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Golem von Rothenfeld

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03.10.2020
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Golem von Rothenfeld

Karl Hartung parkte den Golf in der Garage. Bevor er den Motor ausstellte, blickte er auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Zeiger waren leicht verschwommen. Dreiundzwanzig Minuten nach zwei. War er diese Woche in der Spätschicht eingeteilt, oder hatte die Nachtschicht bereits begonnen? Er konnte sich nicht erinnern. Gleich morgen früh würde er den Kalender prüfen.
Unterwegs war ihm die Ruhe in Rothenfeld aufgefallen. Keine anderen Autos auf der Hauptstraße. Nur der Asphalt, die Scheinwerfer, der leere Parkplatz vor dem SPAR, der stillgelegte Bahnhof. Straßenlampe um Straßenlampe zog über die Frontscheibe. Hinter den Fenstern kein Licht. Außer beim Motel, das den Prostituierten aus Osteuropa und Afrika einen Unterschlupf bot. Ein Mädchen so dunkel wie gebrannter Ton hatte ihm zugewinkt.
Beim Verlassen der Garage fiel ihm auf, dass das Haus dunkel war. Drinnen nahm er ein Dosenbier aus dem Kühlschrank und setzte sich aufs Sofa vor den Fernseher. In der neutralen Umgebung des Wohnzimmers roch er sich selbst: Eine Mischung aus feuchtem Lehm, Salz und etwas Metallischem, Verbranntem. Das kalte Bier rann seine Kehle hinunter, als müsse er die Nachglut seiner Arbeit löschen.
Vielleicht läuft noch ein Spätfilm, dachte Karl, blieb dann jedoch bei einer Wiederholung der Lokalnachrichten hängen. Der Mann, der zwei Jungen entführt hatte, war nahe der holländischen Grenze in einem Rübenfeld gefasst worden. Die beiden Opfer schienen erschöpft, aber wohlauf, er hatte sie mit Handschellen an sich gekettet. In Altwinter war der Bach über die Ufer getreten und lauter Fische zappelten auf der Dorfstraße. Jemand war mit einem Traktor durchgefahren und hatte eine Sauerei hinterlassen.
Danach zeigte der Fernseher auf allen Kanälen nur noch das Testbild mit Piepton oder rauschendem Schnee. Karl Hartung stellte die leere Dose auf das Tischchen, erhob sich und ging ins Schlafzimmer. Zog sich aus. In der Dunkelheit glaubte er, das Grollen und Zischen der Brennöfen zu hören. Er nahm den schweren Geruch der Ziegelei mit sich unter die Decke, wo Martha mit dem Kopf zur Wand leise schnarchte, als wäre sie vor ihm in den Schlaf geflüchtet.

