- Beitritt
- 10.07.2006
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Glaube Liebe Hoffnung
Im Alter von zwölf Jahren war ich besonders gut im Tragen von Sweatshirtjacken, die zwei Nummern zu groß sind.
Ich befand mich in einem anstrengenden Entwicklungsstadium und war mir darüber bewusst, dass das Tragen der zu großen Sweatshirtjacken perfekt mit dem Tragen einer zu großen Verantwortung harmonierte - die Verantwortung hob die Definition einer unbeschwerten Kindheit aus den Angeln.
Die Verantwortung hob die Definition einer unbeschwerten Kindheit aus den Angeln, während wir familiär und zu dritt auf unserer Zweiercouch saßen, um uns eine Sendung im Fernsehen anzusehen, die mysteriöse Kriminalfälle in Amerika thematisierte.
Es war viertel vor eins und das Verhalten meiner Mutter wäre in Erziehungsratgebern als unverantwortlich eingeordnet worden - sahen andere Kinder in unserem Alter Fern, dann grundsätzlich nachmittags und nicht länger als eine halbe Stunde. Ich hatte schon früh beschlossen, keine weiteren Schäden von diesem unverantwortbaren Zustand zu tragen. Auf dieser abendlichen Fernsehscheiße beruhte eine Zeitspanne, die erträglich und dadurch außergewöhnlich großartig war. Meine Mutter lächelte und aß überdimensionale Schokoriegel, die sie sich kurz zuvor an einer anderthalb Kilometer entfernt gelegenen Tankstelle gekauft hatte. Wenn sie massenhaft Snickers aß bedeutete das für mich nichts anderes, als dass sie ihren Alkoholentzug mit Kalorien zu kompensieren versuchte- ich nahm in diesen Momenten nichts anderes war, als dass sie sich überhaupt zu einem kurzzeitigen Alkoholentzug entschlossen hatte und mutierte aufgrund dessen zu einem euphorischen Kleinkind.
Sie nervte dieses kleinkindliche Verhalten zu Tode und sie nervte es zu Tode, wenn ich aus meiner Fröhlichkeit heraus plötzlich anfing, eine Oktave höher zu sprechen - deswegen unterdrückte ich all diese Verhaltensmuster und sagte überhaupt nichts mehr. Ich verhielt mich neutral, während sich in meinem Innern die unterdrückte Euphorie zu etwas formte, das mir physisches Unbehagen bereitete. Ich zog das physische Unbehagen dem psychischen Unbehagen vor und weiß nicht genau, ob ich das heute bereuen soll.
Meine Situation war ausweglos, weil meine Mutter der einzige existente familiäre Zusammenhang und ich von ihr abhängig war. Ich liebte sie und ich liebe sie noch heute, in ihrer Radikalität und in ihrer Unentschlossenheit und in ihrer Depression und in ihrem generalisierten Angstzustand und ihrer Hilflosigkeit.
Sie zitierte einen Satz aus dem Fernsehen: “Auch du bist ein Stofftier, das seine Arme bewegen kann.” Meine Schwester lachte, obwohl sie das definitiv nicht als witzig hatte empfinden können. Sie war sieben, in den Augen ihrer Sozialkundelehrerin herzzerreißend und ihren Mitschülern gegenüber skrupellos. Sie war sich ihrer herausragenden Intelligenz zwar nicht bewusst, konnte sie jedoch gekonnt gegen die ihr unterlegenen Erstklässler einsetzen. Allen hatte sie glaubhaft vermitteln können, dass sie Pippi Langstrumpf sei und dafür hasste ich sie.
Ich hasste sie dafür, dass sie niedlich, kindlich, unschuldig, intelligent, auffallend und hübsch war. Ich hasste sie dafür, dass sie eine große Schwester hatte, ich hasste sie dafür, dass ich mich für sie verantwortlich fühlte und ich hasste sie, weil ich mir einbildete, dass sie diese komplette Scheißsituation nicht als genau so schlimm empfand wie ich. Ich erkannte in ihrem Verhalten die Selbstschutzmechanismen, die auch ich mit sieben an den Tag gelegt hatte - Mascha lachte, ohne etwas komisch zu finden, aber sie hatte bemerkt, wie fröhlich unsere Mutter war und diesen Zustand wollte sie mit allen Lügen und Täuschungen der Welt so lange wie möglich aufrecht erhalten.
