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Goldregen
Goldregen
Mit dem wunderlichen, wohl nur wahren Künstlern vorbehaltenen Genuss, wider dem anerzogenen, vernünftigen Wissen um Lebenserhaltung zu handeln, sog Claudio Bröker die letzten Züge des schwarzen Giftes aus seiner weißen Ummantelung. Ächzend bewegte sich sein dürrer, kleiner Körper in Richtung der kahlen Dachgeschosswohnung, welche er sein kümmerliches Eigen nannte.
Den heißen Nachmittag hatte der endzwanzigjährige Schriftsteller mit selbst auferlegten, sinnfüllenden Pflichten verbracht; Lästige Korrespondenzen mit Bewunderern, die, einmal ein Stück Größe, Talent und Persönlichkeit hingeworfen, auch nach inständigen Bitten Brökers das Schreiben nicht aufgaben, sondern sich, mit überheblicher Einbildung, auf den Weg des Ruhmes wähnten, und ihn mit ihren Wortvergewaltigungen quälten.
Auch das beginnende Schwarz war an diesem Datum, wie im gesamten Monat August, von erstickender Schwüle, so dass Claudio die weiteren Aufknöpfmöglichkeiten an seinem Hemd abgingen. Die nähere Umgebung des münsteraner Aasees war gesäumt von Nachtfaltern, welche zuchtlos den weltlichen Vergnügen frönten.
Bröker bemerkte plötzlich eine ungeheuerliche Masse von südländisch anmutenden Evastöchtern, die ihm, allerdings auf der gegenüberliegenden Straßenseite, entgegen kam. Er berechnete heftig überschlagend, dass ihre genaue Ziffer die Zweihundert tatsächlich knappstens überstieg. In einzelnen Schwärmen eroberten sie jedwede, umkreisende Aufmerksamkeit. Mit seiner, in lebenslanger Einsamkeit gereiften Erfassungsgabe betrachtete er die Frauen durch seine weiten, grünlichen Augen, und stellte einen gehörigen Unterschied der Menschheitsstadien fest, dergestalt, dass sich einige mitten im Leiden des jugendlichen Heranwachsens, andere in ungewisser Erwartung ihrer prophezeiten, besten Jahre befanden.
Sirenengleich begannen die Jüngeren, nachdem sie die ausgiebige Begutachtung Brökers hatten freiwillig über sich ergehen lassen, verlockende Rufe, die ihre Herkunft preisgaben, in seine Richtung zu senden. Das „Hola“ und „Buenas Noches“ würdigte Claudio mit einem Nicken seines kindlichen, glatt rasierten Gesichtes.
Dieser Goldregen, zu welchem er die Spanierinnen in seinem romantisch veranlagten Geist poetisierte, faszinierte ihn über alle Maßen, so dass er seinen Gang beendigte, und ihnen nachschaute, bis sie, von Häusern verdeckt, in die Stadtnacht entschwanden. Bereits hier drängte sich ihm die Idee auf, schon bald, zum ersten Mal seit vielen Monaten, wieder am treibenden Nachtleben teilzunehmen.
Als jenes morgendliche Strahlen seinen zu schmalen Vorhängen auswich, erwachte Bröker früher, als erprobte Gewohnheit seiner inneren Uhr eingeprägt hatte. Semmel und Käse gewährte er, noch einen weiteren Tag vor der Zersetzung in ihren einzelnen Bestandsstoffen bewahrt zu werden. In eleganter Geraderobe, mit linealgetreuem Scheitel im dunkelblonden Haar, bewanderte er Münsters Straßen, in der kühnen Hoffnung, eines, oder, wenn das utopischste Szenario eintreten sollte, sogar alle der gesandten Göttlichkeiten zu erblicken. Doch Unerfülltheit ergriff diese Ausmalereien, so dass Claudio unzufrieden zurückkehrte, und das Sonett „Goldregen“ in einem Zug niederschrieb.
Dichten- Dies war sein liebstes Schaffen. Novellen verfasste er für den Markt. Erst nach gründlichster Vorarbeit wollte er mit seinem ersten Roman beginnen.