Am nächsten Morgen traf er sie in der Küche. Karl fand, Martha sah gut aus im Nachthemd. Das Radio lief. Sie hatte Kaffee aufgesetzt und auf dem Tisch stand ein Teller mit kleinen Pfannkuchen. Normalerweise waren es zwei. Dass einer fehlte, ließ er unkommentiert. Draußen auf dem Rasen glänzte der Tau. Von hier aus konnte er ihn sehen, den hohen Schornstein der Ziegelei, das Wahrzeichen von Rothenfeld. Als Karl sich streckte, krachten seine Knochen.
Wirst ein alter Knacker, sagte Martha und lachte. Aber ihr Blick entlarvte das Lachen als falsch. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Die Arbeit in der Brennerei machte seine Haut trocken und spröde. Er hatte sich an das Spannen gewöhnt und auch daran, dass Martha ihn nur noch selten berührte. Wahrscheinlich sah es in ihm drinnen nicht besser aus. Manchmal hatte er das Gefühl, er atme Kohle und Ruß. Sobald er sich an den Tisch gesetzt hatte, drehte Martha das Radio leiser.
Was war gestern los?, fragte sie.
Arbeit. Nichts als Arbeit, sagte er.
Und da gedenkst du nicht mal zu duschen? Das ganze Haus stinkt nach Brennerei!
Tut mir leid!, sagte er und begann zu essen. Ich war einfach zu müde.
Martha schlug mit der flachen Hand auf die Tischfläche. Ach komm, du spinnst doch!
Hättest halt mal auf mich gewartet, sagte Karl und schaute auf den Kalender. Laut diesem hatte er schon die drei letzten Nächte Arbeit gehabt. Gestern war er demnach zu früh nach Hause gekommen. Ja, das Datum war zweimal umkringelt, eindeutig Nachtschicht. Aber das waren die Tage der zwei letzten und der zwei nächsten Wochen auch.
Welchen Tag haben wir heute?, fragte er.
Mittwoch.
Ich mein das Datum, sagte er und tippte auf den Kalender.
Der dritte September. Gib Bescheid, wenn du auch noch das Jahr brauchst, antwortete Martha zerknirscht, lockerte aber sogleich ihren Tonfall. Jetzt sag mal, geht’s dir nicht gut?
Karl kratzte sich am Hinterkopf. Die langen Schichten machen mir wohl zu schaffen, sagte er. Unser Vorarbeiter, dieser Kruppke, macht uns echt die Hölle heiß.
Wieso hab ich nicht geduscht?, fragte er sich. Weil du dich so an diesen Geruch gewöhnt hast, dass er ein Teil von dir geworden ist, hörte er Martha die Antwort geben. Aber die blickte ihn nur von der Seite an.
Vielleicht solltest du mal zum Arzt?, schlug sie vor.
Musst dir keine Sorgen machen!, sagte er und winkte ab.
Er erhob sich, immer noch kauend, und küsste sie auf die Stirn.
Bis heut Abend. Und danke für die Pfannkuchen!
Du hast doch noch gar keine Schicht!
Flüchtig dachte er an die Nachrichten aus Altwinter, an das Bild der zappelnden und zermatschten Fische. Ein elender Tod durch Ersticken und Zerdrücktwerden.
Ich fahr an den See zum Angeln, sagte er.
Jetzt? Ist doch schon zu spät!
Als ob du dich damit auskennst!, antwortete er, ein wenig schärfer als beabsichtigt.
Sie wandte sich ab und sagte nichts mehr. Karl legte ihr eine Hand auf die Schulter, wusste nicht, was er sagen sollte. Es gab keine Erklärung. Er fühlte sich hilflos, sein eigenes Verhalten kam ihm fremd vor. Sie waren fünfundzwanzig Jahre verheiratet. In diesem Moment realisierte er, dass er seine Frau nicht mehr verstand.

