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- 05.02.2006
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Giran und Tulum - eine Liebe
Giran und Tulum
Es gibt auf dieser Welt überall lachende und weinende Gesichter.
Es gibt auf dieser Welt überall Helden und Schurken.
Es gibt auf dieser Welt überall Sonne und Mond und der
Regen ist auf der ganzen Welt naß und feucht.
Es gibt auf der ganzen Welt Liebe und Haß und es gibt überall
auf dieser Welt Geschichten, die genau diese beiden Phänomene
des menschlichen Daseins beschreiben.
Und deshalb spielt die folgende Geschichte nicht hier und nicht dort,
nicht gestern und nicht morgen. Sie spielt überall und zu jeder Zeit.
Giran
Das Land war groß und weit; so weit, daß ein Wanderer mindestens 10 Leben brauchte, um alle Orte zu sehen und zu bewundern.
Und zu bewundern gab es in diesem Land sehr viel. Es besaß die höchsten Berge und die tiefsten Seen, die dichtesten Wälder und die lieblichsten Blumenlichtungen. Wenn es in diesem Land kalt war, war es wirklich kalt und wenn es heiß war, war es wirklich heiß. Wenn es in diesem Land dunkel war, war es wirklich dunkel und wenn es hell war, war es wirklich hell. In diesem Land gab es einfach keine halben Sachen, es schien so, als würde sich dieses Land nicht mit unvollkommenen Dingen zufriedengeben.
In diesem Land, daß so wunderschön anzusehen war, gab es auch Menschen, die genauso vielfältig und verschiedenartig waren, wie alle anderen Dinge in diesem Land. Die meisten von ihnen lebten in großen Städten und viele von ihnen hatten nicht die geringste Ahnung, wie schön das Land um sie herum überhaupt war. Wenn sie einmal nicht arbeiten mußten, stiegen sie in ihre Fortbewegungsmittel, um in ferne Länder oder Regionen zu reisen, wo sie sich dann unheimlich stark über die dort vorhandene Natur freuten.
Da waren die Menschen auf dem Lande ganz anders und einer von diesen Menschen war die kleine Giran. Giran war 12 Jahre alt und lebte mit ihren Eltern auf einem Bauernhof, der zu einem Verbund von 7 Höfen gehörte, die wiederum mitten in einem Landstrich lagen, in dem sonst überhaupt keine Menschen lebten. Die nächste größere Stadt war eine Pferdewagentagesreise entfernt, doch dorthin zog es die Bewohner des Hofverbundes nur, wenn sie wichtige Dinge einkaufen mußten. Sie waren sehr glücklich und froh darüber, daß sie dort leben konnten, wo sie lebten und sie hätten ihre Lebenssituation mit niemandem tauschen wollen. Giran war ein sehr lebenslustiges Mädchen und sie liebte nichts mehr, als ausgedehnte Spaziergänge durch die sie umgebende Natur zu unternehmen. Während jedes Spazierganges entdeckte sie neue, aufregende Dinge in der Natur. Sie sah seltsame Tiere und wunderschöne Blumen, die ihr alle jedesmal zuzurufen schienen, daß das Leben nur in diesem Teil der Welt wirklich lebenswert war. Und Giran verstand ihre Sprache. Oftmals lag sie einfach nur irgendwo lang auf dem Boden, um die Geräusche, die um sie herum erzeugt wurden, in sich auf zu nehmen. Dabei atmete sie ganz gleichmäßig und mit jedem Atemzug drang die frische Luft der jeweiligen Umgebung tief in sie hinein, mit jedem Atemzug nahm sie etwas von dieser Welt auf, um dann sofort wieder etwas von sich abzugeben. Einmal hatte sie sich mit den Händen mitten im tiefsten Wald eine kleine Mulde gegraben, um sich dann hineinzulegen. Bei dem Gedanken, sich dann mit Erde zuzudecken, wurde ihr erst ein wenig mulmig, doch als sie alle Erinnerungen an die Beerdigung ihres Onkels, der zwei Jahre zuvor gestorben und beerdigt worden war, von sich abgestoßen hatte, legte sie sich in die Grube und bedeckte sich dann fast vollständig mit der schweren, feuchten, himmlisch riechenden Walderde. Dann drückte sie ihr eines Ohr fest an den Waldboden, um ganz tief in die Erde hineinzuhorchen. Sie fühlte sich wie ein Teil des Waldbodens, wie ein geheimnisvolles Wesen, das noch niemand gesehen hatte und das sich bald der Menschheit zeigen würde.
