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Glaubst du an Gott?
Als die Tür hinter meinem Rücken aufschlägt und der eisige Wind in den Innenraum der Kneipe fegt, ist das erste, was ich sehe, Peters wechselnder Gesichtsausdruck. Ich will mich umdrehen, einfach nur, um zu sehen, wer da hereingekommen ist, doch schwankt mein Barhocker dermaßen, dass ich befürchte, den Ankömmling gleich nur noch von unten sehen zu können. Also lasse ich es lieber.
Peter steht hinter dem Tresen, einen Humpen in der linken, den Zapfhahn in der rechten Hand, während das Alt braun und schäumend seinen Weg in das Glas findet.
Meines ist bis auf einen kleinen Bodensatz leer. Ich habe die Unterarme auf den Tresen gestützt und beobachte fasziniert, wie das Gesicht meines Gegenübers in Wut umschlägt. „Tür zu!“, brüllt er.
Der Wind antwortet kreischend, schneidet durch die Fasern meines Baumwollhemdes und schlägt seine Zähne in mein Fleisch.
„Tür zu!“ Erneut donnert Peters Stimme, und einem Schnitt ins Zeitgefüge gleich, ist es plötzlich still. Der neue Gast muss die Tür geschlossen haben.
Eine Zornesfalte ist auf Peters Stirn entstanden, scheint zu pulsieren, was allerdings auch an meinem benebelten Sinneszustand liegen kann. Für einen winzigen Augenblick ist mir, als befinde ich mich inmitten eines Gemäldes; nur diese Stille gepaart mit einer erstickenden Bewegungslosigkeit, die ich aufs Tiefste genieße. Der Tag ist schließlich hektisch genug gewesen, und ich bin froh, hier in Peters Kneipe mich nur meinen Bieren widmen zu müssen. Das ist es auch, was ich an diesem Etablissement so liebe. Ruhe!
Dann setzt das Leben wieder ein, das Gemurmel der übrigen Gäste – auch, wenn es nur sehr wenige sind - platzt in die muffige Kneipenluft wie zuvor der Wind durch die offene Tür. Mein auf der Haut entstandener Schauer zieht sich zurück.
Peter sieht mich an, „Scheiß Wetter!“, schiebt den Zapfhahn nach hinten und den Humpen zu mir herüber.
„Ja“, antworte ich. Meine Zunge fühlte sich schwammig an. Viel zu dick. Schwammig und dick, Frauenglück.
Ich kichere, hebe das Glas, will Peter zuprosten, der sich mittlerweile umgedreht hat und nach einem weiteren Glas greift, und nehme einen Schluck. Der Alkohol hat meine Geschmacksnerven zum größten Teil in ein tiefes Koma versetzt, doch sagt mir meine Erinnerung – sofern sie dazu noch fähig ist –, dass das, was da gerade meine Zunge umspült, ein erfrischendes, kühles Alt ist. Herrlich erfrischend.
Eine Frau kreischt im selben Moment, als die Kohlensäure laut meinen Mund verlässt.
Ich runzle die Stirn, sehe über den Glasrand hinweg, wie Peter herumwirbelt. Der Schrei wird lauter, schriller. Mein rechtes Auge zuckt, während das Kreischen gegen mein Trommelfell scheppert wie ein ganzer Berg in sich zusammenfallender Metalltöpfe.
Ein hohes Zischen durchbricht das Getöse der Metalltöpfe. Erschreckend schnell und direkt. Der weibliche Schrei ist augenblicklich verstummt, und die Stille, die daraufhin folgt, legt sich in meinen Nacken, um mich mit gewaltigem Druck auf den Tresen zu pressen. Diesmal ist es eine Stille, die ich nicht mag. Eine Stille, die mich zu ersticken droht, sämtliche Luft aus meinem Umfeld absaugt, und mich in einem hüllenlosen Vakuum zurücklässt.
Peter brüllt etwas. Es ist laut, doch trotzdem kann ich die Worte nicht verstehen. Irgendetwas stimmt mit meinen Ohren nicht. Da ist dieses dumpfe Pochen meines Herzschlages, der sich träge durch meine Blutbahn fräst. Und genauso dumpf höre ich Peters Stimme.
Etwas zischt an meiner Wange vorbei, schlägt mir das Glas aus den Händen, und im selben Augenblick ist Peters Gesicht verschwunden.
Ich blinzle, runzle die Stirn. Es ist tatsächlich verschwunden. Peters Gesicht ist weg. Einfach weg.
Und während sich die Tatsache in meinen Verstand hineinquetscht, langsam, wie eine ausgehungerte Made in faules Fleisch, bespritzt Peters Blutstrahl, der seinen abgetrennten Rumpf verlässt, die umstehenden Gläser.
Wimmert da jemand? Peters Leib wankt, erinnert mich an die gewaltige Lärche, die vor unserem Haus steht und über die sich Marie ständig beschwert, weil sie die hereingetragenen Nadeln so schlecht aus dem Teppich bekommt.