Karl erinnerte sich an einen seiner ersten Arbeitstage in den 60ern. Damals hatten sie noch mit Loren gearbeitet, wo es heute Förderbänder gab. In der Mittagspause erzählte man sich, im zweiten Eröffnungsjahr soll ein ganz besonders ekelhafter Vorarbeiter angestellt gewesen sein. Einem aus seiner Mannschaft habe er psychisch so zugesetzt, dass sich dieser nachts in dessen Haus geschlichen und ihn mit einem Beil erschlagen hatte. Danach zerhaute der Arbeiter seine Leiche in handgroße Klumpen, die er zusammen mit seinen Kumpels noch in derselben Nacht in den Lehm und schließlich in die Ziegel einarbeitete. Heute gäbe es in der ganzen Umgebung von Rothenfeld Dächer, die mit jenem Vorarbeiter versetzt waren.
Karl lenkte den Golf auf den Vorplatz. Die Fassade am Verwaltungsgebäude war abgebröckelt. Auf einem stählernen Schild stand die Aufschrift Ziegelei Rothenfeld GmbH. Er parkte neben einer der Backsteinhallen. In den Fensterbändern war jede zweite Scheibe gesprungen. Die Gebäude hier sind Ende der Zwanziger errichtet worden, hatte ihm Kruppke erklärt.
Ebendieser Kruppke kam ihm jetzt eilig entgegen. Sein verwaschener Overall war voller Staub und unter den Achseln dunkel vom Schweiß. Er schob seine Schirmmütze hoch, die ihm tief in die Stirn gerutscht war, und sein Gesicht wirkte ausgemergelt, die Augen wie verglast von der Glut der Öfen.
Scheiße, Hartung, wo waren Sie?, schnauzte er.
Was? Bei meiner Frau. Ich hab geschlafen.
Kruppkes Lachen klang so trocken wie die Luft, die beim Pressen des Lehms entwich. Und wie Sie geschlafen haben! Lösen Sie sofort Scholz ab, der kippt nächstens aus den Latschen!
Schon gut, bin ja schon dran, sagte Karl und ging an ihm vorbei, über den Platz zum Tor ohne sich umzudrehen. Vor der Halle Ziegelstapel, pyramidenförmig aufgeschichtet, flatternde Planen. Die alten Gleise der Loren zwischen Unkraut im Beton versunken. Regen fiel in dünnen Fäden. Auf dem Rohmaterialhügel lag ein stumpfer Glanz, dahinter die Lehmgrube, die in matschige Rinnen zerflossen war. Der Ringofen stand noch, obwohl man auf Tunnel umgebaut hatte. Aus der Halle drang das dumpfe Stampfen der Strangpresse, begleitet vom Schnappen der Schneidmaschine.
Aber etwas stimmte nicht. Die Presse klang zu hohl, das charakteristische Zischen fehlte, als würde sie im Leerlauf arbeiten. Rasch betrat Karl die Halle, eine Wand aus Hitze und Staub schlug ihm entgegen. In einem Wellblechcontainer befand sich die Umkleide. Karl nahm seinen Overall und die Arbeitsschuhe aus dem Spind und zog sich um. Nachdem er einen sauberen Spachtel und eine Schaufel ohne wackelndes Blatt gefunden hatte, eilte er durch die Halle zu Scholz’ Arbeitsplatz.
Die Halle war hoch, das Dach aus Eisenstreben und Glasplatten, viele von ihnen blind vom Staub. Einzelne Neonröhren flackerten und das Licht brach sich wie in einer Nebelkammer. Die anderen Arbeiter nur dunkle Schemen, ihre Bewegungen mechanisch. In den Tunnelmündern ein Glosen und Flackern. An den Backsteinwänden Kondenswasser, Haufen von Ton und Ziegelbruch. Karl fand Scholz und verstand, wieso die Presse nicht korrekt arbeitete. Der Mann stand mit der Schaufel in der Hand vor dem Rohmaterial und starrte auf den Boden.
Was machst du da? Gibt’s ein Problem?, fragte Karl.
Scholz fuhr herum, sichtlich erschrocken, und hob die Schaufel, als wolle er sie seinem Kumpel über den Schädel ziehen. Auf seinem Gesicht hatten Schweiß und Staub eine graue Pampe gebildet. Karl wich einen Schritt zurück, hob abwehrend die eigene Schaufel.
Hey, ich bin’s, Mann!, sagte er.
Die Presse schlug hohl und der Einfülltrichter rüttelte. Scholz’ Schultern sackten zusammen und er ließ die Schaufel sinken.
Ach ... Hartung, sagte Scholz mit brüchiger Stimme, als würde er ihn erst jetzt erkennen. Endlich, ich halte das nicht mehr aus!
Bin bisschen spät, was? Hab einen Anschiss gekriegt von Kruppke, antwortete Karl. Wieso unterbrichst du die Produktionskette? Arbeiten an den Öfen?
Weiß nicht, ob jemand von den Brennern da ist, sagte Scholz und zeigte auf einen der Tunnel. Hab schon lange keinen mehr gesehen.
Ist ja gut. Geh nach Hause und schlaf dich aus, ich übernehme jetzt.
Ohne weitere Worte stolperte Scholz an ihm vorbei und Karls Blick verfolgte ihn, wie er durch die Halle auf den Container zu torkelte. Was stimmt mit dem nicht? Wahrscheinlich überarbeitet, wie wir alle, dachte Karl und verschaffte sich einen Überblick. Scholz hatte nicht nachgeschaufelt, es gab jede Menge verklumpte Stellen und die Masse war schlecht im Trichter verteilt. Karl brauchte fünfzehn Minuten, um die Presse wieder ordentlich in Gang zu bringen. Wieso hatte niemand Scholz zurechtgewiesen? Wie lange hatte der auf den Ton gestarrt, wie so’n versteinerter Götze?
Schon nach kurzer Zeit setzte Karl die Hitze zu, die Lärmkulisse lullte ihn ein, machte seinen Kopf schwammig. Erneut kamen ihm die Fische auf der Dorfstraße in den Sinn. Genauso fühlte er sich. Kurz vor dem Ersticken und die Maschine schlug das Leben aus ihm. Als er einen besonders widerspenstigen Masseklumpen flach klopfte, bemerkte er es plötzlich. Auf den ersten Blick war es nicht besonders gut erkennbar, weil die Konturen sehr unförmig waren und er bereits die eine Hälfte abgegraben hatte. Im Lehm war ein Gesicht!