Ein andermal kletterte sie auf den höchsten Baum, den sie finden konnte. Sie brauchte fast eine Stunde, doch dann saß sie oben in der Krone des alten Baumes und konnte sich an der Landschaft, den Feldern und Wiesen, den Wäldern und Seen überhaupt nicht satt sehen. Es war so gewaltig, daß sie es kaum fassen konnte. Sie saß in der Krone des höchsten Baumes, mindestens einen Meter über den Kronen der anderen Bäume, und alle Bäume waren in Bewegung, der ganze Wald war in Bewegung und Giran bewegte sich mit. Der Wind brachte sie und alles in eine sachte Bewegung und das kleine Mädchen mit den verschmutzten Kleidern und den aufgeschlagenen und verschrammten Armen und Knien klammerte sich glücklich an einen dicken Ast und stellte sich mit leuchtenden, staunenden Augen vor, sie hielte sich am Mast eines großen Segelschiffes fest, das gerade über eines der sieben Weltmeere fuhr. Ja, man kann sagen, daß Giran das Leben und die Welt liebte, und es wäre ebenfalls nicht falsch, wenn man sagte, daß das Leben und die Welt Giran liebten.
Tulum
Er hauste auf dem größten Berg des Landes, keine Tagesreise von Girans Elternhaus entfernt. Er war alt und grau und größer, als der Baum, auf den Giran einmal geklettert war. Er hatte einen langen, weißgrauen Bart und eine Nase, die fast genauso groß war, wie der alte Wandschrank in Girans Zimmer. Er hatte es sich in einer Höhle gemütlich gemacht. Eine Behausung, die an der höchsten Stelle des Berggipfels zu finden war, doch zu finden war sie nicht. Denn Tulum mußte sich, wie alle anderen Riesen auch, vor den Menschen verstecken, die kleiner waren als er. Diese waren zwar nicht so kräftig wie Tulum, doch sie hatten seltsame Waffen, mit denen sie unheimliches Unheil anrichten konnten, wenn sie nur wollten; und meistens wollten sie. Tulum war der einzige Riese in diesem Land, alle seine Freunde waren schon vor Jahren verschwunden und er hatte niemals mehr etwas von ihnen gehört. Tulum hatte oft überlegt, ob er nicht auch das Weite suchen sollte, doch seine unsichtbaren Wurzeln hielten ihn immer wieder zurück. Er war auf diesem Berg geboren worden. Damals lebten seine Eltern noch bei ihm. Doch eines Tages kamen viele kleine Menschen, um mit Spitzhacken und Spaten nach irgendwelchen Dingen zu suchen. Tulum und seine Eltern hatten sich Tag und Nacht in ihrer Höhle versteckt, doch eines Tages machte ein Trupp von Menschen sie ausfindig und binnen weniger Augenblicke waren mindestens achtzig Männer vor der Höhle versammelt. Sie riefen und brüllten und schossen mit ihren Gewehren in die dunkle Höhle hinein. Tulum kauerte in der hintersten Ecke der Bergwohnung und zum erstenmal spürte er, was wirkliche Angst war. Dann zündeten die Menschen vor der Höhle seltsame Stöckchen an und dann knallte es auch schon fürchterlich. Die Decke gab nach und ein Schwall von Steinen und Felsen krachte zu Boden, um die drei Riesen unter sich zu begraben. Und dann war alles dunkel.
Als Tulum aufwachte war es still. Totenstill. Zuerst dachte er, daß er tot wäre, doch als er die Schmerzen am ganzen Körper spürte, wußte er es besser. Wie durch ein Wunder waren einige Felsbrocken so über ihm zusammengebrochen, daß er nun in einer kleinen Minihöhle lag. Nur seine Beine waren zwischen Steinen eingequetscht worden. Er lauschte. Nichts. Absolut nichts. Er konnte nur seinen eigenen Atem hören. Sonst nichts.
Von diesem Tag an lebte Tulum alleine auf dem Berg. Die kleinen Menschen waren schon bald wieder verschwunden, denn sie hatten nichts Wertvolles gefunden. In den Städten wurden sie dennoch wie Helden gefeiert, schließlich hatten sie 10 Riesen mit ihren Äxten erschlagen und als Beweis eine echte Riesenhand mitgebracht.
Tulum verschloß die Höhle so gut, daß man von außen nicht mehr erkennen konnte, daß dort mal eine Riesenbehausung gewesen war. Er suchte sich eine neue Höhle und lebte von diesem Zeitpunkt an ängstlich und einsam auf dem Gipfel des Berges. Er hatte genug zu essen und seine neue Wohnung war auch sehr gemütlich, doch der Verlust seiner Eltern brachte ihn fast um.
Giran
Eines Tages gab es in Girans Familie mitten in der Woche Pudding zum Nachtisch, ein Luxus, den sich die Familie sonst nur Sonntags leistete. Girans Eltern saßen mit freundlichen Augen am Tisch und das kleine Mädchen ahnte, daß etwas in der Luft lag. Nach dem Essen lehnte sich ihr Vater genüßlich zurück, um sich eine Zigarette anzuzünden, auch ein Luxus.