Sie stürzte sich auf sie, umarmte sie und sprang danach auf der Sofalehne herum. Meine Mutter benahm sich zu diesem Zeitpunkt so, als wäre sie kompetent und ihr Leben lang nichts anderes als kompetent gewesen - sie strahlte in ihrem jetzigen Aggregatszustand Intelligenz, Autorität, Souveränität und Weisheit aus. Sie war ein anderer Mensch, mit dem man nicht über diesen Menschen reden konnte, der sie sonst war, weil sie diesen Menschen nicht mochte oder nicht kannte oder ihn derart verabscheute, dass sie nicht mit ihm konfrontiert werden wollte. An diesen eine Familienidylle verkörpernden Abenden tat ich alles für sie und definitiv nichts, was sie in irgendeiner Weise aggressiv oder unleidlich hätte stimmen können.
Nach der amerikanischen Autopsiescheiße kam aus irgendeinem Grund Winnetou mit der Silberseescheiße und meine Mutter schaltete den Fernseher aus, weil sie das total bescheuert fand.
“Winnetou ist die größte Scheiße. Als ich irgendwie so alt war wie Mascha hab ich das immer mit meiner Freundin geguckt und wir fanden das echt wahnsinnig geil, keine Ahnung und wir haben uns dann immer vor den Fernseher auf so Decken gelegt und diese bahnbrecherischen Medizinmannproblematik in ihr Wohnzimmer reinprojiziert, indem wir sie einfach nachgespielt haben. Jeden Abend, wenn Winnetou lief, dieselbe Scheiße, dieses Räkeln auf dem Wohnzimerboden, als würden wir gleich sterben, daran geilt man sich glaub ich echt auf, wenn man klein ist, an dieser Vergänglichkeit und dieser Action und dem Sterben. Na ja.”
Ich hörte nur die Worte und konnte den Inhalt nicht nachvollziehen, aber ich war stolz darauf, mit was für einer Gelassenheit sie das Wort Medizinmannproblematik benutzt hatte.
Ich fragte: “Und dann?”
“Ich hab Winnetou dann irgendwann mal alleine zu Hause geguckt, weil meine Freundin Lungenentzündung hatte und fand es totlangweilig, es war wirklich so dermaßen langweilig ey."
Dann schaltete sie den Fernseher wieder an und hob Mascha so kompetent wie sonst was von der Sofalehne, um ihr den Indianerblödsinn in historischen Kostümen nicht vorzuenthalten. Sie ging aus dem Wohnzimmer und kehrte nach kurzer Zeit wieder zurück, mit einem Tablett, das von diesen potthässlichen fetten Engelkindern aus den italienischen Kathedralen geziert wurde. Auf diesem Tablett transportierte sie grundsätzlich die Utensilien, mit denen sie sich Zigaretten stopfte. Stopfte sie Zigaretten, die rauchbar waren, bedeutete das für mich, dass sie noch zurechnungsfähig und nicht zu besoffen war, um die Kontrolle über sich zu behalten. Deswegen beruhigte mich dieser Vorgang. Mascha sah in ihm allerdings nichts anderes als ein Lungenkrebsrisiko, dessentwegen es sich lohnte, die vertretbare Stimmung zu gefährden. Ich werfe ihr mit diesem Satz etwas vor, sie handelte rein instinktiv, solange sie das noch konnte, wie ein siebenjähriges Kind, sie wurde unleidlich. Sie guckte unsere Mutter vorwurfsvoll an und sprang nach wenigen Sekunden derart aggressiv zum Fernseher, dass er von selbst ausging. In diesem Moment konnte ich in ihrem Gesicht erkennen, wie sie das durch ihr Fehlverhalten bedingtes Kippen der Situation realisierte und sich deswegen Vorwürfe machte. Das stellte ich innerhalb des Bruchteils einer Sekunde fest und ich hasste sie erneut, ich hasste diese Unbeschwertheit, mit dem sie sich kurz zuvor auf nichts anderes konzentriert hatte als das Lungenkrebsrisiko. Ich hasste auch ihren Sachkundelehrer, der seiner Klasse das mit dem Lungenkrebsrisiko vermutlich permanent ans Herz legte.
Dieser Hass auf die Unschuldigen lenkte mich davon ab, es zu hassen, dass sich die Gesichtszüge meiner Mutter versteinerten, dass sie zwar die Fassung bewahrte, aber von einer Sekunde auf die andere verbiestert und bösartig geworden war. Ihre Aggressionnen sprangen ihr aus der Fresse, ohne, dass sie irgendetwas tat.
