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Glöckchen
Ich sitze am Esstisch. Es riecht nach Staubzucker und Vanille. Wie jedes Jahr backt sie die ersten Kekse Ende September. „Im Dezember haben die Leute meistens schon genug davon“, sagt sie, wenn jemand danach fragt.
Mein Lächeln verblasst. Multiples Organversagen, denke ich. Ich kann sie nicht ansehen. Heute Nacht habe ich geträumt, dass Oma wirklich gestorben ist. Es war ein langer Traum, der sich über Wochen hinweggezogen hat. Vor mir das Bild, wie wir auf den Sarg hinuntersehen. Die ganze Familie ist da, nach und nach schütten sie Erde in das Grab. Oma ist nicht wieder aufgewacht.
Ich schüttle den Gedanken ab und ermahne mich, die Zeit zu genießen. „Wie gehts Inge?“, frage ich beiläufig. „Wollen wir rüber gehen?“
„Das ist eine gute Idee!“ Oma strahlt. „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“ Als Oma aufsteht, fällt mir auf, dass sie viel trittfester ist, seit sie aus dem Krankenhaus zurück ist. Sie tastet sich durch die Küche und erst, als sie keinen Halt mehr findet und mit zittrigen Händen nach mir greift, eile ich zu ihr. Sie hakt sich bei mir ein und blickt sich um. „Wo ist mein Rollator?“
Irgendwo in meinem Unterbewusstsein meldet sich eine Stimme: Onkel hat Rollstuhl und Rollator hergeschenkt. Er denkt sicher noch immer, dass Oma tot ist. Ich schüttle den Kopf, als mir klar wird, wie irrational der Gedanke ist. Natürlich hat ihm Papa schon gesagt, dass Oma lebt. Wobei Onkel auch lange im Ausland war ...
Während ich mit Oma nach draußen gehe, ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche und wähle seine Nummer. Omas Finger fühlen sich warm an. Natürlich lebt sie, denke ich. Wir sprechen nur nicht darüber, weil es traumatisch war. Immerhin haben wir sie beerdigt.
„Leute kommen nicht einfach so zurück“, hat Helga gesagt, die alte Babysitterin meines Vaters. Mir kommt es vor, als würde sie vor mir stehen. Die Gegenwart verschwimmt. Erinnerungen formen sich. Sie kommen mir ganz neu vor, aber das ist dumm, Erinnerungen entstehen doch nicht einfach so in dem Moment, indem man sich an sie erinnert. Sicher habe ich nur vergessen, dass sie bei Oma wohnt. Als die Beerdigung war, hat sie es nicht geschafft von England nach Österreich zu fliegen - daran erinnere ich mich noch. Danach hat sie den Flug gebucht, um der Familie Trost zu spenden und darum ist sie jetzt da und darum konnte ich sie auch im Gästezimmer besuchen. Aber das habe ich nur einmal gemacht.
„Leute kommen nicht einfach so zurück, wie stellst du dir das vor?“, hat sie gesagt. „Ihr habt deine Oma beerdigt, sie war drei Tage in der Erde und davor war ihr Zustand schon kritisch. Wie kommst du darauf, dass sie das überleben könnte?“
„Ich war nicht dabei“, habe ich gesagt, ohne ihr in die Augen zu sehen.
„Juli.“ Helga hat mich an den Schultern gepackt. „Es war im Juli, nicht wahr? Jetzt ist es Ende September. Wie lange war deine Oma tot?“
„Lass mich los!“, habe ich geschrien und dann hab ich Helgas Hände von meinen Schultern gewischt und bin aufgestanden. „Frag doch Papa, wenn du’s genau wissen willst! Er war dabei und er hat sich um alles gekümmert. Ich hab doch keine Ahnung, ich bin einfach nur froh!“
„Wie haben sie entdeckt, dass sie noch lebt?“
Helga wollte nicht aufhören, diese unbequemen Fragen zu stellen, also bin ich zur Tür gelaufen, aber einen Moment habe ich im Rahmen ausgeharrt. „Da gibt’s doch diese Glöckchen ...“, habe ich gemurmelt. „Die kann man läuten, wenn man lebendig begraben wird.“ Danach bin ich aus dem Zimmer gerannt, weil ich Angst vor ihrer Antwort hatte. Ich wollte Oma nicht mit anderen Augen sehen, sondern einfach froh sein, dass sie da ist.
Vor der Garage bleiben Oma und ich stehen. Sie dreht sich um und lächelt. „Das Auto hab ich schon lange nicht mehr gesehen.“ Ich folge ihrem Blick, entdecke den alten, silbernen Golf. Der ist doch schon vor Jahren eingegangen, denke ich.
„In der Garage steht auch kein Rollator mehr?“, fragt Oma.
