr Spaß.
„Guten Morgen! Setzt euch!“
Unsere Stühle scharrten. Peter, der neben mir saß, stieß mich in die Seite und wir mussten grinsen. Wir hatten die ganze Zeit auf ihren Vorbau geguckt. Und auf den Minirock. Sie war schon ein steiler Zahn.
Ich schaute zum Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, der, seit ich zur Schule ging, an der Wand neben uns hing. Klar, der hatte auch nichts Besseres zu tun, als der Meyern lüstern auf die Bluse zu starren.

„So, ich gebe euch jetzt die Hausaufgaben zurück. Dann werden wir uns mit Aquarellmalerei beschäftigen.“ Sie ging zu jedem von uns hin und überreichte das Blatt. Ich war als Letzter an der Reihe. Aber ich blieb ganz ruhig. Jeder in der Klasse wusste, dass meine große Schwester Tini meine Hausaufgaben machte, sie schrieb Aufsätze, sie malte Bilder für mich und beides konnte sie richtig gut. Sie sagte immer, das mache sie gerne, sie habe kein Problem damit. Ich auch nicht.
„Rolf Schuhmann!“ Die Meyer hielt die Zeichnung zwischen Daumen und Zeigefinger und verzog das Gesicht. „Hast du das selbst gezeichnet?“
„Klaro“, sagte ich und nickte, dabei schaute ich wie gefesselt auf ihre spitzen Brüste. Wenn die Meyer wüsste, dass Tini hinter dem Bild steckte, dann würde sie mich mit ihren Dingern erstechen. Oder ich müsste einen Diskussionsbeitrag zum Thema Fleiß und Ehrlichkeit ausarbeiten. Das könnte eigentlich wieder Tini für mich erledigen. Obwohl, die hatte ja kaum noch Zeit für mich. Die war gerade total verknallt. In so ’nen langhaarigen Macker, Christoph hieß er. Puh, hatte der eine Matte, der traute sich was. Wenn meine Haare mal ein paar Millimeter auf die Ohren stießen, jagte mich Papa gleich zum Frisör. „Abflug Freundchen! Von wegen wie ein Beatle aussehen.“ Damit traf er mich an meiner empfindlichsten Stelle, an meiner Eitelkeit.

„Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!“
Als ich mich vom Stuhl löste, waren meine Ohren heiß und sicher feuerrot. Und keine Haare drüber. Nur wegen Papa.
„Hier“, sagte sie. „Eine Drei.“
War nicht zu übersehen. Sie hatte die Zensur mit rotem Kugelschreiber direkt neben einer Locke von Christoph geschmiert. Sie hatte das Kunstwerk meiner Schwester übelst zugerichtet. Doch ich sagte kein Wort.
„Kannst du dir denken, warum?“
„Nein“, krächzte ich.
„Was du da abgeliefert hast, ist Schund, das Abbild eines asozialen Subjektes. Wie willst du dich so jemals zu einer sozialistischen Persönlichkeit entwickeln, hm?"
Was sollte ich antworten, wenn ich die Frage schon nicht verstand. Ich zuckte mit den Schultern und meine Ohren wurden noch heißer.
„Dann merke dir, Rolf Schuhmann, ein für alle Mal: Wir dulden keine Verherrlichung des Drecks, der aus dem Westen kommt. Für die Ideologie des Klassenfeindes ist bei uns kein Platz. Sie verdirbt unsere Moral.“
Papa sagte auch oft so komische Sachen. Erst neulich, als er die Büchse Thunfisch öffnete, die Oma Sarah aus dem Westen mitgebracht hatte: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Dabei hat er Mama so lustig zugezwinkert. „Das hat sich bis in die südlichen Bezirke des Arbeiter-und Bauern-Staates herumgesprochen, gell Schatz?“ Was der blöde Westfisch mit Tinis Zeichnung von Christoph zu tun haben sollte, begriff ich nicht. Eine Tafel Vollmilch-Nuss wäre mir sowieso zehnmal lieber gewesen.

Anne meldete sich als Erste. Sie schnippte ungeduldig mit den Fingern. Als Gruppenratsvorsitzende hatte ihre Meinung großes Gewicht.
„Fräulein Meyer, ich finde die Drei nicht gerecht. Die Zeichnung von Rolf ist viel schöner als meine und mir haben Sie eine Eins gegeben.“
„Ja, das finde ich auch“, warf Frank ein, der voll auf Anne stand und selten etwas sagte. Und wenn, dann bekam er genauso eine rote Birne wie ich.
Dann sprang Petra auf und rief: “Wir sollten die Bilder an die Wandzeitung heften. Alle könnten sie sehen.“
Katharina und Christa riefen wie aus einem Mund: „Das ist eine gute Idee.“
Als hätten sie sich vorher abgesprochen.
Peter feixte. „Cool, jetzt flippen die Weiber total aus.“
Plötzlich war ein urster Krach in der Klasse, weil alle durcheinander redeten. Und das alles für mich.
„Ruhe!“, rief unsere Lehrerin völlig außer sich.
Robert, der echt was auf der Kirsche hatte, stand auf und es wurde ganz still im Raum. „Fräulein Meyer, ich möchte sie gerne etwas fragen.“ Er tat so, als müsse er nach Worten suchen und rückte seine Brille zurecht. „Wir hatten die Aufgabe, ein Portrait zu zeichnen. Sie haben es uns überlassen, wen wir abbilden möchten. Hat Rolf diese Aufgabe erfüllt?“
„Darum geht es nicht“, erwiderte sie.
„Nur darum. Sie sprechen von Dreck, der aus dem Westen kommt. Der einzige Dreck, den ich auf dem Papier sehen kann, ist die Kohle, mit der gezeichnet wurde. Stammt die nicht aus unserer sozialistischen Heimat?“