“Was ist los?”, fragte sie rhetorisch. Dass sie keine Antwort erwartete vermittelte sie uns mit einer derart furchteinflößenden Penetranz, dass sich Mascha die Hände vor ihr Gesicht schlug und rausrannte. Meine Mutter wartete kurz und rannte ihr dann hinterher, um sie wenige Sekunden später wieder ins Wohnzimmer gezerrt zu haben.
“Jetzt hol ja nicht wieder so aggressiv Luft!”, schrie sie. Mascha holte überhaupt nichts, sondern guckte beschämt zu Boden. Meine Mutter kniete sich auf ihre Augenhöhe und sah mich kurz an. Dieser Blick machte mich gleichermaßen froh als auch fertig, in ihm lag überhaupt nichts, außer die gleichgültige Aussage, dass sie mich wahrnahm.
“Was hattest du grade, Mascha?”
“Ja gar nichts.”
“Du hast wieder angefangen aggressiv Luft zu holen als ich mein Tablett geholt habe. Dieses Luftholen muss echt mal langsam ein Ende haben, was wolltest du? Wolltest du irgendwas verhindern?”
“Ich wollte nicht, dass du rauchst irgendwie, keine Ahnung.”
“Warum nicht.”
“Weil das ist ja halt schädlich und außerdem war das heute in der Schule auch so scheiße.”
“Was denn?”
“Weil alle gedacht haben, dass ich rauche. Ich hab auch gesagt, dass das gar nicht sein kann, weil wir die Klamotten auch immer im Keller aufhängen, aber das haben die mir nicht geglaubt. Also ich hab auch gesagt, dass es nur sein kann, weil du rauchst und ich deswegen danach rieche.”
“Aber wir hängen die Klamotten doch immer im Keller auf und du warst doch auch draußen.”
“Ja, weiß ich doch.”
Meine Mutter wendete sich von ihr ab, setzte sich an den Wohnzimmertisch und warf einen flüchtigen Blick in den Handspiegel, der da irgendwo auf dem Tisch rumlag. Der Blick in den Spiegel war scheinheilig flüchtig - grundsätzlich begann mit diesem Blick etwas, dass mir Angst einjagte. Wurde sie sentimental, guckte sie manchmal stundenlang in den Spiegel und weinte dabei und sah ihrer Wimperntusche dabei zu, wie sie unkoordiniert durch ein Gesicht lief, das nichts anderes offenbarte als Traurigkeit und einen unaufhaltbaren Alterungsprozess. Tatsächlich fing sie an zu weinen, legte den Spiegel jedoch weg. Ihr Weinen entwickelte sich zu einem hysterisch Schluchzen, aus dem vereinzelte Worte hervorgingen, die wir uns automatisch zu folgendem Satz zusammen reimten:
Aber die Zigaretten sind doch das einzige, was ich noch habe.
I
ch hätte sie gern umarmt, aber dazu war ich nicht in der Lage. Sie sprang vom Tisch auf, stürmte raus und knallte die Wohnzimmertür hinter sich zu. Mascha fing plötzlich auch an zu weinen und drehte sich deswegen weg. Obwohl ich sie verabscheute gab ich dem Reflex nach, auf sie zuzugehen und mit behutsamer Stimme auf sie einzureden.
“Warum weinst du denn jetzt?”
“Ist bloß das Chlor, wir hatten ja vorgestern Schulschwimmen.”
Ich nahm sie auf den Arm, um sie in mein Bett zu tragen. Sie weinte die ganze Zeit, unser beider Hauptehrgeiz bestand darin, die Tatsache zu verdrängen, dass in dieser Wohnung noch eine Mutter existierte, die uns beiden zur Last fiel. Sobald wir Geräusche aus ihrem Zimmer vernahmen, hielten wir uns die Ohren zu - sie hatte hysterische Hustenanfälle, die sie töten wollten. Sie weinte laut, sie stolperte, sie schmiss Gläser um, das Geräusch der Tür war grundsätzlich das Schlimmste aller Geräusche, weil die Gefahr bestand, dass sie uns mit sich als verrückt gewordenes Monster konfrontieren würde.