Peters dicke Finger krallen sich in das Holz vor der Spüle; es scheint, als wollen die Knochen die gespannte Haut seiner Hände auseinander reißen. Der Nagel seines rechten Zeigefingers bricht ab, und mit Entsetzen stelle ich fest, dass er im Holz stecken bleibt.
Jetzt beugt sich Peters Körper nach vorn, der pulsierende Strahl verebbt langsam, und für einen winzigen Moment erkenne ich in dem Chaos aus Muskelfasern, Sehnen und Adern ein Stück seines Knochens. Dann spritzt etwas gegen meine Stirn, dringt in meine Augen ein und brennt.
Alles ist still, während ich mit dem Ärmel meines Baumwollhemdes durch mein Gesicht wische. Ein dumpfer Aufschlag hinter dem Tresen sagt mir, dass sich Peters Leib jetzt in der Horizontalen befindet. Wo ist mein Alt?
Als ich die Augen wieder öffne, erkenne ich es in einer dickflüssigen Masse direkt vor mir auf dem matten Holz. Das Glas liegt auf der Seite, und ein Bierdeckel ist gerade dabei sich in der Flüssigkeit aufzulösen.
Die Wand, die sich hinter dem Tresen befindet, besteht aus einem Spiegel. Die Bierkrüge auf den gläsernen Regalbrettern davor, sind von Peters Blut gesprenkelt, und gebrochen erkenne ich zwischen den zerlaufenden Tropfen den Raum hinter meinem Rücken.
Da ist eine verschwommene Wand, eine Tür und ein dunkles Fenster, dessen schwarzer Hintergrund sich gegen das Glas zu pressen scheint.
Mein Blick springt ein Regalfach tiefer. Menschen. Ich erkenne Menschen. Die übrigen Gäste. Verschwommen und mit starren Augen sitzen sie einfach nur da, fixieren irgendeinen Punkt im Raum, der sich irgendwo hinter meinem Rücken befinden muss.
Der Glatzköpfige fällt mir auf; den ganzen Abend über hat er laut gelacht. Viel zu laut. Doch jetzt ist sein Mund verschwunden. Unter seinem Schnauzer – dass man so was in der heutigen Zeit überhaupt noch trägt – befindet nichts weiter, außer Haut. Keine Lippen. Kein Mund. Sein Gesicht besteht nur aus panischen Augen. Und dem Schnauzer unter der Nase.
Die Frau neben ihm hat den gleichen Blick. Ihre Augen wirken viel zu groß, genauso wie ihre Titten. Auch ihr Mund ist verschwunden.
Irgendjemand keucht, und ich verspüre den unbändigen Drang, mich umzudrehen. Müsste ich nicht jede meiner schwerfälligen Bewegungen genauestens überdenken, hätte ich es mit Sicherheit schon getan.
„Tu es nicht.“
Die Stimme ist leise und doch mit einer solchen Deutlichkeit, dass ich für einen Moment das Atmen einstelle. Wieder breitet sich dieser Schauer auf meiner Haut aus – wie vorhin, als der Wind kam – nur diesmal kommt er von innen.
„Tu es nicht!“
Ich zittere, sehe diese großen Augen der Gäste so weit weg in dem Spiegel. Die Körper auf den Stühlen zucken, starren immer weiter auf diesen einen Punkt. Auf diesen einen Punkt irgendwo zwischen der Tür und meinem bebenden Rücken. Wer ist da herein gekommen?
Die Augen des Glatzköpfigen scheinen größer zu werden, die Haut unter seinem Schnauzer spannt sich zu einem unhörbaren Schrei, und als die Äpfel mit einem zarten Plopp platzen, werden die schwarzen Haare unter seiner Nase von einem glänzenden Bach umspült.
„Und die Männer wurden mit Blindheit geschlagen, bis sie müde wurden und die Tür nicht finden konnten.“ Die Stimme hinter meinem Rücken ist so leise. So bedrohlich, dass es mir die Kehle zuzuschnüren droht. Beinahe ist mir, als entstünde sie direkt in meinem Innern.
Wieder sehe ich diese starrende Frau. Der Schnauzer neben ihr zuckt mit leeren Augenhöhlen, reißt den Kopf zurück und verschwindet mit einem Poltern aus meinem Blickfeld. Einer von Peters Bluttropfen – oder ist es Hirn? – auf dem Spiegel versperrt mir die Sicht.
Wieder zuckt mein rechtes Augenlid, und wieder fällt mein Blick auf Peters abgebrochenen Nagel im Holz vor der Spüle.
Jetzt schreit die Frau. Wie ist das möglich? Ohne Mund?
Ich schiebe meinen Körper weiter nach rechts, ändere den Blickwinkel und erkenne zwischen zwei schmierigen Rinnsalen auf der glänzenden Fläche das Gesicht der Frau. Ein dünner Schnitt ist unter ihrer Nase entstanden, Haut hat sich geteilt, reißt weiter auf und als ihr Schrei die Grenze des Erträglichen erreicht, ähneln die Hautfetzen dem grotesken Grinsen eines Kürbiskopfes zu Halloween.
