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Glückskind

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24.05.2008
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Glückskind

Die Stadt sommert vor sich hin. Die Hitze ist allgegenwärtig. Sie kauert hinterlistig in den U-Bahn-Stationen. Sie wälzt sich träge über Straßen, Hinterhöfe und Plätze, bis der Asphalt Blasen zu schlagen droht. Eisern kontrolliert sie die Schwimmbäder und Badeseen.
Die Sonne steht immer noch hoch, als er aus dem Schatten des Bürogebäudes tritt und im Zickzack zwischen behäbig fahrenden Autos die Straße überquert. Der Platz mit dem Reiterdenkmal scheint in der Hitze zu glühen, und aus der Entfernung sieht es so aus, als hätte sich in dem Straßencafe beim Dom eine dicht aneinander gedrängte Menschengemeinde versammelt, um einem unberechenbaren Sonnengott Opfer darzubringen. Da sitzen sie, verschütten Endorphine und riskieren Hautkrebs. Schwänzen das Leben. Verwechseln ihre Latte macchiato mit einer Weltanschauung. Warten auf das Glück. Oder auf etwas, das zumindest ansatzweise damit Ähnlichkeit hat. Allein, zu zweit, in quecksilbrig plaudernden Grüppchen. Und mitten unter ihnen sitzt Hanna und wartet auf ihn.
Er bleibt kurz stehen, als er sie im Kreis der Sonnenjünger erkennt. Sie trägt eines ihrer luftig weißen Sommerkleider und diese monströse schwarze Sonnenbrille, von der sie immer behauptet, dass sie damit aussieht wie Audrey Hepburn in "Frühstück bei Tiffany". Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn. Er aber ist heute nicht hier, um ihr das zu sagen. Sie sitzt völlig entspannt da, die langen braunen Haare nachlässig hochgesteckt und die feingliedrigen, schmalen Hände hinter dem Nacken verschränkt, als hätte sie gerade einen ihrer Yoga-Workshops hinter und eine nicht näher bestimmbare Masse Zeit vor sich. Auf dem runden Bistrotischchen steht ein halbvolles Glas, wahrscheinlich Prosecco, das würde ihn nicht weiter wundern, und noch wahrscheinlicher ist es nicht das erste, denn er hat sich verspätet.
Kein Zweifel, dass sie ihn längst wahrgenommen hat, aber zu erkennen gibt sie es erst, als er nur noch wenige Schritte von ihrem Platz entfernt ist. Völlig unnötig, jetzt noch dermaßen theatralisch zu winken, mit diesem wie aus Hollywood ausgeborgten Lachen.
"Schön, dass du Zeit hast!", sagt sie. Sie tauschen halbherzige Wangenküsse. Er riecht ein neues Parfüm, es könnte etwas mit Lavendel sein, aber sicher ist er sich nicht.
"Schon in Ordnung."
"Nein, wirklich, ich weiß es zu schätzen. Es macht mich glücklich. Wirklich."
"Ich sage doch, es ist in Ordnung." Bei einem Kellner mit widerlich öligen Haaren bestellt er eine Flasche Pellegrino und lockert seinen Krawattenknoten.
"Also wirklich, alkoholfreier Champagner!" lacht Hanna. "Glaubst du nicht, wir könnten ausgerechnet heute mit etwas Unsoliderem anstoßen? Wodka-Orange? Oder hattest du heute schon Vitamine?"
"Ich habe in einer Stunde noch einen Termin. Und überhaupt, für Alkohol ist es für mich noch zu früh."
"Pass nur auf, dass es nicht irgendwann zu spät für dich ist."
"Danke für den Ratschlag."
"Bitte. Er war kostenlos."
Er schweigt und bedauert es, dass er gerade jetzt reflexartig auf seine Armbanduhr schaut. Er mustert eine junge Mutter am Nebentisch, eine rastaverzottelte Blondine mit gepiercten Nasenlöchern, die einen peinlichen Beweis elterlicher Ohnmacht abliefert. Ihr vielleicht dreijähriger Sohn hat vor den Resten einer Riesenportion Eis kapituliert und schickt sich an, es für zweckentfremdete Aktionen zu verwenden. Dazu hat er seinen Zeigefinger bereits in eine zerlaufene Schoko-Kugel getaucht und versieht sein Gesicht mit Kriegsbemalung.