"Giran," die Stimme des Vaters klang stolz und verheißungsvoll, "wir haben Dir etwas mitzuteilen. Der Liebe Gott hat entschieden, daß Du nicht als Einzelkind aufwachsen sollst und wird Dir deshalb noch in diesem Jahr ein kleines Geschwisterchen an Deine Seite geben. Wir sind also bald zu viert."
Als das Kind geboren wurde, hatte das lange Raten und Warten ein Ende. Giran hatte einen kleinen Bruder bekommen, der fortan dafür sorgte, daß Girans Eltern nur noch wenige Stunden Schlaf in der Woche bekamen. Doch das schien den glücklichen Eltern nicht viel auszumachen. Im Gegenteil, das Baby wurde umsorgt wie kein anderes Baby auf der Welt. Giran war niemals ein Mutter- oder Vatertöchterchen gewesen, doch es tat ihr schon ein wenig weh, daß sich nun nur noch alles um ihren kleinen Bruder drehte. Der Kleine hier, der Kleine da, und das den ganzen Tag. Ihre Eltern hatten auf einmal kaum noch Zeit für sie und auch an ihrem dreizehnten Geburtstag stand der Kleine bei allen Freunden und Verwandten, die extra aus der Stadt gekommen waren, voll im Mittelpunkt. Giran hatte immer häufiger Streit mit ihren Eltern und ihre einzige Freude bestand in dieser Zeit nur darin, alleine durch die Wälder ihrer Umgebung zu streifen. Ihre Spaziergänge wurden immer länger und länger, es schien so, als wolle sie sich unbewußt immer weiter von ihrem Elternhaus entfernen.
Eines Nachts wachte sie mit furchtbaren Bauchschmerzen auf. Langsam ging sie in das Schlafzimmer ihrer Eltern, wo ihre Mutter gerade dabei war, den Kleinen im Arm zu schaukeln.
"Hast Du mal 'ne Minute Zeit, Mama? Ich habe Bauchschmerzen und kann nicht schlafen."
Ihre Mutter sah sie nur verständnislos an. "Siehst Du nicht, daß Dein Bruder mich jetzt braucht? Geh' in die Küche und trinke dir ein Glas warme Milch, das hilft bestimmt."
Nickend und tottraurig verließ Giran das Schlafzimmer und kroch zurück in ihr Bett. Sie wollte keine Milch. Oder besser gesagt: Sie wollte nur eine Milch, wenn ihre Mutter sie ihr zubereitete. Leise begann sie zu weinen. Alles drehte sich nur noch um ihren Bruder. Ihre Eltern kümmerten sich gar nicht mehr um sie, wahrscheinlich liebten sie sie überhaupt nicht mehr. Zornig und mit schmerzverzehrtem Gesicht zog Giran ihre Tageskleider an, steckte sich einen Apfel von ihrem Nachttischchen in die Tasche und ging zum Fenster. Vorsichtig öffnete sie es, kletterte hinaus, sprang hinunter und verschwand mit Tränen in den Augen in der dunklen Nacht. Sie sah den Umriß des Waldes auf sich zukommen und wußte, daß sie dort geliebt wurde.
Sie lief und lief und schon bald hatte sie die Orientierung verloren. Die Nacht hüllte alle bekannten Orte und Wege in den undurchdringbaren Mantel der Dunkelheit ein und dieser sorgte dafür, daß Giran selbst ihre beliebtesten Plätze nicht wiedererkannte. Doch das Mädchen hatte keine Angst. Ihr Herz war erfüllt von einer unaussprechlichen Traurigkeit, einer Traurigkeit, die ihr die Kehle zudrückte, eine Traurigkeit, die sie nicht einmal weinen lassen konnte. Giran lief und lief. Sie lief so lange, bis sie am Horizont die ersten Anzeichen des neuen Tages sehen konnte. Die Luft war frisch und klar, und obwohl sich Giran darüber im klaren war, daß sie sich verlaufen hatte, zauberte der langsam anschwellende Morgengesang der Natur ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht. Sie verließ den Wald und stand plötzlich auf einer wunderschönen Lichtung. Als sie die rötliche Färbung des Himmels sah, setzte sie sich ins taunasse Gras. Sie war müde und erschöpft, doch sie dachte nicht einmal an den kraftspendenden Schlaf. Sie war so fasziniert von der Schönheit des anbrechenden Tages, daß sie alle ihre Sorgen und Nöte vergaß. Die Lichtung schien unendlich groß zu sein. Überall begann das Leben. Giran sah die verschiedensten Tiere und alle wurden von ihr freundlich angelächelt. Sie stand auf und schlenderte gemächlich über die Lichtung, die aus einem einzigen Grasmeer zu bestehen schien als plötzlich etwas in ihr Auge drang , was ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Sie hatte bis zu diesem Augenblick an den Rändern der Lichtung nur Wald und Bäume gesehen, doch nun stutzte sie. Wie durch ein Wunder sah sie nun am anderen Ende der Lichtung den Fuß eines hohen Berges. Giran wurde ein wenig unsicher. War der Berg dort schon immer gewesen oder stand er erst seit kurzem dort. Sie war sich sicher, daß sie ihn einige Minuten zuvor noch nicht gesehen hatte. Naja, dachte sich Giran, das wird wohl die Müdigkeit sein. Schließlich bin ich schon einige Stunden unterwegs, da können einem die Augen und der Verstand schon mal einen kleinen Streich spielen. Außerdem war es eben ja noch nicht einmal richtig hell. Giran machte sich also keine großen Gedanken um die plötzliche Erscheinung des Berges, was hätte es auch gebracht; es gibt Dinge im Leben, die nun einmal so sind, wie sie sind.