Wieder zischt etwas. Ich schließe die Augen, als der Schrei verstummt.
Für einen Moment halte ich die Luft an, lausche der Stille, die jetzt durch sich langsam nähernde Schritte durchbrochen wird. Ich wimmere, presse die Faust vor die Lippen und die Lider fest zusammen.
Die Schritte verstummen, und mir ist klar, dass da jemand hinter mir steht. Ich schlucke den entstehenden Brechreiz hinunter. Was geht hier vor? Da sterben Menschen hinter meinem Rücken, da liegt ein Toter hinter dem Tresen. Ich wollte doch lediglich ein Bier trinken. Nur ein Bier. Nur eine kurze Ablenkung vom Tag, nur eine winzige Verschnaufpause, bevor ich Marie und den Kindern gegenüber treten werde. Bevor ich ihnen erzählen werde, dass sie ihr Vater verlassen wird.
„Glaubst du an Gott?“ Leise. Tief. Und monoton.
Mein Wimmern verstummt, als etwas meine Schulter berührt. Meine Gedanken rasen, sind auf einmal klar, wie nie zuvor. Kein Alkohol mehr. Wie weggeblasen.
„Glaubst du an Gott?“, fragt die Stimme erneut.
Der Griff wird fester. Vorsichtig öffne ich die Augen. Es ist so hell.
Ich sehe dieses zitternde Häufchen Elend, dort im Spiegel hinter dem Tresen. Die Faust noch immer vor dem Mund, starre ich in meine Augen.
Hinter mir die Menschen auf ihren Stühlen, zuckend und augenlos. Die leeren Höhlen starren zu mir herüber, wirken wie grinsende schwarze Münder, die mich zu verhöhnen scheinen.
Sonst ist da nichts. Nichts hinter meinem Rücken, und doch spüre ich den Griff auf meiner Schulter.
Etwas nähert sich meinem Ohr, haucht sanft. Der Geruch, der sich vor meinem Gesicht ausbreitet, lässt sich nicht zuordnen. Weder kommt er mir bekannt vor, noch kann ich ihn als schlecht oder gut bewerten.
„Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich“, sagt die monotone Stimme.
Ich merke, wie ich mir in die Hose mache.
„Schließe deine Augen!“
Ich gehorche.
„Mache dich auf, nimm dein Weib und deine zwei Töchter, die vorhanden sind, da dass du nicht auch umkommest in der Missetat dieser Stadt.“
Ich meine, ein Kichern in der Stimme zu erkennen.
Wie von selbst erhebt sich mein Körper vom Barhocker, die Lider presse ich so fest aufeinander, dass ich das Knirschen meiner Zähne höre.
Einfach nur überleben. Schritt für Schritt.
Unter meinen Füßen entsteht ein schmatzender Laut, während mich die Hand auf meiner Schulter durch den Raum schiebt.
Auf dem Weg zur Tür höre ich wieder dieses Zischen; dieses Zischen, dass ich ebenfalls hörte, kurz bevor Peter seinen Kopf verloren, und kurz nachdem ich die Augen geschlossen hatte, um dem Schicksal der Frau mit dem Halloweengrinsen zu entgehen.
Etwas schlägt auf den Boden. Hart, dumpf, wie ein Stein.
Als ich die Tür öffne, empfängt mich der Wind, streichelt schneidend meine Wangen.
„Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha.“
Der Wind pfeift, und das Grollen eines nahenden Gewitters schlägt zu mir herüber. Ich öffne die Augen.
„Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich!“
Eine gewaltige Sternschnuppe erhellt die tosenden Wolken. Blitze. Grell und ungewöhnlich viele.
Jetzt ist die Stimme ganz nah an meinem Ohr. „Und er kehrete die Städte um, die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte, und was auf dem Lande gewachsen war.“
Die Hand auf meiner Schulter verschwindet.
„Warum ich?“ Meine Frage besteht nur aus einem Wimmern.
Ein Lachen hinter meinem Rücken. „Auch du nicht“, flüstert die Stimme wieder direkt neben meinem Gesicht. „Denn auch du bist schwach. Das menschliche Fleisch vergehet in seiner Schwäche.“
Für einen Augenblick verharre ich, dann wirbeln meine Beine, als sei der Leibhaftige hinter mir her. Doch irgendwie weiß ich, dass es nicht der Leibhaftige ist!
„Gottes Wille ist unergründlich!“, brüllt er hinter meinem Rücken.
Ich renne. Immer schneller. Blitze über mir. Erneut eine Sternschnuppe. Sekunden später noch eine.
Sieh nicht hinter dich!
Ich bleibe stehen, zitternd, - Denn auch du bist schwach! - und nachdem ich mich übergeben habe, drehe ich mich um …