"Das ist kein gutes Gespräch bis jetzt."
"Nein", gibt er zu.
"Schade."
Er sagt nichts. Die junge Mutter schüttelt wild Kopf und Haare, nachdem der Junge seine Malbemühungen auf sein T-Shirt ausgeweitet hat. Sie lacht dabei auf eine Besorgnis erregende Weise hysterisch, so dass man ihr den schnellsten Weg zum Therapeuten empfehlen sollte. Oder zu einer anderen Beratungsstelle, wo man ihr beibringt, mit kleinen Anarchisten wie ihrem Sohn fertig zu werden.
"Kannst du nicht aufstehen, wieder an meinen Tisch kommen und wir fangen einfach noch mal von vorne an? Klappe, die zweite Aufnahme! Wie beim Film, weißt du?"
"Das ist nicht dein Ernst."
Hanna nimmt ihre Sonnenbrille ab und legt sie neben das Proseccoglas. "Doch."
"Wie bitte?"
"Nein, Unsinn, vergiss es, es war ein Scherz!"
Der bis zur Entstellung gegelte Kellner kommt und bringt das Mineralwasser. Er trinkt das erste Glas in einem Zug leer und schenkt sofort nach. Sieht kurz den aufsteigenden Luftbläschen auf ihrem endlichen Weg zur Oberfläche zu, wo sie sinnlos zerplatzen.
"Du fliegst also übermorgen? Definitiv?"
"Ja, am Vormittag. Definitiv." Sie spricht das Wort so aus, als wolle sie es in Watte packen. "Dann bin ich kurz nach 14 Uhr Ortszeit in New York. Howard holt mich am Airport ab. Er will mir auf alle Fälle gleich die neue Wohnung zeigen. Ein absoluter Glücksfall im Village, sagt Howard."
Airport...Village...Howard...Ein Bermuda-Dreieck an Vokabeln, lauter Un-Wörter, die er mit dem zweiten Glas Wasser hinunter zu spülen versucht. "Und...".
Er bricht ab, weil der Junge am Nachbartisch mit der flachen Hand in seinen Eisbecher klatscht und damit die unmittelbare Umgebung segnet. Seine Mutter fixiert lachend die verschmierte Hand und zerrt Papiertaschentücher aus ihrer Tragetasche. Er atmet tief ein. Kontrolliert, ob Hemd und Krawatte Spritzer abbekommen haben. Legt Wert darauf, dass die junge Frau seine Untersuchung registriert.
"Und was?", will Hanna wissen.
"Und du hast nicht die geringsten Bedenken? Keine Angst?"
"Für die Bedenken bist du zuständig, mein Lieber!" Sie zwinkert ihm zu. "Und wovor sollte ich Angst haben?"
"Einfach so in ein neues Leben zu springen."
"Nur wenn ich springe, weiß ich, ob mir Flügel wachsen."
Er massiert mit Daumen und Zeigefinger nachdrücklich seine Nasenwurzel. "Das sind exakt die Lebensweisheiten, die ich heute nicht brauche. Die kannst du in dein Sofakissen für die neue Wohnung sticken, mehr aber auch nicht."
"Ich kann nicht sticken." Sie beugt sich zu ihm und legt ihm sanft ihre linke Hand auf die Schulter. "Aber springen, das kann ich."
Er schüttelt den Kopf, als wolle er ein lästiges Insekt verjagen. Hanna nimmt ihre Hand von seiner Schulter und nippt an ihrem Prosecco. "Mir passiert schon nichts. Du weißt doch: Ich bin ein Glückskind!"
"Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen."
"Du bist nicht an meiner Stelle. Und du wirst nie an meiner Stelle sein. Du bist kein Glückskind. Auch wenn es dir der Wirtschaftsteil deiner Zeitungen manchmal einreden mag."
Um der Gefahr zu entgehen, weitere Kalenderweisheiten in Kauf nehmen zu müssen, trinkt er rasch sein Mineralwasser aus und sagt: "Ich betrachte bereits die Abwesenheit von Unglück als Glücksfall."
"Du glaubst, dass ich einen Fehler mache, nicht wahr?"
"Es interessiert mich nicht, ob du einen Fehler machst oder nicht. Nicht mehr."
"Das nehme ich dir nicht ab."
"Irgendwann habe ich einfach aufgehört, mir über dein Leben ernsthafte Gedanken zu machen. Mein eigenes ist anstrengend genug."
"Mein Leben ist nicht anstrengend." In diesem Satz klingt nicht der Hauch von Trotz mit, nicht die geringste Lust am Widerspruch. Sie sagt ihn einfach nur so, als ob sie ihm vorrechnet, dass zwei mal zwei vier ergibt.
Am Nachbartisch droht die Situation zu eskalieren. Der kleine Junge will die zerlaufene Schokoladeneis-Sauce austrinken, verfehlt sein Ziel um einige Zentimeter, kreischt die Lust über sein Versagen lustvoll in die Umgebung. Seine Mutter lässt sich von so viel ungebändigtem Missgeschick infizieren, stößt ihren eigenen Eisbecher mit dem Ellenbogen vom Tisch. Der Keller registriert den Scherbenhaufen mit einem keimfreien Lächeln und unternimmt erst einmal gar nichts.
"Glaubst du, dass ich einen Fehler begehe?", fragt Hanna ihn schon wieder. "Schau mal, ich will mich heute auf nette Weise von dir verabschieden. Wer kann sagen, wann wir uns wiedersehen? Ich bin da ganz realistisch."
"Wenn du es unbedingt von mir hören willst: Ich weiß, dass du einen Fehler machst."
"Du willst es wissen. Das ist ein Unterschied."
"Ich weiß es."
"Was macht dich so sicher?"
Er kneift die Augen zusammen und nimmt sich Zeit für den inneren Anlauf, den er braucht. "Du bist vor zwei Monaten achtundsechzig Jahre alt geworden. Da verkauft man nicht einfach sein Haus und zieht zu einem Bildhauer nach New York, den man gerade mal ein paar Wochen gesehen hat. Im Urlaub... - Mit achtundsechzig hat man ein Leben, das man nicht im Handumdrehen über Bord kippt. Nur weil man sich für ein Glückskind hält."
"Was macht man denn dann mit achtundsechzig? Darauf warten, dass sich der eigene Sohn ab und zu nach Hause verirrt? Darauf achten, dass man die letzte Etappe einigermaßen unspektakulär verwaltet? Läuft es darauf hinaus?" Hanna leert langsam ihr Glas und es scheint so, als ob sie dabei ganz nach innen gewendet den letzten Proseccotropfen nachlauscht. "Im Grunde ist es ganz schön traurig, dass ich dir von meiner Lust auf Leben rein gar nichts mitgegeben habe. Ich kann dir versichern, dass das nicht meine Absicht war. Und im Grunde bist du selbst ganz schön traurig. Aber ich erkenne an, dass du dich zu mir gesetzt hast, um vom täglichen Geldverdienen kurz zu verschnaufen. Wenn du es jetzt noch schaffst, mit deiner Mutter zum Abschied ein Glas Prosecco zu trinken und dich nicht über kleine Kinder aufzuregen, werde ich dich in meiner Erinnerung eine Spur menschlicher mit nach New York nehmen."
Er kann nichts erwidern. Will eigentlich auch nichts erwidern. Etwas hängt wie Holzwolle in seiner Kehle und das entfesselte Lachen vom Nachbartisch irritiert ihn. Der aufgehübschte Kellner hat die Scherben stumm entsorgt, der kleine Junge hält seine Mutter fest umklammert und beide kichern, wiehern und glucksen, bis sie nach Luft schnappen müssen. Die junge Frau steht auf und sieht ihn und Hanna achselzuckend an. "Nichts für ungut, wenn wir Ihnen auf die Nerven gegangen sind. Simon und ich sind heute ein bisschen albern. Aber wir haben auch allen Grund dazu." Dann legt sie ihren Zeigefinger an den gepiercten Nasenflügel. "Kennen Sie die drei Glücksworte?"
"Was sind die drei Glücksworte?", fragt Hanna.
Die Frau wirft triumphierend ihren Kopf zurück und greift nach der kleinen Hand des Jungen. "Es ist gutartig!"
Plötzlich wird ihm bewusst, dass sich Feuchtigkeit unter seinen Achselhöhlen angesammelt hat und er ekelt sich ein wenig. Er sitzt nicht mehr in einem Straßencafe. Er sitzt in einem Pool gleißenden Lichts, eingemauert von Hitze. Er will weg von hier.

 

Hallo Nadann!

Eine sehr schöne, klassische Kurzgeschichte mit guter Charakterzeichnung, stimmigem Dialog, berührendem Ende, das in gerade richtigem Maß überraschend kommt. Ein Typ wird da kurzfristig aus seiner Eingleisigkeit rausgeschleudert und das Ende legt nahe, dass er sich diesen Schmerz über das eigene versäumte Glück nicht antun will. Dass er sich diesem Schmerz nicht wirklich stellen will. Ob er sich rühren lässt oder ob er weiter macht, wie bisher, das lässt die Geschichte offen.

Du fliegst also übermorgen? Defintiv
das fehlt ein "i"
Das einzige, was mich gestört hat, war die wiederholte Betonung des Geschniegeltseins des Kellners. Aber das ist nur eine Kleinigkeit.

Ein sehr schöner Einstand hier! Herzlich willkommen! :)

Gruß
Andrea

 

Hallo Nadann,

ja, auch ich finde, dass das ein guter Einstand ist und heiße dich herzlich willkommen.

Ein schöner Schreibstil, hat mir gefallen. Das Sommerstimmung, das Verhältnis der beiden hast du schön beschrieben, ich habe die ganze Zeit gespürt, wie viele unausgetragene Konflikte in der Luft liegen. Die Auflösung kam für mich dann allerdings im Gegensatz zu Andrea ein kleines (wirklich nur ein kleines) bißchen zu überraschend. Und zwar deshalb, weil ich vorher so gar keinen Anhaltspunkt dafür bekommen habe, dass es sich um Mutter und Sohn handelt. Ich muss allerdings zugeben, als ich diese Information hatte und daraufhin die Geschichte noch mal gelesen habe, war es für mich stimmig. Aber beim ersten lesen hatte ich natürlich eine junge Frau vor Augen, das wirst du ja auch beabsichtigt haben.

Das nervende Verhalten des Jungen am Nachbartisch hast du finde ich gut eingebettet in die GEschichte. Das Ende, die positive/negative Diagnose der Frau, hätte es für mich allerdings nicht gebraucht.

Viele Grüße und noch viel Spaß hier,
Juschi

 

Hallo Nadann!

Die Stadt sommert vor sich hin. Die Hitze ist allgegenwärtig. Sie kauert hinterlistig in den U-Bahn-Stationen.
Der erste Satz ist gut. Hauptsätze und auch Anreihungen von Hauptsätzen sind oft sehr wirkungsvoll, hier würde ich aus den letzten beiden Sätzen einen machen, das liest sich ein bisschen träge, gerade am Anfang. Die Hitze ist allgegenwärtig, kauert hinterlistig in den U-Bahn-Stationen. Nur so als Vorschlag.
als ob sich in dem Straßencafe beim Dom eine dicht aneinander gedrängte Menschengemeinde versammelt hat,
Hm, hier fände ich als hätte sich ... versammelt besser.
Hanna nimmt ihre Sonnenbrille ab und legt sie neben das Proseccoglas. "Doch."
"Wie bitte?" "Nein, Unsinn, vergiss es, es war ein Scherz!"
Absatz bei Sprecherwechsel. Und irgendwie kommt mir der letzte Satz, dieser Meinungsumschwung zu plötzlich. Das passt für mich nicht, weil sie vorher noch so todernst "Doch" gesagt hat.
Er absoluter Glücksfall im Village, sagt Howard."
Ein

Doch, schöne Geschichte, hat mir sehr gefallen. Die Sprache ist toll, die Charakterzeichnung ist toll, mochte ich wirklich. Das einzige was mich gestört hat, war diese "Pointe" gegen Ende, dass die Frau seine Mutter war. Ich hatte die ganze Zeit ein Gör à la Paris Hilton vor Augen, das sprechen konnte, und wusste nicht, wie ich diese Figur einschätzen sollte. Sieht man sie als die Mutter ist die Sprache schon stimmig, ich würde es bloß nicht so spät offenbaren, ich weiß nicht, ob es gewollt war von dir, aber als Pointe gefällt mir das nicht so richtig. Zumal die Geschichte das gar nicht nötig hat.

Gern gelesen.

Liebe Grüße,
Strudel

 

Danke für die kritischen Amerkungen und die Hinweise auf Tippfehler. Ich bin erst seit ein paar Tagen hier angemeldet und muss mich erst einmal ein bisschen orientieren.

 

Hallo Nadann,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich mag Geschichten, die so aufgebaut sind wie deine Geschichte. Die Sprache ist eindringlich, interessant, teilweise außergewöhnlich. Der Leser wird hineingezogen, nicht hineingeworfen. So baust du bis zum überraschenden Schluss eine sich steigernde Spannung auf.
Sehr schön auch die Situation am Nebentisch. Ich freue mich schon auf weitere Geschichten von dir.
Liebe Grüße
xeranda

 

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