Und der Berg war eines dieser Dinge, er war, was er war; ein Berg. Und davon überzeugte sich Giran indem sie ihn einfach bestieg. Giran hatte trotz ihrer Müdigkeit beim Anblick des Berges nur einen Wunsch: Sie wollte die Spitze des Steinungetüms erklettern.
Tulum
Irgend etwas hatte ihn geweckt. Er wußte selbst nicht was, doch er war sich sicher, daß es etwas war, was ganz außergewöhnlich sein mußte, denn etwas Unaußergewöhnliches wäre nicht in der Lage gewesen, seinen tiefen Schlaf zu beenden. Vorsichtig erhob er sich von seinem Nachtlager, um sich langsam zum Ausgang der Höhle zu bewegen. Sachte schob er den dichten Fellteppich zur Seite, der ihn in seiner Behausung vor dem eisigen Wind schützte, der hier oben zuweilen wehte. Wie ein neugieriges Kind lugte der gewaltige Riese nun durch den schmalen Spalt, den er sich gerade geschaffen hatte und als er sah, was ihn geweckt hatte, wurde er leichenblaß. Sein Körper begann zu zittern und zu wippern und auf seiner hohen Stirn bildeten sich viele kleine Schweißperlen. Er traute seinen Augen nicht, doch es gibt nun einmal Dinge auf dieser Welt, die nun einmal so sind, wie sie sind. Und das kleine Mädchen, das da mit weit ausgebreiteten Armen auf dem höchsten Felsen des Berges stand, war zweifelsohne eines dieser Dinge. Der Riese schob den schweren Vorhang wieder zurück. Was sollte er nun tun? Abwarten? Sich bewaffnen? Fliehen? Angreifen? Die Angst nahm immer mehr Überhand von ihm und tausend Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Er sah seine Eltern, die eingestürzte Höhle und die vielen kleinen Menschen mit ihren knallenden Feuerstäben. Was sollte er tun? Er beschloß, daß er einfach nur abwarten würde. Ihm würde im rechten Augenblick schon das Richtige einfallen. Also kauerte er sich in die hinterste Ecke der Höhle und deckte sich mit seiner Bettdecke vollständig zu. Er verbarg selbst seinen Kopf unter der Decke.
Giran
Der Anblick war überwältigend. Sie war frei wie ein Vogel und sie schwebte mit ausgebreiteten Armen über ihr Land. Die Morgensonne malte die Welt in den schönsten Farben und Giran war so glücklich, wie nie zuvor. Sie schloß die Augen und hatte das Gefühl, jeden Moment vom Boden abzuheben. Der Wind spielte mit ihren Haaren und sang ihr die lieblichsten Melodien ins Ohr und wie im Trance begann sie, sich im Kreis zu drehen. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder und als sie von ihrem Felsvorsprung stürzte und auf das Plateau unterhalb des Gipfels prallte, stieß sie nicht einmal mehr einen Schrei aus.
Tulum
Er erstarrte. Es war etwas geschehen. Ein Ruck war durch seinen Körper gegangen, als hätte man ihn mit einem Stein am Kopf getroffen. Plötzlich hatte er keine Angst mehr, plötzlich war da ein merkwürdiges Gefühl in ihm, das ihm sagte: Tulum, geh hinaus, geh hinaus! Und er ging. Nein, er rannte. Er riß den Vorhang zu Boden und stürmte mit schweren Schritten aus der Höhle, so daß die Erde unter seinen Füßen bebte. Das Mädchen, wo war das Mädchen? Ein Angstschauer überfiel Tulum und er wagte nicht einmal, seinen Gedanken zu Ende zu denken. Schon war er an der Kante des Felsens und schon sah er das Mädchen in zwanzig Meter Tiefe auf dem Boden liegen. Ach, das ist ja noch mal gut gegangen, seufzte der Riese, das ist ja gar nicht so tief. Doch er hatte vergessen, daß er ja in anderen Dimensionen dachte, und daß zwanzig Meter für ein Mädchen der kleinen Menschen verdammt viel waren.