Zurück zu Hause stürzte er sich unter die Dusche. Unter dem Strahl klang es, als würde seine Haut zischen, und dichter Dampf füllte den Raum zwischen Wand und Vorhang. Wie lange er mit kaltem Wasser die Hitze aus seinem Körper trieb, konnte er nicht sagen. Schlussendlich stieg er aus der Wanne, trocknete sich ab und legte sich ins Bett. Versuchte zu schlafen.
Dabei wälzte sich hin und her, weckte Martha auf. Hast du Alpträume?, fragte sie verschlafen und schob seine Hand weg.
Nein, kann nicht einschlafen, murmelte er.
Du bist so kalt, sagte Martha. Wie lange warst du unter der Dusche?
Ich verbrenne innerlich!, antwortete er mit schwerer Zunge. Ich könnte glatt –
Vergiss es!
Karl drehte sich vom Bauch auf den Rücken. Dabei berührte er Martha an Arm und Bein.
Ich bin nicht in Stimmung! Du bist ein Eisklotz!
Seine Kehle brannte, er musste dringend etwas gegen die Trockenheit unternehmen.
Apropos Eis, sagte er und sein Atem pfiff. Haben wir noch welches?
Was?
Vergiss es, sagte er und stieg aus dem Bett.
Im oberen Eisfach fand er, wonach er gesucht hatte. Vanille-Erdbeere mit Sahne. Mit einem großen Löffel schaufelte er die wohltuende Kälte in sich hinein. Karl dachte daran, wie er mit zwei Lehmgestalten über ein Feld floh. Sie waren mit Handschellen an ihn gekettet. Der Kleinere, der mit dem verklumpten und plump gestalteten Kopf, vervollständigte das groteske Halbgesicht, das er zuvor in der Tonmischung der Ziegelei gesehen hatte. Es war noch feucht, zerfloss beinahe, und musste ausgehärtet werden.
Martha kam in die Küche. Ihr Nachthemd flatterte im Durchzug. Als sie Karl anblickte, waren ihre Augen wässrig vor Tränen.
Was machst du da?, fragte sie und ihre Stimme zitterte. Deine Hände sind ja voller Lehm! Sie hielt sich am Rand der Spüle fest. Karl fuhr sich über die Lippen, spürte den kochenden Atem.
Ich muss mich doch nur abkühlen!
Du machst mir Angst, sagte sie und schlug die Hände vors Gesicht.
Er ließ Martha und das Eis stehen und hastete aus dem Haus. Setzte sich in den Golf. Die Fahrt durch Rothenfeld nahm er kaum wahr, er schaute nicht auf die Straße, sondern zum Schornstein, der sich über den Dächern erhob. Der Industrieschlot, sein Leuchtturm. Ein archaisches Verlangen übermannte ihn: Feuer mit Feuer zu bekämpfen, sich in die Glut zu legen, die Haut zu Ton zu brennen. Alles wäre weniger heiß, erträglicher als sein momentaner Zustand.
Trotz der Not machte er sich die Mühe, seinen Overall in der Umkleidebaracke anzuziehen. Karl Hartung hatte nach Jahrzehnten Arbeit die Routine wahrhaftig verinnerlicht. Die Schnecke aus Stahl drückte den Ton im Zylinder nach vorne. Das Saugen der Vakuumkammer. Die dumpfe Wucht der Presse. Aus der Matrize der kontinuierliche Strang rechteckiger Ziegel, und das harte Ssssst! der Schneidvorrichtung. Monotonie in ihrer pursten Form.
In der großen Halle fiel ihm das Fehlen der anderen Arbeiter auf. Die Ventilatoren mussten kaputt sein. Der Dampf und der Staub standen so dicht, dass er die Backsteinwände kaum sehen konnte.
Dann hörte er Stimmen aus dem gegenüberliegenden Tunnelofen. Hastig schritt er auf ihn zu, hinein in den Atem der Ziegelei. Rötliches und oranges Licht floss über die Wände, hypnotische Lavaströme, und er sah die Schatten der Arbeiter schwerbeladene Schaufeln heben. Sie beluden einen der feuerfesten Wagen aus Schamottstein. Schlugen mit den Schaufelblättern auf den Haufen, formten ihn zu einer menschenähnlichen Figur aus frischem Lehm.
Scholz drehte sich um. Er hatte sich Hautstreifen von der Stirn gekratzt. Kochendes Blut lief ihm über das Gesicht, verdampfte zischend, bevor es sein Kinn erreichte. In den verdorrten Augen und den Rissen in seiner Haut flimmerte Hitze. An seinem ölig glänzenden Overall klebten Fetzen.
Hilf mit!, sagte Scholz. Ich hab den Vorarbeiter erschlagen und jetzt arbeiten wir ihn in die Ziegel ein! Den lassen wir jetzt richtig brutzeln!
Karls Stiefel klebten und er roch einen säuerlichen Gestank. Er stand mitten im zerhackten Kruppke. Kurz blieb er teilnahmslos, starrte auf die faustgroßen Fleischklumpen, die Überreste von Kruppkes Innereien, selbst der Brechreiz blieb aus. Dann übernahm endlich sein Fluchtinstinkt. Er floh, rannte durch den Tunnel, verfolgt vom Gelächter seiner Kumpels.
In der Umkleide riss er sich den Overall vom Leib und zog seine Kleidung an. Schlafmangel! Er musste halluzinieren, weil er nicht wusste, wann er zuletzt ein Auge zugemacht hatte. Er hatte Schreckliches gesehen. Doch im Grunde war es ihm bereits egal. Nun konnte er es nicht mehr aufhalten. Zumindest dachte er das so lange, bis die letzten menschlichen Empfindungen, Angst und Panik, seine Nervenenden wieder auf Hochtouren brachten.
Beim Überstülpen der Socken fiel ihm auf, dass er aus allen Poren dampfte und seine Finger verkohlte Stellen auf der Baumwolle hinterließen. Auf einem verbeulten Blechschild stand die Aufschrift: Wir achten das deutsche Arbeitsgesetz für Schichtarbeit! Keine Schicht länger als 12 Stunden!
Karl dachte an die osteuropäischen und afrikanischen Mädchen, an die Huren im Motel. Sie hatten die beste Waffe bei der Bekämpfung der Hitze. Für Linderung verkauften sie ihre Körper. Er hätte seinen am liebsten abgestreift wie ein steinernes Korsett und ihn ausgetauscht. Diese Gedanken kamen ihm nicht abwegig vor, denn mit Martha hatte er jahrelang keine Intimität gelebt. Vielleicht brauchte er ja nur eine Frau, um das Feuer in ihm abzukühlen.