Merkwürdigerweise erschien ihm sein neuestes Werk als wenig gelungen. Einen gewissen Mangel an Fähigkeit zur höchsten Konzentration ergründete er als Quelle dieses Qualitätsschwundes.
In unsinnigem, weil aussichtslosem Rätseln über Metrik, Reim, und Bildhaftigkeit genoss Bröker seine seit langem üppigste Abendmahlzeit, beim Buffet in der Mensa.
Stimmengewirr! Laut ansteigend. Spanien sandte seine Vorhut. „Buenas Noches!“ . „Vamos!“ –Schlachtrufe des Amazonenheeres. Siegeszug nach erfolgter Bestürmung.
Überwältigt verließ jede Kraft Claudios Hände, Besteck klirrte unter konventionellem Aufsehen. Er verharrte eine Weile an seinem Platz, um dann spät, inmitten der Spanierinnen, das Gebäude zu verlassen. Auf dem Vorhof beglückten sie ihn mit religiösen Gesängen, mit ausgelassenen Tänzen, während er mit vorgetäuschten Suchhandlungen versuchte, seine Gegenwart zu rechtfertigen.
Welch geheimnisvolles Vorhaben führte sie in die Kreise des Künstlers? Hatte das Schicksal „geschockt“, und ihm erneut die tiefsten Ziffern zugewiesen? War diese Versuchung von einer Vorsehung geplant, als schwere Prüfung seiner Asketik?
Leicht hätte ein gewöhnlicher Mensch, durch einfachstes Fragen, die genauen Gründe ihres Aufenthalts erforschen können. Nicht so Claudio Bröker.
Den Wunsch nach Aufklärung, das Streben nach Wahrheit vermochte er nicht zu befriedigen. Kein Wort floss aus seinem Mund. Soziale Angst lähmte ihn, fußend auf einen angeborenen, melancholischen Charakter.
Schwelgen konnte er. Wie er es immer getan hatte. In all seinen unzähligen, unglücklichen Liebschaften, war im stets allein das Schwelgen in Schönheit geblieben.
Keine Erwiderung, keine Berührung, kein Glück. Die Pforte zum Paradies der Lust, der Freundschaft, der Zweisamkeit blieb für ihn verschlossen. Er sah andere munter hineinspazieren, ihm wurde der Zugang verwehrt. Und ein Lohn ausbezahlt. Ein wenig Ruhm für seine Werke. Handel mit dem Fatum. Dabei war Nichts des Paradieses, einem Ort der Leidenschaft, würdiger, als die Seele von Claudio Bröker.
Der Schönheitsschwarm begann mit einer kontrollierten Teilung. Während die Einen, welche bereits in üppigsten Formen erblüht, zum nächtlichen Marsch auf die Stadt, und zu wollüstigen Abenteuern aufbrachen, mussten die Anderen, körperlich zwar durchaus befähigt, die Lustakte in glänzendster Weise aufzuführen, doch durch feige Normen und hilflose Gesetze noch zur Keuschheit gezwungen, den Weg zurück in ihr Jugendhaus antreten, klagend über ihre zu späte Geburt.
Blicke der Verführung streiften Bröker, der ja gewillt war, sich der ersteren Gruppe anzuschließen. Was zwang ihn bloß zurück in die Wohnung? Im qualvollen Pendeln zwischen Sehnsucht und Pflicht verrauschte ihm der Abend fort. Mit geringem Vergnügen, bedingt durch sein, selbst ihm als verabscheuungswürdig erscheinenden Verhalten, sah er das Quartett streiten, über seinen haarfeuerroten Vorgänger. Neidvoll bedachte er dessen Mut, bevor dann Claudios heldenhafte Stunden anbrachen, die Zeit der Träume.
Der nächste Tag war sogar in Gänze dem Studium der Spanierinnen gewidmet. Spionartig drangen Brökers Blicke in ihr Haus. Allerdings lief er äußerst amateurhaft, mit unprofessioneller Nervosität, am Aasee auf und nieder, skizzierte mit übertriebenen Gesten seine Notizen, rauchte feierlich, so dass jedes Fernbleiben einer wegen verdächtigen Aktivitäten alarmierten Polizeieinheit wie ein Wunder wirkte.