Tulum und Giran
Tulum brauchte nur einen Schritt zu machen, um das Plateau zu erreichen. Vorsichtig ging er in die Hocke. Es war seltsam, er hatte überhaupt keine Angst mehr. Er dachte nicht einmal mehr an die kleinen Menschen und ihre Waffen, er sah nur noch das Mädchen vor sich liegen. Vorsichtig beugte er sich weiter zu dem Kind hinab. Er konnte nicht feststellen, ob es noch lebte, deshalb stubste er es einfach mit der Fingerspitze an. Und siehe da, das Mädchen bewegte sich. Sie hatte eine kleine Beule am Kopf, doch sonst schien sie unversehrt. Es schien wirklich so, als sei sie geflogen. Sie reckte und streckte sich und dann öffnete sie ihre Augen......"Aaaaaaaaahhhh!"
Giran sprang auf und wollte wegrennen, doch das Plateau war zu klein, und nun kauerte sie sich mit aller Kraft gegen die kalte Felswand in ihrem Rücken. Ihre Haare waren wirr und ihre Augen verrieten, daß sie große Angst hatte.
"Tu mir nichts, verschwinde, hau ab, husch, husch!" Giran zitterte wie Espenlaub, doch der große Riese verschwand nicht. Er beugte sich dafür aber noch weiter zu Giran hinunter, um sie ganz genau zu betrachten. Seine großen Augen musterten das Kind aufmerksam und es schien so, als würden die Augen sogar lächeln. Genau konnte man das aber nicht sagen, denn das Gesicht des Riesen war zu behaart, um ein Lächeln darin wiederzufinden. So langsam beruhigte sich Giran und nach einigen Sekunden hörte sie sogar auf zu weinen. Sie sah nun vielmehr neugierig ins Gesicht des Riesen und in ihren Augen lag ein Schatten von Verwunderung und Erstaunen. Und so saßen sie sich also zum ersten Mal gegenüber und betrachteten sich, wie zwei Verwandte, die sich noch nie zu zuvor gesehen hatten. Beide spürten plötzlich, daß sie vor dem anderen keine Angst zu haben brauchten und daß sie dem anderen vertrauen konnten. Sie saßen lange in dieser Stellung und während dieser Zeit sprachen sie kein Wort. Das hätte sowieso nichts gebracht, denn keiner sprach die Sprache des anderen. Und doch verständigten sie sich. Giran schien förmlich in die Augen des Riesen hineinzukriechen. Alles, was sie in den großen, braunen Augen des Fremden sah, war Ehrlichkeit und Zuneigung.
"Es gibt sie also doch. Und ich dachte, die Riesen wären bloß eine Erfindung von den Eltern, die Kinder ins Bett bringen wollten." Alles, was Giran in ihrem Leben von Riesen gehört hatte, waren Schauergeschichten und Märchen gewesen. In diesen Erzählungen waren die Riesen böse und gemein und immer waren sie die Feinde der kleinen Menschen. Dieser Riese war bestimmt nicht ihr Feind, das wußte sie ganz sicher.
Tulum hatte fast die gleichen Gedanken. Auch er hatte sich immer vor den kleinen Menschen gefürchtet, doch nun war alles anders. Da saß er nun vor einem kleinen Mädchen und alles, was er empfand war Freude und Zuneigung. Giran war das erste menschliche Wesen, das er seit dem Tod seiner Eltern zu Gesicht bekommen hatte und sie wirkte überhaupt nicht gefährlich und bedrohlich. Sie saßen lange dort auf dem Plateau, und als die Sonne langsam hinter den Wäldern verschwand, waren sie Freunde geworden. Es war eine ganz besondere Freundschaft. Eine Freundschaft ohne Worte.
Tulum spürte, daß das Mädchen Sorgen und Kummer hatte, er sah es in ihrem Herzen, das offen war wie ein Bilderbuch mit vielen eindeutigen Abbildungen. Er spürte, daß Giran gerne bei ihm war, doch er wußte auch, daß sie dorthin zurück mußte, wo sie hergekommen war. Bestimmt hatte sie Eltern, die sich große Sorgen um das Kind machten und bestimmt würden sie es suchen und vielleicht würden sie dann sogar seinen Berg und ihn finden. Und vielleicht würde diese Geschichte dann nicht so gut ausgehen, wie sie begonnen hatte. Deshalb faßte Tulum schweren Herzens den Entschluß, das Mädchen, dessen Namen er nicht einmal wußte, dessen Freundschaft er sich aber sicher war, zurück nach Hause zu bringen. Als es schon ganz dunkel geworden war, fielen Giran die Augen zu. Die Anstrengung der letzten zwei Tage waren einfach zuviel für sie gewesen. Tulum nahm das kleine Mädchen behutsam auf und verbarg es in seiner hohlen Hand. Dann machte er sich auf den Weg. Nach wenigen Augenblicken hatte er den Fuß des Berges erreicht und nun sollte er zum ersten Mal in seinem Leben seinen Berg verlassen, um zu den Häusern der kleinen Menschen zu gehen.