Karl verließ die Ziegelei. Hinter der Grube und dem Feld konnte er das Motel sehen. Das rote Licht. Er rutschte in die Lehmgrube hinunter, was seine Schuhe endgültig ruinierte. Auf der anderen Seite kämpfte er sich nach oben, grub mit den Händen neue Rinnen, bis er von Kopf bis Fuß mit grauem Ton bedeckt war. Dann hastete er über das Feld, stolperte immer wieder, das Motel im Blick.
Im Eingangsbereich gab es eine Bar. Die Wände waren mit violettem Samt überzogen, der sich leicht kräuselte, wenn er ihm zu nahe kam. Karl mühte sich schwerfällig auf einen der Barhocker, zwischen zwei Mädchen in spitzenbesetzter Unterwäsche. Eine ältere Hure im Negligé betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Bemerkte sie seine Veränderung? Hatte er sich überhaupt verändert? In der Umkleide gab es keinen Spiegel, also war er sich nicht sicher. Sicher war nur, dass er der Puffmutter gegenübersaß.
Du willst etwas trinken?, fragte sie. Ein Prosecco?
Karl nickte. Ja, bring gleich die ganze Flasche!, verlangte er. Eisgekühlt!
Du müssen bezahlen im Voraus, antwortete die Frau und tätschelte seine Hand. Karl kramte in seiner Hosentasche, legte einen zerknitterten 20 DM-Schein auf den Tresen. Ein Funkenregen fiel von der Decke. Die schweren Vorhänge qualmten und rote Lampen glosten hinter Rattanschirmen.
Da sah er es wieder. Es kam in einem durchsichtigen Nachthemd die Treppe hinab. Das Mädchen mit der Haut aus gebranntem Ton. Auf ihren Brustwarzen klebten kleine Sterne. Sie gesellte sich zu ihren Kolleginnen, die an der Bar saßen und lustlos mit Cocktailspießen in ihren Drinks herumstocherten. Das Mädchen blickte zu ihm herüber. Scheu, aber doch offensichtlich. Sie musste seine Flammen sehen. Die Hure im Negligé brachte seinen Prosecco in einem Eiskübel und nahm den Geldschein mit spitzen Fingern.
Karl leerte die Flasche in einem Zug und schob sich Eiswürfel in den Mund.
Die Mädchen an der Bar begannen zu tuscheln.
Riecht ihr das?, fragte eine. Der Typ ist dreckig wie ein Schwein, sagte eine weitere. Gutgebaut ist er schon, warf eine dritte ein. Aber so versoffen! Bestimmt kriegt er gar keinen hoch!
Du willst nur trinken oder auch Vergnügen?, fragte die Puffmutter.
Ich will die da!, sagte er und zeigte auf das tongebrannte Mädchen.
Ah, du ein Kenner der Exotik! Exquisite Wahl. Sie macht alles für hundert, erklärte sie und klopfte auf den Tresen. Veronica! Kundschaft!
Während Veronica zu ihm herüberkam, überlegte Karl flüchtig, ob er Schuld gegenüber Martha empfinden sollte. Aber nein, die Löschung des Brandherdes hatte Priorität! Das musste sie ihm verzeihen. Zwar war er nicht beim Arzt, wie sie es vorgeschlagen hatte, aber das hier würde ihm genauso helfen. Wenn es nicht sogar besser sein würde.
Veronica lächelte ihn an, etwas steif, aber immerhin. Sie nahm ihn an der Hand und Karl folgte ihr die Treppe hinauf. Sie betraten einen langen Flur und plötzlich war sich Karl unsicher, ob es nicht einer der Tunnel war, der zu den Öfen führte. In Vitrinen standen Lehmfiguren mit aufgequollenen Körpern und verzerrten Gesichtern. Die Schatten seiner Kumpel tanzten mit Glut und Funken über die Wände. Der Teppich am Boden schwelte und der Flur verschwamm in wabernder Hitze.
Veronica öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Dahinter nichts als gleißendes Licht, ein gewölbter Eingang, der tief in das brennende Herz der Ziegelei hineinführte. Er spürte den heißen Atem, hörte das Rauschen der Gasflammen und das Zischen der entweichenden Feuchtigkeit, sah die Brennwagen auf ihren Schienen langsam durch die Kehle des Ofens fahren.
Wollen wir uns ins Feuer legen?, fragte Veronica. Es ist so schön, wenn es uns zu Ton brennt!
Ja, sagte Karl. Einen Moment zögerte er noch, dann trat er ein.

