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Goldenes Herz
Ich schlurfe in die Küche. Der Duft von Kaffee liegt in der Luft. Köstlicher, als er letztlich schmecken wird. Alvas Kaffee ist eine dünne Plörre, die kaum eine belebende Wirkung hat.
»Du musst auf dein Herz achten. Starker Kaffee ist nicht gut für dich.«
Alva weiß sehr genau, was gut für mich ist und was nicht. Angefangen bei meinem Rasierwasser über meine Hemden bis zum Fernsehprogramm.
Als sie das Käsemesser gegen einen Hobel austauschte, begehrte ich auf.
»Wo ist mein Käsemesser?«
»Du schneidest den Käse immer viel zu dick.«
»Ich will verdammt noch mal mein Käsemesser!«
»Reg dich nicht so auf«, flötete Alva. »Denke an dein Herz.«
Und wie ich an mein Herz dachte. Wie konnte ich es auch nur einen Augenblick vergessen, wenn sie mich zu jeder Gelegenheit daran erinnerte? Und zwischen den Gelegenheiten ebenfalls.
Im Brotkorb liegen vier Scheiben Brot. Dünn geschnitten und abgezählt, wie zu jedem Frühstück. Dazu fettarme Butter, ein Klecks Diätmarmelade. Neben dem laktosefreien Käse liegt der Käsehobel.
»Wie geht es meinem Herz heute Morgen?«, zwitschert Alva, derweil sie Süßstoff in ihren Kaffee rührt.
Ich hasse es, wenn sie mich so begrüßt. Aber wie kann ich mehr Originalität von einer Frau verlangen, die mir zum achtundsechzigsten Geburtstag ein Keramikschälchen in Form eines Herzens schenkt - mit den Worten: »Für deine Tabletten.«
Einmal habe ich das Schälchen versehentlich vom Tisch gestoßen. Alva sammelte jede Scherbe, jeden einzelnen Splitter vom Fußboden auf und setzte das Herz in zwei Tagen wieder zusammen. Dafür war sie extra in die Stadt gefahren, um Spezialkleber und eine Lupe zu kaufen.
Mit seinen Narben gefiel mir das Herz schon viel besser.
Alva sitzt mir gegenüber und bestreicht ihr Hörnchen dick mit Marmelade. Zwei Hörnchen, jeden Morgen - und mir setzt sie dieses dünne Brot vor. Aber ich darf mich nicht aufregen, ich muss an mein Herz denken.
Alva beginnt zu summen. Mit viel Fantasie kann man einen Song von Neil Young heraushören. Aber ich komme nicht auf den Titel.
»Muss das sein?«, brumme ich.
»Du solltest das auch mal versuchen. Ich hab gelesen, beim Summen resoniert der Ton im Körper und hat eine heilende Wirkung. Das wäre gut für dein Herz.«
Sie schiebt sich ihr Hörnchen in den Rachen und kaut. Sie kaut langsam und bedächtig, was im Kontrast steht zu den gewaltigen Mengen, die sie sich in den Mund schaufelt. Schon nach Augenblicken kann von dem Hörnchen nichts Zermalmenwertes mehr übrig sein, doch Alva wälzt den Brei von einer Backe in die andere. Immer und immer wieder. Der Höhepunkt ist jedoch, wenn sie - noch kauend - den Kaffee in sich hineinschüttet.
Sie schafft es irgendwie, den Kaffee zu trinken, ohne dabei das Essen zu schlucken. Wenn sie die Tasse absetzt, kaut sie noch immer.
Ich darf nicht weiter hinsehen.
Ich weiß, was nun folgt: Sie wird sich ihr zweites Hörnchen einverleiben, Blätterteigkrümel regnen in ihr faltiges Dekolleté, sie wird kichern und sagen: »Diese Schlingel« oder: »Die Krümel wissen eben, wo es gut ist, hihi.«.
Normalerweise wende ich also spätestens jetzt den Blick ab, damit mir nicht auch noch der letzte Appetit abhandenkommt.
Aber heute schaffe ich es nicht. Ich kenne das Frühstücksritual und habe gelernt, meine Abscheu zu verbergen. Doch Alvas Summen ist ein neues Element der Abartigkeit und das bringt mein Fass zum Überlaufen.
Die Entscheidung ist plötzlich da: Alva soll es sehen. Sie soll es spüren.
Es ist nicht so, dass ich etwas heraufbeschwören muss, dass ich Mühe in ein finsterstes Gesicht investiere, nein, ich muss einfach nur loslassen. Und das ist auch, was mir mein Arzt mir immer geraten hat: Loslassen. Und plötzlich erkenne ich, dass er recht hatte. Ich lasse los. Ich lasse meine gute Erziehung fahren, und zeige, was ich wirklich empfinde: pure Verachtung. Eine Verachtung, die so schwarz ist wie Tinte. Und ich spritze Alva diese Tinte mit einer Wucht ins Gesicht, die mich selbst erschreckt. Doch dieser Schreck hat eine belebende Wirkung, stärker, als sämtliche Kannen Kaffee der letzten vierzig Jahre. Belebend - und erleichternd. Wie ein zweiter Frühling, wie ... die Erleichterung verschwindet augenblicklich, als Alva mich anlächelt.