Mindestens drei Stunden war ich nicht in der Lage dazu, einzuschlafen. Ich stand auf, schlich durch mein Zimmer zum Fensterbrett und guckte in den Himmel. Ich war von Kindesbeinen an zum Atheismus erzogen worden, konnte in Situation gesteigerter Traurigkeit jedoch nichts anderes tun als an etwas zu glauben, dass gottgleich war und ausschließlich existierte, um sich für mich verantwortlich zu fühlen. Ich hatte ununterbrochen Todesangst. Angst zu haben vor dem eigenen Elternteil verleitet frühpubertäre Mädchen dazu, zu beten. Die Transzendenz zu der ich betete, nannte ich Gott und dafür schämte ich mich. Ich schämte mich dafür, die Zeit vergessen zu wollen. Ich zählte jede Sekunde, bis ich das Geräusch ihrer Zimmertür erneut vernahm und schnell zurück ins Bett sprang. Ich vernahm das Geräusch der Wohnzimmertür, ich vernahm die unregelmäßig gesetzten Schritte durch das Wohnzimmer, schlussendlich vernahm ich das Geräusch der Tür zu meinem Zimmer und dass Licht in mein Zimmer fiel, aber ich stellte mich schlafend, ich wurde panisch. Daran, dass sie wahnsinnig schnell atmete, merkte ich, dass Mascha aufgewacht war und ihr deswegen ebenfalls nichts anderes übrig blieb als sich schlafend zu stellen und dafür liebte ich sie dann plötzlich so. Plötzlich liebte ich sie und zwar dafür, dass sie sich in derselben Situation befand, wie ich.
Wir hofften, dass unsere Mutter umkehren würde, aber sie betätigte dann sozusagen den Lichtschalter irgendwie, um sich ungelenk auf uns zu stürzen, sie zerrte zuerst mich aus dem Bett, sodass ich aufrecht saß und ich stellte mich immer noch schlafend, bis sie mir eine knallte und ich mein Gesicht verziehen musste, um nicht zu weinen. Ich öffnete meine Augen, sie starrte mich an, sie hatte sich natürlich besoffen und das sieht man als Kind auch direkt, ich spürte, wie Mascha sich ruckartig aufrichtete und hoffte, in diesem Szenario nichts anderes sein zu müssen als eine vom Geschehen ausgeschlossene Beobachterin. Als meine Mutter ihren Teddy nahm und ihn gegen die Wand schmiss, fing sie an zu weinen und zwar grauenhaft kindlich. Ein Weinen, das ruckartig mit einem langanhaltenden Schrei beginnt und dann den kompletten Körper vereinnahmt. Sie wedelte wild mit den Armen und sprang derweil unkoordiniert auf dem Bett herum, ohne zu wissen, in welche Richtung sie sich hätte flüchten können. Meine Mutter zerrte sie mit einer derartigen Wucht vom Bett, dass Mascha nicht rechtzeitig genug reagieren konnte, um unproblematisch aufzukommen. Sie kam auf den Knien auf, aber halt nicht unproblematisch und in der dem Bett gegenüberliegenden Zimmerecke. Sie versuchte halbherzig aufzustehen, schaffte es aber nicht und kauerte sich dann verängstigt zusammen. Meine Mutter knallte mir erneut eine, sie war nicht nur alkoholabhängig, sondern unter Alkoholeinfluss auch wahnsinnig sadistisch. Ich ertrug den Genuss nicht, der sich in ihren Augen wiederspiegelte, sobald ich meine Schmerzen nicht mehr verbergen konnte.
“Du verficktes Dreckskind hast die Platte kaputt gemacht!”, schrie sie und ich guckte kurz zu Mascha, deren Blick plötzlich ganz klar wurde und dieser Blick signalisierte mir, dass sie diejenige war, die eine Platte kaputt gemacht hatte, wenn überhaupt irgendeine Platte kaputt gegangen war, ich verstand das alles nicht so ganz.
“Was für eine Scheißschallplatte?”
“Sie ist kaputt verdammte Scheiße! Wer von euch beiden hat sie kaputt gemacht?”