Er roch die kleinen Menschen. Jetzt, wo er das Mädchen in seiner Hand hielt, wußte er den Geruch der Menschen einzuordnen, und seine Nase wies ihm den Weg. Vorsichtig suchte er sich einen Weg durch die Wälder, doch so vorsichtig er auch war, kam er dennoch nicht drum herum, einige Fußspuren und einige umgeknickte Bäume zu hinterlassen. Er war halt ein Riese im Land der kleinen Menschen.
Giran
Sie öffnete die Augen und die Gesichter ihrer Eltern lächelten sie glücklich an.
"Mein Gott, sie ist wach. Mensch, Vater, sieh doch, sie ist wach." Die Mutter hatte Tränen der Rührung in den Augen.
"Oh Giran, wo bist du nur gewesen, wir haben dich überall gesucht. Einige Nachbarn sind immer noch in den Wäldern, um dich zu finden. Wir dachten schon.." Der Vater stockte und dann nahm er seine Tochter mit feuchten Augen in seine Arme.
Tulum
Er hatte die Höfe der kleinen Menschen gefunden und Giran vor eine Haustür gelegt. Dann hatte er sie mit einer Decke zugedeckt. Zum Abschied strich er ihr noch einmal mit seinem gewaltigen Zeigefinger durchs Haar. Dann stand er auf. Langsam drehte er sich um und ging schweren Herzens auf die Wälder zu. Er wußte, daß er eine Freundin zurücklassen würde. Er wußte, daß dieses Mädchen das einzige Wesen war, das er liebte und er wußte auch, daß ihn dort in den Wäldern und auf seinem Berg niemand liebte. Der Schmerz war so groß und stark, daß er am liebsten umgekehrt wäre, um das Mädchen wieder mitzunehmen, doch er wußte auch, daß wirkliche Liebe manchmal schmerzhafte Dinge von den Liebenden verlangte. Er war so einsam wie nie zuvor in seinem Leben und auch der Nachtwald mit seinen Gerüchen, seiner Stille und seinen geheimnisvollen Nebelschwaden war nicht in der Lage, seine Stimmung aufzubessern.
Nacht und Stille,
der einzige Wille
besiegt und gebrochen.
Nacht und Stille,
der Nebel kommt,
er hat das Geheimnis
gerochen.
Nacht und Stille,
der Befehl war der Wille,
nicht auf ihn gehört.
Macht und Wille,
der Befehl kam aus der Stille,
die Liebe aus dem Nebel,
doch sie ist nun zerstört.
Giran
Sie schlief zwei Tage und zwei Nächte. Sie träumte von lachenden Riesen, die mit den kleinen Menschen um große Feuer herum tanzten und sich einfach nur freuten, daß sie lebten. Sie träumte von lachenden Riesenaugen, in die man hineinschlüpfen konnte, wenn einem das normale Leben zu anstrengend war. Augen, die einem Zuflucht und Schutz gewährten, Augen, die die Liebe versprachen und sie auch einhielten.
Irgend etwas weckte sie am dritten Tag. Sie wußte nicht, was es war, doch es mußte etwas Besonderes sein, denn etwas Unbesonderes wäre nicht in der Lage gewesen, in ihren glücklichen Schlaf vorzudringen. Und als sie die Augen öffnete und aus ihrem Fenster hinaussah, wußte sie, daß es etwas schrecklich Besonderes war. Im Hof waren viele kleine Menschen versammelt und alle riefen wie wild durcheinander. Sie zog sich an und ging nach unten, wo sie auf ihren Vater traf, der gerade dabei war, seinen alten Vorderlader zu reinigen.
"Was ist geschehen, Vater? Was ist los?" Giran wußte natürlich, was passiert war, doch sie wollte lieber an lachende Riesen denken als an weinende.