Karl erwachte schlotternd im Rübenfeld nahe der Ziegelei. Tastete blind über seine Kleidung, er trug noch den Overall, der jetzt klamm vor Feuchtigkeit war. Mühselig kam er auf die Füße. Sein Golf stand am Straßenrand. Mit schweren Schritten stapfte er aus dem Feld. Er setzte sich hinters Steuer und raste nach Hause. Seine Abkühlung verflüchtigte sich bereits und die Temperatur im Fahrzeug stieg empfindlich. Der Motor des Golfs und sein Herz waren eins. Karl war geblendet, er konnte nicht sagen, ob der Mond oder die Sonne schien. Die Umgebung verwischte, die Fenster schmolzen in der Hitze und die Karosserie ächzte protestierend.
Im letzten Augenblick drückte er den Knopf des automatischen Garagentors. Nachdem der Motor aus war und durch die Abkühlung leise knackte, saß er einen Moment in der Stille und überlegte, wieso er nach Hause gefahren war. Er sollte seine Sachen packen und sich vom Acker machen. Danach die Scheidung von Martha einreichen. Er würde das für sie tun. Nicht, weil er sie nicht mehr liebte, sondern weil er spürte, dass er nicht mehr derselbe war, dass er nie wieder Karl Hartung sein würde. Aber konnte er das wirklich tun? Das Brennen in seinem Körper trieb ihn ins Haus.
Sein Gesicht spaltete sich, brach auf, machte Raum für etwas Neues. In seiner Haut waren tiefe Risse, aus denen Hitze entwich, und er glaubte, ein Glühen in seinem Fleisch zu sehen. Rastlos fuhr er sich über die Arme, setzte sich aufs Sofa und stand wieder auf, weil er brennenden Stoff roch. Wo war Martha? Karl wollte sich zumindest von ihr verabschieden. Er polterte nach oben ins Schlafzimmer, aber das Bett war leer. Seine nackten Füße hinterließen verkohlte Abdrücke auf den Dielen.
Zurück in der Küche kippte er zwei Liter Leitungswasser in sich hinein, doch es half alles nichts. Bevor es seinen Magen erreichen konnte, verdampfte es zischend. Karl gab sich geschlagen. Verzweifelt stand er vor den Fernseher und knipste ihn an. Die Lokalnachrichten liefen.
Und jetzt noch eine Anekdote, eine kleine Kuriosität sozusagen, sagte der Nachrichtensprecher und lachte in die Kamera. Im Städtchen Rothenfeld erzählt man sich, der neunzehnhundertachtundzwanzig erschlagene Vorarbeiter treibe sein Unwesen als menschgewordenes Lehmungeheuer! Der Sprecher zuckte mit den Schultern und führte sein Mikro ganz nah an den Mund, grinste verschwörerisch. Heute jährt sich sein Todestag. Sollten Sie also dieses Wochenende in Rothenfeld unterwegs sein, passen Sie gut auf!
Die Kamera schwenkte von ihm weg über das dahinterliegende Rübenfeld. Am Rand des Feldes schwelte die ausgebrannte Ruine des Motels im kalten Morgenlicht. Hier soll er zuletzt gesehen worden sein, sagte der Nachrichtensprecher. Sie nennen ihn das tongebrannte Fleisch. Der Golem von Rothenfeld!