Plötzlich raffte sich Mascha auf, um aus dem Zimmer zu rennen. Vermutlich schloss sie sich ins Bade ein, das bekam ich nicht mehr richtig mit. Zuerst dachte ich, meine Mutter würde ihr hinterher rennen, wenige Augenblicke später kam sie jedoch ohne Mascha und mit einem in gelbes Plastik gefassten Cuttermesser zurück. Sie brauchte unglaublich lange, um das Messer in ihre Hosentasche zu stecken, weil sie so besoffen war und diese Zeit hätte ich prinzipiell dazu nutzen müssen, um zu reagieren, das tat ich aber nicht. Ich saß regungslos herum und beschloss, mich mit allem abzufinden. Sie zog mir innerhalb einer komplizierten Prozedur meine Jogginghose aus, ich versuchte schon im Vorhinein jegliches Empfinden aus meinem Körper zu verbannen und mich nur noch darauf zu konzentrieren, nicht zu leiden. Insofern wehrte ich mich auch nicht. Sie zog mein linkes Bein hoch und drückte es durch, während ich auf dem Bett lag, das fühlte sich an wie bei einer strapaziösen Dehnübung. Ich schrie auf, weil ich plötzlich einen wahnsinnig krassen Schmerz empfand, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwartet hätte - im Bereich meines Knies war ein mit dem Beißen in einen Apfel vergleichbares Geräusch ertönt und plötzlich spürte ich den Zusammenhang zwischen meinem Schienbein und meinem Oberschenkel nicht mehr, es war ein ekelhaftes Gefühl. Meine Mutter ließ sich von dieser unvorhergesehenen Zwischeneinlage nicht aus dem Konzept bringen, vermutlich hatte sie sie nicht mal bemerkt, sie durchtrennte mit dem Messer zuerst die Haut meiner Kniekehle, ich empfand es fast als ein vorsichtiges Durchtrennen der Haut, um mir das Messer dann mit vielen kleinen Stichen zentimetertief ins Fleisch zu rammen.
Ich weiß nicht, wie man diese Schmerzen erträgt oder wie ich sie ertragen habe. Ich habe sie nicht ertragen können, hätte ich das Messer zu fassen gekriegt, hätte ich mich der Schmerzen wegen umgebracht. Sie ließ von mir ab, ich weiß nicht wie lange. Darüber war ich wahnsinnig glücklich, ich fühlte mich, als wäre ich die komplette Zeit mit dem Kopf unter Wasser gedrückt und nun für kurze Zeit wieder heraus gezerrt worden. Ich liebte sie. Ich hatte, anders als das in sozialkritischen Büchern über gewaltvolle Elternteile ununterbrochen beschrieben wird, nicht das Gefühl, Schuld zu tragen oder dass sie das Richtige machte. Ich wusste, was für einen Scheiß sie tat und dass ich nichts anderes war als ein zu bemitleidendes Opfer. Doch ich bemitleidete SIE, ich fühlte mich für sie verantwortlich. Die bedingungslose Liebe von Kind zu Mutter wich einem gigantischen Verantwortungsbewusstsein, das so weit ging, dass ich sie auf der Stelle umarmen wollte und ihr ans Herz legen, mich weiter zu quälen, wenn sie so traurig ist und ihr dieses Quälen doch hilft. Ich beobachtete das Geschehen von oben, ich wollte eine Betrachtungsebene schaffen um mit der Situation besser umgehen zu können und es funktionierte. Sie war wahnsinnig arm dran, sie war kurz davor zu sterben, ich musste sie beschützen, über diesen Gedanken vergaß ich meinen Schmerz und dass er sich in wenigen Sekunden vermutlich vervielfachen würde. Sie hatte alle meine Schubladen aus den dazugehörigen Halterungen gezerrt und hektisch nach einem Feuerzeug gesucht. Meine Kniekehle blutete in Strömen, das ganze Blut lief unaufhaltsam mein Bein runter, als ich es ein Stück hoch hob um es begutachten zu können, sah ich überhaupt nichts anderes als ein dunkles klumpiges Rot, das jagte mir einen tierischen Schreck ein. Die Wunde musste einen Durchmesser von mindestens drei Zentimetern haben. Meine Mutter machte das Feuerzeug an, ich werde dieses Geräusch wirklich nie vergessen und lange Zeit habe ich immer panische Angst gekriegt sobald jemand ein Feuerzeug angemacht hat in meiner Umgebung, was natürlich ununterbrochen vorkam und deswegen schrecklich war. Sie hielt es an den zur Wunde gehörigen Randbereich. Bevor ich den Schmerz spürte, hörte ich bloß ein merkwürdiges Zwischen, kurz darauf spürte ich den durch das das Zischen verursachten Schmerz dann aber. Das Blut verbrannte oder verkohlte und die übrig gebliebene Haut auch und plötzlich fraß sich die Flamme auch durch das Fleisch. Jeder Schrei blieb mir im Hals stecken, ich war nicht mal mehr in der Lage dazu, mich zu bewegen, ich war gelähmt. Die Hitze verwandelte sich in Kälte, bis ich überhaupt nichts mehr fühlte, ich rettete mich in die Ohnmacht. Jedes Kind rettet sich zur Not in die Ohnmacht.
Und wenn man aufwacht, ist die Wahrheit die einzige Wunde, die sich selbst heilen kann.