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Goldgerahmt
Ich bin Franzose. Und ich bin Patriot. Ich liebe alles, was Frankreich stark, stolz und schön macht. Am meisten jedoch liebe ich die Frauen. Sie sind meine Obsession. Glücklicherweise bin ich in der Lage, frei über meine Zeit verfügen zu können.
Wochentags führt mich mein Parcours zum Fluss hinunter. Junge Frauen genießen hier ihr Leben, indem sie das schönste Kind unter der Sonne in einem sehr modernen Kinderwagen spazieren fahren oder indem sie joggen, raffiniert angetan mit als Sportkleidung ausgewiesener Mode, die ihre schon auf hundert Meter gut wahrnehmbaren Vorzüge überflüssigerweise noch einmal unterstreicht und mit drei Ausrufezeichen versieht. Und die viele makellose Haut beim Sonnenbad! Ständig verrutscht irgendetwas, wenn sie sich cremen oder wenden oder ihre Sonnenbrille suchen. Wie gern möchte ich beim Suchen behilflich sein, doch mein Jahrgang darf hier nur auf den Wegen bleiben und sich auf das Flanieren beschränken. Das ist die Tragödie meiner angesammelten Jahre: Erst so spät im Leben wird mir – und wohl auch jedem anderen Mann – bewusst, was für ein beinahe himmlisches Wesen eine Frau doch eigentlich ist! Denn es sind keineswegs nur das schöne Gesicht und die herrlichen Brüste und der dralle Po, nein, es sind auch die wunderbar geformten Schultern, der verführerische Hals, der modellierte Rücken, die Schenkel, die Waden, die Füße, sogar die Zehen – nicht anders die schlanken Arme und Hände mit diesen filigranen Fingern, mit dezent lackierten Nägeln, bei deren Anblick mich lustvolle Erinnerungen überkommen.
Weiter führt mich mein Weg über die immer wieder beeindruckende Brücke mit den vier steinernen Bögen ins Herz der Stadt. Im ältesten Teil, dem weiten Kreis um die Kathedrale, quirlt das Leben. Hier ist das Geld. In gut sortierten Geschäften finde ich die köstlichen Weine aus dem Umland, auch Deftiges und Feines von ebendort.
Oft besuche ich die Städtische Bibliothek.
Lesen bedeutet mir wenig, ich erlebe lieber. Aber um meinen Schatz zu sehen - um die Dreißig mit einer hübschen Figur, mit wunderbaren Augen und Lippen, mit einer göttlichen Haut und feuerroter Kapuze aus leuchtendem Haar - muss ich immer wieder nicht gelesene Bücher zurückbringen und mich erneut von ihr, möglichst ausgedehnt, beraten lassen. Von ihrem Beratungspult gehe ich dann an irgendeinem Regal vorbei, schnappe mir vier, fünf dicke Bücher und eile zur Registratur, damit meine stille Liebe nicht sieht, dass ich ihren Empfehlungen leider auch heute nicht nachkomme. Aber ich will wirklich nur ihre Stimme hören, gleich was sie sagt, in ihre Augen schauen, die durch die modische Brille noch ausdrucksvoller wirken, und ihr Parfüm inhalieren, denn das zieht mich magisch an. Ihr Duft ist unvergleichlich. Eine wunderbare Frau, und nur der disziplinierende Gedanke an mein Alter hält mich davon ab, mich ihr zu Füßen zu werfen und ihr meine Verehrung und Liebe zu gestehen.
Und sonntags ist Museumstag!
Manche Leute geben vor, den Charakter eines Menschen durch das Lesen seiner Handlinien oder die Deutung seiner Handschrift feststellen zu können. Ich dagegen lese vieles klar und deutlich aus dem Gang eines Menschen. Natürlich interessiert mich besonders der Gang einer Frau.
Nichts kann meinen Kennerblick verwirren, denn ich schaue nicht so sehr auf die Schönheit der Beine, nicht auf die Höhe der Absätze, genauso wenig auf die Marke der Schuhe, selbst die roten Sohlen imponieren mir nicht. Bei den Strümpfen allerdings trennen sich die Welten:
Jene ohne Naht sind brave Exemplare, ebenso ihre Trägerinnen. Erspähe ich aber ein tolles Bein in einem Nahtstrumpf, schießt mein Puls nach oben und die Schläfen pochen wie Trommeln beim Zapfenstreich. Ich muss mich setzen.
Aber dieser verflixte Gang - der hat es mir wirklich angetan!
Dabei will ich nichts von der Dame. Gar nichts. Außerdem besteht sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Ölfarbe und Terpentin. Goldgerahmt.
In Öl gefangen, bewegt sie sich selbstverständlich keinen Millimeter von der Stelle, doch ich sehe: Es ist Mai, die Bäume über ihr, eine Art Allee, sind Akazien. Sie blühen weißlich, schon den Honig andeutend, den sie uns schenken wollen.