Ich reibe mir über die linke Brust, bilde mir einen feurigen Kranz ein.
Das sprengt meinen Verstand. Ich kann es nicht glauben. Ich schleudere Alva all meinen Hass entgegen - und sie lächelt mich an? Sie lächelt mich an!
Ich weiß, dass sich ihr Lächeln gleich in eine höhnische Fratze verzerrt, dass sie auflacht, kreischt, heult, mich bespuckt, irgendetwas. Doch sie lächelt nur, kaut dann weiter und sieht aus dem Fenster.
Sie hat nichts bemerkt. Oder sie nimmt mich nicht für voll. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Ich zittere unkontrolliert. Wenn ich jetzt nicht den Blick abwende, passiert ein Unglück. Ich starre auf meine zitternden Hände. In der einen Hand halte ich den Käsehobel, mit der anderen umschließe ich meine Kaffeetasse.
Ich zittere so sehr, dass die Tasse auf dem Untersetzer klirrt.
»Möchtest du noch Kaffee, Schatz?«, fragt Alva. Aber eigentlich ist es gar keine Frage. Es spielt keine Rolle, ob ich ja oder nein sage, Alva wird mir Kaffee eingießen. Ihren dünnen Filtertütenkaffee. Ich bringe kein Wort heraus. Mein Zittern nimmt zu. Als sie mir einschenkt, zittre ich so stark, dass der Kaffee über meine Hand läuft. So dünn Alvas Plörre auch ist - sie ist verdammt heiß. Plötzlich habe ich wieder eine Stimme. Ich schreie. Ich schreie aus Schmerz und vor allem aus Wut. Es ist das Geschrei eines wild gewordenen Pavians, eines Berserkers, eines Menschenfressers, eines Wahnsinnigen. Alva eilt um den Tisch und packt die verbrühte Hand.
»Das wird schon. Das wird schon«, sagt sie. »Ein bisschen Wundsalbe und alles wird gut. Ich hol gleich ...«
»Lass mich!«, explodiere ich. In diesen Worten entlädt sich all mein Frust. Längst vergessene Kraft pumpt durch meinen Körper und ich wehre ihre Hände ab. Dabei verpasse ich ihr einen Stoß, der sie nach hinten taumeln lässt. Ihr rechter Fuß verhakt sich am Tischbein, sie rudert mit den Armen, fegt Geschirr vom Tisch, erwischt die Kaffeekanne, blökt wie eine Kuh.
Was zuerst auf den Boden aufschlägt, kann ich nicht sagen: Die Kaffeekanne oder Alva. Die Kanne zerspringt und verteilt Kaffee auf den Fliesen. Alva schlägt mit dem Hinterkopf auf. Ein seltsam schmatzendes Geräusch. Eine rote Lache bildet sich um ihren Kopf. Der Kaffee ist dünn, ihr Blut ist dick. Alva rührt sich nicht. Ich rühre mich auch nicht. Stehe da und blicke auf Alva herab. Wie sich Kaffee und Blut vermengen, das hat etwas Surreales. Und Alva sieht friedlich aus.
Auch ich fühle mich friedlich. Befreit. Noch immer brandet diese Kraft durch meinen Körper. Mein Herzschlag gleicht einer mächtigen Trommel. Doch je länger ich dastehe, desto schmerzhafter werden diese Trommelschläge. Ich atme gepresst. Wirbel tanzen vor meinen Augen. Der Schmerz strahlt bis in den Arm.
Durch die aufziehenden Schleier suche ich meine Tabletten.
Das vernarbte Schälchen hat Alma vom Tisch gefegt. Diesmal wird niemand die Splitter zusammenflicken. Ich habe Glück: Wie kleine Inseln leuchten die Tabletten aus dem braunroten Ozean heraus.
Als ich mich nach ihnen bücke, rutsche ich in dem Gemisch aus Blut und Kaffee aus. Ich rudere ähnlich elegant wie Alva zuvor mit den Armen, verliere die Balance. Der Aufprall ist weich, denn ich klatsche auf Alvas Brust. Blätterteig kitzelt mir in der Nase.
Ich will mich hochstemmen, doch der Schmerz wühlt nun in meinem gesamten Körper und lähmt mich.
Alvas Oberkörper vibriert. Ja, ich spüre es ganz deutlich. Und durch das Rauschen in meinen Ohren kann ich es nun auch hören: ein leises Summen. Mit letzter Kraft schaffe ich es, den Kopf zur Seite zu drehen. Durch den dunkler werdenden Nebel starre ich in Alvas Gesicht. Nun hat auch sie ihre Maske fallen gelassen: Sie grinst mich höhnisch an. Und summt ein Lied. Der Titel leuchtet vor meinem geistigen Auge auf, doch als ich danach greifen will, verschwindet er in der Dunkelheit - und reißt mich mit sich.