"Der Nachbar, der dich im Wald gesucht hat, ist gestern nacht zurückgekommen und er wußte Schreckliches zu berichten. Er ist im Wald auf eine Fährte gestoßen, die sehr merkwürdig aussah. Zuerst dachte er, es handle sich um einen großen Bären oder so etwas in der Richtung. Doch als wir uns die Spuren heute gemeinsam angesehen haben, kamen wir alle zu dem Schluß, daß es sich um etwas anderes handeln muß. Es ist viel größer und schwerer und es hat sogar Bäume umgeworfen. Und das schlimme an der ganzen Sache ist, daß wir sogar leichte Abdrücke auf unserem Hof gefunden haben. Wir haben sie zwar auch schon zuvor gesehen, dachten uns aber nichts dabei, weil sie nicht ganz so ausgeprägt sind. Und jetzt vermuten einige, daß es sich um einen Riesen handeln könnte. Vor dreißig Jahren, als ich ein Kind war, waren schon einmal Riesen in unserer Gegend. Es hat der Legende nach einen blutigen Kampf zwischen den Riesen und uns gegeben. Damals haben zwanzig Männer über dreißig Riesen getötet. Alle dachten damals, daß die restlichen Riesen geflüchtet seien. Nun ja, das ist ja wohl nun nicht mehr so. Also, mein Kind, ich muß los, paß gut auf deine Mutter auf, ich bin in einigen Tagen zurück." Er küßte sie und ging nach draußen, wo die anderen Männer schon auf den Pferdewagen saßen. Alle waren bewaffnet; einige trugen Gewehre, andere Äxte und Messer. Auf einem der Wagen konnte Giran eine Kiste Dynamit erkennen.
Die Männer waren wie von Sinnen. Sie brüllten "Tod den Riesen" oder "Nieder mit ihnen" oder "Der Sieg ist unser". Giran konnte nichts machen. Sie wollte etwas sagen, etwas unternehmen, doch sie brachte kein Wort heraus. Und dann sah sie die Planwagen auch schon in Richtung Wald fahren.
Giran waren die Tränen in die Augen getreten und als sie ihre Mutter hinter sich spürte, schlang sie ihre Arme um sie herum und weinte bitterlich. "Schon gut, schon gut. Sie werden deinen Freund nicht erwischen."
Giran sah nach oben und sah zwei Augen, die so voller Liebe waren, daß man in sie hätte hineinkriechen können. Groß genug waren sie.
Tulum
Er war wieder allein. Seine Höhle kam ihm leerer vor als jemals zuvor. Er dachte ständig an Giran, sie verfolgte ihn sogar bis in seine Träume. Dort tanzte er mit ihr an einem Feuer. Aber sie waren nicht allein. Um sie herum tanzten hunderte von Riesen und alle hatten kleine, lachende Menschen auf den Schultern oder in den Haaren sitzen. Aber ihm waren sie alle egal. Für ihn zählte nur Giran. Sie wirkte so klein und unschuldig und doch tausendmal größer als er selbst. Sie tanzten über die ganze Erde und das All erzitterte vor ihrem Lachen. Doch es gab immer etwas, das ihn aufweckte, das ihn in das wirkliche Leben zurückzog. Er hätte alles für ein Leben in den Träumen gegeben und der Nebel legte sich wie eine tödliche Schlinge um seinen Hals.
Giran
Die Mutter wußte alles. Irgendwie wissen Mütter immer alles. Sie hatte in der Nacht nicht schlafen können. Die Sorge um ihre Tochter war größer als ihre Müdigkeit. Plötzlich war sie auf ein Dröhnen aufmerksam geworden und dann sah sie auch schon diesen Riesen aus dem Wald treten. Etwas in ihr sagte: "Nein, fürchte dich nicht und wecke ja deinen Mann nicht!!"
Und so hatte sie den Riesen beobachtet. Sie sah, wie er näher kam und wie er ihre Tochter auf den Boden legte. Und dann sah sie seine großen Augen, als er sich von Giran verabschiedete. Sie sah seine Tränen, als er ihr durchs Haar fuhr und sie spürte, wie ihr ein Kloß in den Hals stieg, als er sich umdrehte und davonging. Sie hatte ihrem Mann nichts gesagt und nun saßen sie zu zweit auf einem Pferd, das sie durch den frischen Wald trug. Sie hatten das Baby bei Nachbarn abgegeben und ritten nun parallel zu dem Weg, den die Krieger gerade benutzten. Sie hatten diese vor wenigen Minuten überholt und dennoch holten sie das letzte aus dem Tier heraus. Doch das hätten sie gar nicht tun müssen, denn das Pferd wußte, worum es ging. Es ist einfach so, daß das bloße Gefühl von Ehrlichkeit und Vertrauen auf alle Lebewesen dieser Welt wirkt. Das Problem ist nur, daß es bei den Menschen in den verschiedensten Formen wirkt. Ein Glück, daß das Pferd kein Mensch war.
Gegen Mittag erreichten sie eine große Blumenwiese. Der Anblick ließ sie für wenige Augenblicke vergessen, warum sie unterwegs waren. Sie tränkten das Pferd an einem Bach und kühlten ihre Hände und Gesichter. Es war still. Der Wind sang ein trauriges Lied und berührte die Haut der Menschen. Die Wiese war von Wald umgeben, von einem Berg war nichts zu sehen. Weit und breit kein Berg. Giran und ihre Mutter wollten gerade wieder auf ihr Pferd steigen, als sich das Gesicht des Mädchens aufhellte. "Da Mutter, sieh!"