Ich blicke auf mein Handy. Es liegt noch immer in meiner Hand. Stimmt ja, denke ich, als ich den Namen meines Onkels auf dem Display sehe. Ich wollte ihn anrufen und nach dem Rollator fragen, aber aus irgendeinem Grund kann ich nicht sicher sagen, ob ich schon gewählt habe oder nicht. Als ich ihn anrufen will, kommt mein Vater durch die Einfahrt. Vor sich schiebt er einen Rollator her und neben ihm geht eine meiner Kindheitsfreundinnen, die ich schon seit Jahren nicht gesehen habe.
„Woher wusstest du...?“, fange ich an, doch mein Vater lächelt verschmitzt und schiebt den Rollator so vor Oma, dass sie sich leicht daran festhalten kann.
„Na, da wunderst du dich, was? Ich weiß eben alles“, sagt er und zwinkert, bevor er Oma ansieht. „Bist du auf dem Weg zur Frau Nachbarin?“
Oma lacht und kneift ihm in die Wange. „Nachdem ich so lange keinen Piccolo mehr getrunken habe und jetzt darf ich ja wieder.“
„Aber nicht zu viel“, mahnt mein Vater halbernst, bevor er Oma einen dicken Kuss auf die Stirn drückt und mir seine Hand über die Schulter legt. „Gehen wir ein Stück?“
Ich nicke. Irgendetwas irritiert mich. Ich lasse mich von meinem Vater mitziehen, sehe noch einmal zurück zu Oma, wie sie über die Straße zu Inge geht, die von ihrer Terrasse aus fröhlich winkt. Mir kommt es so vor, als wäre da noch etwas gewesen, aber das Bild will sich nicht zusammenfügen und darum lasse ich mich widerstandslos von Papa mitziehen.
Gemeinsam gehen wir ums Haus und als wir die Ecke erreichen, erwarte ich, die alte Weinpresse zu sehen, aber stattdessen steht dort ein Wachturm. „Was ist ...“
„Den hat dein Opa gebaut, bevor er ins Altersheim kam“, sagt Papa und er kneift die Augen zusammen. „Erinnerst du dich nicht mehr?“
„Doch natürlich“, murmle ich, dabei habe ich keine Ahnung, wovon er spricht.
„Pass auf beim Raufsteigen, der Turm ist alt.“
Gemeinsam steigen wir die morschen Holzbretter hinauf. Ich halte mich am Geländer fest und blicke nach unten. Mir wird schwindlig, als mir auffällt, wie hoch wir schon sind. „Wie...“
„Ja, dein Opa wusste halt, wie man Türme baut“, sagt Papa und lacht. „Man merkt gar nicht, wie weit man raufsteigt, erst wenn man oben ist, kommt der Schwindel.“
„Sag Papa...“, fange ich an. Ich halte mich vom Geländer fern, mir kommt vor, dass der Turm hin und her schwankt. Ich bin mir fast sicher, dass er jeden Moment einbrechen wird. Mein Vater scheint das nicht zu bemerken, er steht nur lächelnd vor mir.
„Du bist so blass, alles gut?“
Ich schüttle den Kopf. „Ich weiß nicht“, sage ich und setze mich auf einen Stuhl. Nur am Rande fällt mir die schöne Sitzgarnitur auf, der polierte Glastisch, die flecklosen Sitzpolster, die aussehen, als wären sie gerade erst frisch gewaschen worden. „Sag Papa, wie lange war Oma begraben?“
„Drei Tage“, sagt er und sein Blick verändert sich. Sein Grinsen ist nicht länger amüsiert, eher mitleidig, so als hätte ich ihm einen schlechten Witz erzählt.
„Und wie lange dachten die Ärzte davor schon, dass sie tot ist?“
„Wieso fragst du das alles?“
„Naja...“, ich wage kaum, es auszusprechen. Der Turm wackelt, die morschen Holzbretter brechen nach und nach aus dem Boden und fallen in die Tiefe. „Papa... Oma war doch schon eine Woche tot, bevor wir sie beerdigt haben, oder nicht?“
Papa lächelt. Die Bretter unter seinen Füßen verschwinden. Ich spüre die Tränen über meine Wangen laufen, aber ich empfinde nichts, als sie auf meine gefalteten Hände tropfen. Der Glastisch ist nicht poliert. Die Sitzkissen sind nicht gewaschen, sondern verstaubt und alt. Oma backt keine Kekse in der Küche. Die Nachbarin sitzt alleine auf ihrer Terrasse und trinkt einen Piccolo zum Andenken.
„Du weißt ja ...“, sagt Papa. „... die geben den Verstorbenen ein Glöckchen mit, damit sie läuten können.“
„Ja“, flüstere ich. „Gut, dass Oma ein Glöckchen hatte.“