Zum Zeichen der Inbesitznahme schmückte das rotgelbrote Nationentuch das Lager. Und kurz darunter schimmerte Spaniens Stolz durch die Gardinen. Heißblütige Busen, bar jeder Bekleidung.
Verschämt wandte Claudio sich ab, und bat eine ausschließlich für ihn zuständige Institution um Vergebung. Nach abgeleisteter Buße, und einer nur von ihm vernehmbaren Erteilung der Absolution, schlossen sich seine Augen in innigster Spiritualität.
So umblast durch eine Hülle der Heiligkeit, näherten sich sechs Spanierinnen, von Bröker völlig unbeachtet. Erst als die Verbindung zum Fatum gelöst, und eine neue mit der Welt zustande gekommen war, gerieten sie ins Visier des Künstlers.
Zwei stachen hervor. Ein noch junges, sehr kleines Exemplar, mit schwarz gelocktem Haar, bebrillt, und mit nichts sagender Kleidung, starrte voll Bewunderung auf ihre blonde Freundin, welche im kurzen Rock und schulterlosem Oberteil Bröker recht kecke Blicke zuwarf. Verängstigt wich Claudio zurück.
„Schau nicht so auf mich.“, wollte er sagen, „Du bist gewöhnlich. Eine jener Blonden, unzählig in deiner Welt. Und du, lockige Königin! Bewundere sie nicht. Ich will ja nur dich. Du bist geheimnisvoll, mit unerweckter Leidenschaft. Jeder geistvolle Mann wird dich erwählen.“ Doch er sprach nicht, sondern flüchtete, mit der Erleichterung im Kopf, über zwei verführungslose Tage verreisen zu müssen.
Claudio Bröker hatte Geburtstag. Verwandte, die wenigen Freunde, und selbstredend seine Familie waren ins Elternhaus geladen. Alljahrwiederkehrend die gewohnten, unwissenden Vorwürfe, die gleichen, gut gemeinten Ratschläge.
„Erlerne einen anständigen Beruf. Gründe eine Familie.“ Der Onkel Marcel, Lehrer der Germanistik, hielt ihm vor, seine Werke seien wenig zeitgemäß.
In Brökers Benehmen hatten sich früh sonderbare Züge gezeigt. Nie hatte ihn die patriarchische Familie als Mitglied akzeptiert. Ruhm errang der Bruder. Geliebt von Vater und Mutter, geschätzt als Sportler, später als Arbeiter.
Wenn er allen doch erklären könnte, dass er zum Künstler auserwählt wurde, dass jedes Werk, jeder Satz, jedes Wort nicht von ihm geschaffen wurde, sondern dies Alles ihn als Werkzeug gebrauchte.
Plötzlich, in einer von Claudio als nichtig erachteten Diskussion über den Ausgang der Wahl, erfasste ihn ein neuer Gedanke. Die Möglichkeit eines Triumphes: Wenn er das Lockenkind eines Abends anspräche, wenn er sie überredete, mit ihm nach Haus zu gehen, oder wenn er auch nur eine Einladung zum Besuch in Spanien bekommen würde, wäre dies nicht anerkennungswürdig, in den merkwürdigen Maßstäben der Gesellschaft? Würde man ihm dann nicht mit Respekt begegnen?
Im Zug zurück nach Münster komponierte Claudio, des Spanischen durch Autodidaktik vollstens mächtig, seine Verse für die Angebetete. Die mutdurchblutete Brust schwellend gespannt, schritt er dann entschlossen zum Haus der Spanierinnen. Doch ein Bus, mit Temperament gefüllt, begann vor seinen Füßen die Reise in den Süden.
Viele starrten Bröker durchs Fenster an, einige winkten. Die Blonde lächelte höhnisch. Das Lockenkind widmete ihm ihre ersten Liebestränen.
Claudio Bröker verneigte sich demütig.