Die Frau traute ihren Augen nicht, als sie direkt vor sich den riesigen Berg emporwachsen sah. Er schien einfach so aus dem Boden zu kommen. Und plötzlich stand er so, als hätte er immer dort gestanden.
"Wie, und da müssen wir jetzt rauf?" die Erschöpfung war Girans Mutter deutlich anzusehen. "Nein, bestimmt nicht" sagte Giran, "bestimmt nicht". Und da war es plötzlich, das Donnern und Beben.
Tulum
Er schlief, doch wieder war es etwas Besonderes, das ihn weckte. Er stand auf und verließ seine Höhle. Er sah nicht zurück. Er hatte so lange hier gelebt, daß seine Erinnerung jeden Stein und jeden Zentimeter des Berges kannte. Er sah nicht zurück, er sah nach vorne und sein Herz lachte und tanzte.
Giran und Tulum
Das Beben wurde stärker und plötzlich sahen sie ihn. Er stand einfach nur dort und schaute. Seine großen, braunen Augen schienen Giran, ihre Mutter und das Pferd zu streicheln. Langsam kam er näher. Dann ging er in die Hocke und sah den Menschen direkt in die Augen. Und alle spürten es. Es durchzuckte sie wie ein Blitz. Giran trat auf Tulum zu und dieser streckte seine Hand aus, um das Mädchen aufzuheben. Nun saß Giran auf dem Zeigefinger des Riesen und sah wieder in große Augen. In der Ferne waren die Pferdewagen zu hören, sie würden in wenigen Augenblicken aus dem Wald herauskommen.
Die, die auszogen, um zu töten
Sie sahen den Berg und die Fußspuren. Sie sicherten ihre Gewehre, sie waren aufgeregt und guter Dinge. "Scheiß Riesen, wir zeigen euch, wem dieses Land gehört und wer es regiert." Sie gaben ihren Pferden die Peitsche und schauten ziemlich merkwürdig in die Runde, als diese plötzlich stehenblieben und sich nicht mehr dazu bewegen ließen, die Kriegswagen weiterzuziehen. Und wer immer noch behauptet, Pferde könnten nicht lächeln, der hätte sich mal die Gesichter der Tiere genau ansehen sollen.
Giran und Tulum,
Tulum und Giran
Sie sprachen und redeten und alles ohne Worte. Sie hatten alle Zeit der Welt und sie sahen sich die ganze Zeit in die Augen. Augen zum Verlieren, zum Hineinkriechen, zum Leben. Sie tauschten alles aus, was sie hatten und was sie nicht austauschten, hatten sie niemals besessen. Giran sah plötzlich alles mit Tulums Augen. Sie sah den Berg, seine Eltern und die explodierenden Stangen. Sie durchlitt den Tod und sie genoß die Liebe des Augenblickes. Tulum fühlte wie sie und plötzlich war er so klein wie Giran. Und Giran wuchs und wuchs und plötzlich war sie so groß wie Tulum. Sie standen sich gegenüber und hielten sich bei den Händen. Sie verschmolzen zu einer Einheit und waren im nächsten Augenblick wieder zu zweit. Zusammen saßen sie auf den höchsten Bäumen und sie sahen auf das tanzende Segelschiff hinunter. Zusammen lagen sie auf dem Waldboden, um die köstliche, feuchte Erde in sich hineinzuziehen. Zusammen vergaßen sie alle Zeit der Welt und zusammen waren sie glücklich.
Dann verschwand der Berg ganz plötzlich vor ihrer aller Augen und schrumpfte zu einem kleinen Stein zusammen. Tulum bückte sich und hob ihn auf. Noch einmal sahen sie sich in die Augen, noch einmal verschwanden sie für einen Moment in ihre Welt, noch einmal waren sie glücklich vereint und noch einmal waren sie sie.
Als die kleinen Menschenmänner mit ihren Gewehren aus dem Wald herausstürmten, war Tulum schon lange verschwunden und Krieger wurden zu Menschen. Denn wo keine Feinde aufeinander treffen, gibt es auch keinen Kampf.
Giran und Tulum haben sich nie wiedergesehen. Und doch waren sie immer zusammen. Und wer das nicht versteht, der sollte mal versuchen, in die Augen eines anderen zu kriechen, um dessen Leben mit seinen Augen zu leben. Und wer das Glück hat, so etwas irgendwo auf der Welt einmal zu schaffen, der wird auch in jedem Steinchen einen Berg sehen.
ENDE
(Artsneurosia, Swen Artmann, 1995)