Glitzerschorf
Glitzerschorf
Die Bahn summt und schaukelt monoton vor sich hin während die Landschaft an den Fenstern von grau zu schwarz verläuft. Ich sitze neben meiner Freundin Ivana, die mich aus verschlafenen Augen anblinzelt. Ihre Wimperntusche ist ein klein bisschen verschmiert, sie hat sie seit dem Morgen nicht erneuert. Ein paar Härchen ihrer linken Augenbraue stehen gegen die Wuchsrichtung. Mein Blick fällt an ihr vorbei und bleibt träge an meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe kleben. Die Person, die mir dort entgegenblickt, hat das lange, blonde Haar zu einem Zopf zusammengeknüllt. Das Gesicht ist ungeschminkt, nicht einmal das postpubertäre Pickelchen am Kinn ist abgedeckt. Das Spiegelbild hört auf, wo der weite, dunkelblaue Pulli beginnt. Ich weiß, dass es dann mit einer gemütlichen, weiten Jeans und ausgetretenen Sneakers endet. Nicht zu vergessen die weiß-rosa gestreiften Kuschelsocken, ein Euro das Paar. Ivanas warme Schulter berührt meinen Arm und ich lege meinen Kopf daran. Es ist, als würde ich mich in meinen Lieblingssessel kuscheln. Gelbes Licht erfüllt den Wagon und die abgewetzten Stoffsitze mit dem verschossenen Muster sind mir noch nie so gemütlich vorgekommen. Entspannt widme ich mich der Betrachtung des gegenüberliegenden Sitzes. Die anderen Fahrgäste verschwimmen zu einem angenehmen Einerlei.
“Schön oder?” sage ich leise. “Es ist Samstag Abend und wir haben rein gar nichts vor!“
Ivana lächelt nur und nickt.
Vor einiger Zeit hätte das noch ganz anders ausgesehen.
Wahrscheinlich hätten wir uns bereits, jeder in einem Berg von Klamotten sitzend, verzweifelt angerufen und uns gegenseitig versichert, dass wir nichts anzuziehen hätten. Die Folge wären allgemeine Entrüstung und breite Ausführungen, warum gerade die Andere sich nicht beschweren dürfe, da sie ja dieses geile Top oder jene scharfe Hose hätte und nur man selbst gar nichts. Überhaupt wäre man ja eine fette, hässliche Kuh. Anstandshalber würde Jede die Anderen circa zwei Minuten dem Selbsthass frönen lassen um sie dann mit liebevoll bis energischen Worten zu Vernunft zubringen. Bei besonderer Hartnäckigkeit der Jammernden wäre dann das Bild einer gemeinsam verhassten Person auszumalen gewesen, die besonders fettärschig, glubschäugig schmallippig, großnasig oder was sonst gerade akut zur Debatte stände, anzubringen gewesen. Daraufhin hätte Eine von uns dann eine undefinierbare Menge an schwarzen Klamotten in eine Tüte gepackt und wäre zu der Anderen gefahren um gemeinsam an der Kleiderfrage zu arbeiten. Am Ende hätte dann jeder wieder das angehabt, was er auch am Anfang angehabt hatte und alle wären erstmal zufrieden über den schon kalt gestellten obligatorischen Erdbeersekt hergefallen, bevor es dann in die Bahn und schließlich zur Party gegangen wäre.
Bei der Erinnerung an solche Abende schleicht sich auch ein kleines Lächelns auf meine Lippen.
“Ich freu mich richtig.” seufze ich.
“Dass wir heute bei mir einfach nur eine Dvd gucken.” vollendet Ivana meinen Satz.
“Genau!”
Zufrieden lehne ich mich zurück und strecke die Beine aus. Langsam, mit ein paar kleinen Rucklern kommt die Bahn zum Stehen. Das Zischen der elektrischen Türen zerreißt die Szene.
“Krass!” quietscht eine hohe Mädchenstimme.
Monströse Silberohrgehänge schaukeln auf mich zu, als die beiden leeren Plätze gegenüber im Beschlag genommen werden. Ich kann gerade noch die Beine zurückziehen, da sitzen sie schon und unterhalten das ganze Abteil.
“Nee, echt, hat er das gesagt? Was hat er genau gesagt? Nee, das hat er nicht gesagt!“ kreischt die Kleine in ihr supermodernes Minihandy.
Mit der freien Hand spielt sie mit einer Strähne ihres zweifarbigen Haares herum. Der Oberkopf ist in einem durchfallartigen blond gehalten, während die untere Haarpartie dunkel eingefärbt ist. So wie es modern ist. Wortlos hält Ivana mir eine Kaugummipackung hin. Ich schnaufe nur und sie steckt die Packung wieder in die Tasche ihrer Jogginghose.
“Er hat was gesagt? Ey, Alter, lüg nicht! Ich schwöre, wenn du lügst!“
Sie kichert und krallt ihre Kinderfinger im French Look in den dürren Oberschenkel ihrer Kaugummi schmatzenden Freundin.
“Er hat was gesagt!“ quietscht sie die Schmatzende an.
Dann stellt die Kreischerin auf Lautsprecher. Natürlich ist ein männliches Wesen, oder zumindest etwas, das Eines werden will, am anderen Ende. Ich schaue zu Ivana rüber und ziehe unauffällig eine Augenbraue hoch. Sie grinst mir hinter vorgehaltener Hand zu. Vor Aufregung wird nun noch schneller geschmatzt und gekreischt.
Ich kann nicht anders und muss sie bei ihrem Gebalze beobachten, mustere ihre winzigen schwarzen Hosen -jetzt weiß ich, wer diese Hosen kauft, die wir im Geschäft immer im Scherz über einen Arm ziehen, weil mehr von uns niemals hineinpassen würde- und schüttele leicht den Kopf über die kurzen, nierenfreien Jäckchen, die sie im kältesten März des Jahrtausends, oder wie die Meteorologen es wieder nennen, immer noch tapfer tragen. Die Haut zwischen dem glitzernden Partytop und der in Habachtstellung herausragenden Beckenknochen ist perfekt gebräunt. Irgendwie bin ich sehr froh über den langen Pulli den ich trage. Unwillkürlich spanne ich meinen Bauch an schaue noch einmal in die schwarze Fensterscheibe. Die Außenwelt ist nun komplett verschwunden. Ich sehe nur die gerunzelte Stirn der Frau in der Spiegelung. Dann ziehe ich beide Augenbrauen hoch um die Stirn zu glätten. Mein Blick wandert zum Spiegelbild der beiden Mädchen. Ihre Haut ist glatt unter dem Make-up und ihre Augen, ihre Augen sind wunderschöne Kajal verschmutzte Löcher mit Glitzerüberzug. Aufgeregt schnattern und zirpen Schmatzer und Kreischer weiter und breiten unaufgefordert ihre Abendgestaltung vor uns aus. Am Hauptbahnhof steigen sie schließlich aus. Die Stille explodiert in meinen Ohren.
“Schrecklich oder?” frage ich Ivana.
“Ja, furchtbar diese Kinder von heute!”
Wir schauen uns an.
“Gehen wir heute weg?”
“Geht nicht. Ich habe nichts anzuziehen….”