Ihr eleganter Sommerhut, hinten mit breiter Krempe den weißen Hals schützend und vorn kühn aufgeschwungen, als ob sie dem Leben neben der hohen Stirn noch zusätzliche Angriffsfläche bieten wolle, gefällt mir sehr - weil ein frühsommerlicher Spaziergang unter blühenden Akazien fast eine Gotteslästerung wäre ohne dieses schicke Zubehör. Die Sonne-Schatten-Situation in einer Allee mag es beinahe überflüssig erscheinen lassen - wie auch den zartgelben Sonnenschirm im Ladyformat, fast selbst eine kleine Sonne. Für mich aber sind das keine belanglosen Details, sondern es sind stilvolle Accessoires von allergrößter Wichtigkeit!
Denn es ist leider Tatsache, dass seit langer Zeit weder auf den Avenuen dieser Welt noch auf den nostalgischen Ruderbooten, die auf Schlossteichen und Seen dümpeln, auch nicht beim Champagnerfrühstück auf den Terrassen der Grand Hotels die gutgewachsenen wunderschönen Damen diese, das ganze Sommerbild bereichernden eleganten Hüte tragen. Warum nicht? Wo sind sie? Warum wird uns das Jahr für Jahr vorenthalten?
Das aber trübt nicht mein Verhältnis zum Mai und zum Weib und zur Welt. Die goldgerahmte Dame geht auf eine Weise, die ihre Vorzüge geradezu hinausschreit. Ihre Hüfte überhöht im Schwung den Reiz ihres perfekten Körpers. Mein Herz rast.
Ich erhebe mich von dieser gestifteten Bank. Ein bronzenes Schildchen sagt mir, wer von den Honoratioren es nötig hatte, seinen Namen wenigstens als Spender eben dieser Bank der Nachwelt zu überliefern. Ich habe mich wohl zu ungestüm aufgerichtet, so dass mir ein wenig schwindelt. Aber die Ursache dieses ungewöhnlichen Gefühls ist wohl doch dieses famose Bein, im Strumpf mit Naht, und diese Hüfte mit dem eindeutigen Schwung, der sagt: Nimm mich! Nimm mich, noch hier – auf der Stelle!
Mein Gang ist noch zögerlich, ich weiß nicht so recht, ob ich ein Held der Liebe oder ein Idiot der Liebe bin.
Diese Frau muss wunderschön sein! Der Maler stand hinter ihr. Er hat sie gemalt, wie nur ein die Frauen bewundernder Mann eine Frau malen kann.
Wer so zu gehen versteht, hat viel natürliches Talent, ist schön und sexy. Ein Maler, der das in Farbe erzählt, ist vielleicht weniger schön, doch ganz bestimmt intelligent und mit den richtigen Sensoren ausgestattet.
Die alten Inder haben es schon gesagt: „Wenn Dir eine Frau von hinten gefällt, gefällt sie Dir von vorn noch hundertmal besser.“ Ich will mich nach vorn pirschen – vielleicht gelingt es mir. Ich räuspere mich, denn jetzt muss ich die schöne Frau ansprechen. Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll, ich werde mich tot stellen und sie muss mich durch Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurückholen. Dabei raunt sie mir ins Ohr: „Du verdammter Analphabet, kapierst Du denn gar nichts?“ Sprühende Wunderkerzen tanzen vor meinen Augen, es blitzt und funkt, ihre Rundungen werden zu Befehlszeichen, ihre Lippen sind aus meiner Position zwar nicht erkennbar, doch ich weiß: Sie schreien feuerrot nach Liebe, nach mir, nach Liebe mit mir. Dieser Akazienduft bringt mich um den Verstand. Ich sehe große Brüste mit den zwei wundervollen magischen Punkten. Ich nehme meine Hand wahr, wie sie sich der Königin nähert und in diesen geheimen Grotten mit ihrer vollen Zustimmung eine unglaubliche Verklärung unserer Sinne auslöst. Nur uns gibt es noch und nur die Liebe ist unser Code, unser Schlüsselwort.
Mit all der Intensität und Unbändigkeit habe ich nicht gerechnet. Ein Energiestrom grausamster Stärke durchzittert uns, wir hängen, kleben aneinander. Ihre Lippen können sich nicht entschließen, mich hier oder dort zu verhätscheln und auch meine Lippen fänden tausend Ziele. Doch das uns Männer immerzu begleitende Unzulänglichkeitsgefühl ist auch heute dabei - im tragischen Verbund mit den für immer eingebrannten Erinnerungen an Blamagen und Selbstüberschätzungen vergangener Zeiten. Ein Jammer ist das, ein gewaltiger.
Eh bien – in höheren Regionen ist die Luft dünn. Meine Bleifüße und die leidigen Rückenschmerzen sind ein Fluch und ich muss – so schwer es mir auch fällt - vieles für später zurückstellen.
Meine Superfrau liegt schwer atmend auf dieser billigen Auslegeware. Dieses Museum ist städtischer Besitz. Ihre Lippen sind arg verschmiert und ich bin der einzige Mensch auf Erden, der weiß, warum. Ich drapiere ihre Stola dergestalt, dass Leute, die ihre Qualitäten nicht so genau kennen wie ich, keinen Anstoß nehmen können an diesem entblößten Wunderkörper und den verlangend offenen Lippen. Jetzt fasse ich sie, beherzt und gierig, mit sensibler Hand überall dort an, wo sie es am liebsten hat. Kräftiger fasse und streichle ich, schneller und zuverlässiger. Sie blickt mich an mit irren Augen und ich bin soweit, diesen Blick erwidern zu können.
Da bricht der Goldrahmen um diese schöne Frau und hätte mich fast verletzt. Das teure Glas wird zu hässlichen Scherben. Der Akazienhonig klebt fürchterlich. Ich bin sehr verwirrt. Meine euphorische Hochstimmung stürzt ab wie eine Tontaube durch den Volltreffer eines geübten Schützen. Sie zerstiebt in unzählige Moleküle, von denen ein jedes immer noch schwer genug ist, um wie Hagel niederzugehen. Ich muss mich schleunigst in Sicherheit bringen.
Ein unsichtbarer Pförtner öffnet lautlos die große Glasschiebetür und schließt sie auch gleich wieder hinter mir. So stehe ich im Vestibül. Eine Riesenhalle aus Chrom, Glas und Granit. Auf der einen Seite stehen lange, rotbespannte Bänke unbenutzt in elegant gekrümmten Linien, auf der anderen befindet sich die Garderobe.
Und die Garderobière - was tut sie an diesen schönen Tagen?
Bei Betrachtung der tausend leeren Haken und der dazugehörigen Garderobemarken sage ich ziemlich unoriginell: „Bonjour, Madame. So müsste es das ganze Jahr hindurch weitergehen: Keine Kundschaft, doch das Gehalt bleibt das gleiche wie bei riesigem Andrang mit Regenmänteln und Winterjacken?“
„Ah oui, Monsieur, das wäre schön.“
Ich glaube, sie stammt aus Frankreich in der Karibik. Martinique, Guadeloupe oder so.
„Erraten, mein Herr. Stimmt. Martinique.“
Sie lehnt, leicht nach vorn gebeugt, am Garderobentisch, auf die Ellbogen gestützt und hat das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt. Schöne große Augen röntgen mich und bleiben freundlich. Eine faszinierende Frau: in der Mitte des Lebens stehend, jetzt lümmelnd, heiter mit dieser von uns immer beneideten Mentalität der Kreolen, sicher eine tapfere Mutter, lebenstüchtig und klug. Ich kenne dieses Geräusch, wenn an einem Relais diese metallenen Widerstände ihren Geist aufgeben. Es gibt ein stumpfes Klick oder Klack und dann ist der Widerstand ruiniert.
Widerstandslos gehe ich wie in Trance hinter den Garderobentisch - unendlich langsam, als ob diese Situation zwischen Wahr und Traum durch zu hastiges Tun blitzschnell zerstört werden könnte. Ich schwebe wie im schwerelosen Raum, wo man zuschauen kann, was die eigenen Füße machen, und höre mich sagen: „Madame, wenn jetzt doch Kundschaft käme, was ich aber nicht annehme – dürfte ich Sie dann unterstützen?“
Ihre Antwort ist ein kurzer schriller Piepser, amüsiert, wie mir scheint. Meine Marionettenhände werden - ohne die üblichen Schnüre von oben - von Madames Magnetismus ferngesteuert. Ich umfasse mit aufgerissenen Sinnen synchron, beidhändig mit höchster Anspannung, wie beim Bombenentschärfen, zögernd und fragend ihre Brüste. Es ist grabesstill. Bei der Erschaffung der Welt herrschte die gleiche Atmosphäre. Wie in Zeitlupe richtet sie sich auf, legt ihre Hände auf meine und drückt ihren Körper mit der Urkraft unserer Bestimmung gegen mich. Meine Lippen erobern ein Stück ihres Halses und nach Stunden oder Tagen ein weiteres Stück. Ihr Duft macht mich handlungsunfähig und hyperaktiv zugleich. Endlich weiß ich, warum ich auf der Welt bin! Die tausend Stufen zum Tempel der Erkenntnis hätten es mich nicht gelehrt.
Plötzlich tauchen Schatten irgendwelcher Leute auf. Noch bevor wir ihre Stimmen vernehmen können, werden meine gierigen Hände entschlossen umfasst und wir flüchten in herrlicher Übereinkunft zu einem dieser von den französischen Gewerkschaften hart und mühevoll erkämpften Sozialräume.