Fräulein Meyer schielte zu dem Foto an der Wand. Doch der alte Mann wirkte müde und erstarrt. Er schien nicht die Absicht zu haben, ihr helfen zu wollen und glotzte weiter in ihren Ausschnitt.

„Wir beruhigen uns alle erst mal wieder", sagte sie. „Schreibt euch hinter die Ohren, dass wir im Klassenverband nicht gemeinsam über Zensuren abstimmen. Die Benotung ist meine Aufgabe.“ Danach strich sie ihren Rock glatt und stöhnte. „Ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen.“


Kugelschreiber, südliche, Thunfisch, Eitelkeit, lüstern

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @bernadette,

klasse, das du mal über den Text geschaut hast und mir ein paar Gedanken da gelassen hast.

peregrina schrieb:
Seit Fräulein Meyer Deutsch und Zeichnen in unserer Klasse gab, machte der Unterricht irgendwie viel mehr Spaß.
Diese Füllwörter braucht man eigentlich nicht.
Das stimmt absolut. Bläh- oder Schmälerungswörter wie ziemlich, eigentlich, fast, beinahe wird man in meinen „normalen“ Texten auch nicht finden.
Allerdings bist du auch nicht die Einzige, die sich an dem „irgendwie“ stößt, doch ich kann nicht anders, ich finde es nach wie vor passend. Mein Erzähler ist ja noch ein Kind und plappert umgangssprachlich drauflos. Das werde ich also so lassen.

peregrina schrieb:
Wenn die Meyer wüsste, dass Tini hinter dem Bild steckte, dann würde sie mich mit ihren Dingern erstechen.
Mit diesem Bild werde ich nicht warm. Seien die Brüste auch spitz wie Kegel, so sind sie doch weich.
Das hat für mich eine unfreiwillige Komik.

Hauptsache Komik! Nein, im Ernst, du bist sicher noch viel zu jung, um dich an diese spitzen, gesteppten, stabilen, unkaputtbaren Büstenhalter aus dieser Epoche erinnern zu können. Der Busen war nicht weich, er wurde zur Waffe. Und diesen Umstand nutze ich in der Geschichte, auch wenn sich mehrere Leser an den spitzen Dingern stoßen. Haha.

peregrina schrieb:
Als ich mich vom Stuhl löste, waren meine Ohren heiß und sicher feuerrot. Und keine Haare drüber. Nur wegen Papa.
Dass Papa schuld ist, wissen wir schon. Ich würde das streichen.
Muss ich mal überdenken. Ursprünglich hatte ich stehen: Danke Papa!

peregrina schrieb:
Robert, der echt was auf der Kirsche hatte,
der Ausdruck mit der Kirsche höre ich zum ersten Mal
Irgendwann ist immer das erste Mal.:lol:

peregrina schrieb:
Plötzlich war ein urster Krach in der Klasse, weil alle durcheinander redeten. Und das alles für mich.
urster? Kenne ich nicht. Muss sehr umgangssprachlich sein.
Ja, es entstammt der Umgangssprache dieser Zeit, wird mMn momentan nicht verwendet. Friedel meinte, mittlerweile ist es im Duden enthalten. Siehste, man lernt nie aus.

peregrina schrieb:
„Ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen.“
Das Ende finde ich etwas schwach. Da hätte ich mir aus der Klasse noch was gewunschen. Was Lausbübisches zum Schmunzeln.
Prima Idee, ein Rotzlöffel-Lausbuben-Schalk-im-Nacken-Ende, das würde mir auch gefallen. Doch es will mir nichts einfallen, im Moment. Schade! Her mit den Vorschlägen!

Von den Kleinigkeiten abgesehen eine sympathische Geschichte aus alten Zeiten. Gut zu lesen, ich hatte keine Stolperer und konnte mich an manchen Stellen sehr amüsieren.
Na, das ist doch die Hauptsache.

Prüfung bestanden
Sag ich doch, Klassenziel erreicht und nebenbei ist in die Wörterbörse frischer Wind gekommen.

Danke fürs Lesen und Kommentieren der KG.

Liebe Grüße
peregrina

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom