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Glücksmomente
„Hallo Opa.“
Die Worte fehlen ihm.
Die Zeiten, in denen ich ihm stürmisch um den Hals fiel und er mich durch die Luft wirbelte, sind längst vorbei.
Er stützt sich schwer auf die Schaufel, mit der er den Garten umgräbt und sieht mich an.
Eine Floskel nur, es wäre so einfach. Schön, dass du da bist. Wie geht es dir? Hattest du eine gute Fahrt? Nur Standart, aber besser als sein Schweigen.
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Er zuckt ein wenig zurück, aber an seinem Lächeln erkenne ich, dass er sich freut.
„Wie geht es dir?“, frage ich ihn.
„Mir geht es immer gut.“
Er jammert nie. Alles ist gut so wie es ist, schließlich könnte es noch schlimmer sein.
Müde sieht er aus, dicke Ringe hängen unter seinen Augen. Hager stechen seine Wangenknochen hervor, sein Hemd schlottert, von Flecken übersät, um seinen Oberkörper.
„Und Oma?“, frage ich.
„Hat sich nichts geändert.“
Ich schließe die Augen, spüre die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Wange und möchte weg von hier. Ich könnte einen Stadtbummel machen, mich mit Caro treffen, ein gutes Buch lesen. Ich könnte mich dafür entscheiden nichts zu wissen.
Früher gab es nichts Schöneres, als Oma und Opa für ein paar Tage zu besuchen. Jeden Sommer verbrachte ich einige Zeit bei ihnen. Opa besaß zwei Kühe, die Wilma und Hannah hießen. Am Morgen trieben wir sie zur Weide und Opa erzählte von früher, als der Hof noch groß und voller Tiere war.
An der Weide angekommen, schöpften wir mit einer kleinen Flasche Wasser aus dem Bach. Es schmeckte erdig und frisch und passte hervorragend zu den mitgebrachten Butterbroten.
Oma zeigte mir, wie man Marmelade kochte und welche Waldfrüchte man essen konnte. Oft streiften wir stundenlang durch den Wald und sie zeigte mir Kräuter, erklärte mir deren Verwendung. Sie kannte die Plätze, an denen die Rehe fraßen und wenn man ganz früh aufbrach und sehr leise war, konnte man sie aus nächster Nähe beobachten.
„Ich gehe mal zu Oma“, sage ich.
Er nickt müde, wirkt fast erleichtert, dass ich gehe, ihn nicht mehr mit Fragen löchern kann.
Sie sitzt vor dem Fernseher. Dünn ist sie geworden. Die Kleider sind ihr viel zu groß. Ihr Haar hängt ihr strähnig auf die Schultern.
„Oma?“
Sie reagiert nicht, ich gehe an ihr vorbei, knie mich vor sie und nehme ihre faltigen Hände in meine.
Es dauert, ehe sie mich registriert.
„Anna“, sagt sie.
Ihre großen Augen beginnen sich mit Tränen zu füllen. Ich weiß nicht, warum sie wieder weint, wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht. Eine kleine Erinnerung, ein kurzer Gedanke kann der Auslöser sein. Schon wieder vergessen, wenn die Tränen fließen.
Nun ringe ich nach Worten. Ich könnte einfach darauf losreden. Ihr von Mama erzählen, von meiner Arbeit, von Bekannten. Sie würde zuhören, zumindest würde es danach aussehen. Ich entscheide mich für den schwierigeren Weg.
„Sollen wir nächste Woche in die Stadt fahren? Du hast abgenommen, es steht dir gut.“
Die falschen Worte. Entsetzt reißt Oma die Augen auf.
„Ich bin so dünn geworden“, jammert sie. „Und ich kann nirgends mehr hinfahren. Beim Autofahren wird mir immer schlecht, das weißt du doch.“
Jetzt fließen die Tränen richtig. Eine nach der anderen kullert ihre Wange herab.
„Wir können es versuchen?"
„Nein.“
Ich schweige, suche ein unverfänglicheres Thema, doch jedes scheint gefährlich zu sein, fast alles könnte zu Tränen rühren.
Vor einem halben Jahr hatte Oma einen Schlaganfall. Ihre Vitalität ist einem Rollstuhl gewichen. Der Arzt sagt, sie könnte laufen, wenn sie nur wollte. Der Arzt sagt, sie könnte weiterhin ein fast normales Leben führen, doch sie sträubt sich dagegen. Die Gefahr ist in ihr Leben gezogen, lauert hinter jeder Ecke. Sicher ist nur das eigene Haus und selbst da kann sich ein hinterhältiger Schlaganfall einschleichen.
„Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe“, jammert sie.
„Was?“
„Mir. Dass so etwas ausgerechnet mir passieren muss. Ich bin doch ein guter Mensch, Anna. Ich war jeden Sonntag in der Kirche, regelmäßig bei der Beichte. Ich wollte niemandem etwas Schlechtes.“
Ihr Gott ist einer, mit dem man Verträge aushandelt. Gutes wird mit Gutem vergolten, auf jede Schlechtigkeit folgt eine Strafe.
„Oma, das ist doch keine Strafe.“
„Doch“, antwortet sie stur. Sie nimmt ein Taschentuch, schluchzt hinein. Sie erinnert mich an ein kleines Kind, das beim Spielen hinfällt und der blöden Straße die Schuld gibt. „Eine Ungerechtigkeit, das ist es.“
Ich könnte sie mit ihren eigenen Worten schlagen. Könnte von einer göttlichen Prüfung sprechen, aber es würde nichts bringen.
„Weißt du was, Oma. Wir gehen jetzt in den Wald. Weißt du noch, wie früher.“
„Ich kann nicht mehr in den Wald gehen“, schimpft sie.
„Ich schiebe dich und wir können probieren, ob du selbst ein Stück laufen kannst.“
„Nein“, bleibt sie stur. „Mir geht es nicht gut. Ich bin eine alte Frau.“
Ich höre nicht auf ihre Worte, hole aus dem Bad eine Bürste und beginne ihr Haar zu kämmen.
„Du könntest das neue Kleid trage, das ich dir zu Weihnachten geschenkt habe.“
Beleidigt presst sie die Lippen zusammen, lässt es geschehen, dass ich das Kleid hole, sie anziehe. Sie hilft mir nicht, starr wie ein Holzklotz steht sie da.
„Bestimmt hole ich mir den Tod“, schimpft sie.
„Draußen ist es warm“, widerspreche ich. „Dein Mund ist verschmiert.“
Ich laufe ins Bad, hole einen Waschlappen, setze mich vor sie und wische sie ab.
Plötzlich muss ich lächeln.
„Oma, weißt du noch? Im Fasching wollte ich Opa und dich unbedingt als Clown schminken. Ihr habt euch fürchterlich dagegen gewehrt, doch ich bin euch so auf die Nerven gefallen, dass ihr nachgegeben habt.“
Ich muss laut lachen, halte mich an ihrem Rollstuhl fest, damit ich nicht umfalle.
„Ihr saht schrecklich aus, trotzdem habt ihr mich gelobt und seid mit mir zum Faschingsumzug gefahren. Alle Leute haben euch angestarrt.“
Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, doch plötzlich beginnt sie zu lächeln, erst zaghaft, dann immer breiter.
„Ja“, sagt sie und streicht mir über die Wange. „Du warst ein stures Kind.“
Ich schiebe sie nach draußen, es ist schwierig, den Rollstuhl über die drei Stufen an der Haustür zu hieven.
Oma schweigt, doch sie wehrt sich auch nicht mehr.
Opa sieht erstaunt von seiner Gartenarbeit auf, als er uns sieht.
„Wir fahren in den Wald“, sage ich.
„Dass du dich raustraust!“
„Kommst du mit?“, fragt Oma.
Opa nickt, wischt sich die Hände an den Hosen ab und streicht Oma über das Haar.