 
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Hallo @Rainbow Runner

Dann sage ich mal 'Welcome back!', auf dass Du uns lange erhalten bleibst! Vielen Dank für deine Zeit und deinen Kommentar. Ich habe mich sehr über dein Feedback gefreut.

Zuerst kurz zu deinen Detailanmerkungen:

Irgendwie hat sich seine Frau für mich nicht ganz rund angefühlt.
Ich kann nachvollziehen, wie Du das meinst. Vielleicht sollte ich da noch ein wenig Info zu Martha beifüttern, ihre Reaktionen ausbauen, eventuell auch die Gespräche zwischen Karl und ihr? Das gäbe ihr etwas mehr Substanz, ich sehe schon, dass da noch was gemacht werden könnte. Danke für den Hinweis! Ich überlege mal noch, inwiefern ich ihren Charakter ausbauen kann und will. Viele Leser haben ja gerade die Beziehung bzw. die Schilderung ihrer Beziehung gelobt oder zumindest als Stärke des Textes erachtet. Aber hat mir trotzdem sehr weitergeholfen, dieses Feedback.

Der Vergleich hat schon was, weil er irgendwie diese surrealistische, bedrohliche Stimmung unterstreicht.
Ja, die Nebelkammer, @Woltochinon hat das auch angemerkt. Bisher ist mir noch nichts Gescheites eingefallen ... Ich studiere mal noch etwas weiter an der Stelle rum, sobald ich eine Eingebung habe, ändere ich es auf jeden Fall noch ab!

Du könntest hier ein bisschen verdichten: „hatten Schweiß und Staub eine graue Pampe gebildet“.
Das habe ich direkt so übernommen, danke.

Ich weiß schon „ein ungutes Gefühl beschlich ihn“ ist sehr ausgelutscht. Aber diese Lösung hier finde ich auch nicht optimal. Vielleicht einfach: „Keine Zeit! Er musste schaufeln!“ Irgendwas, dass auch hier mehr Tempo reinbringt. Also nur als Denkanstoß.
Verstehe, wie Du das meinst. War ich auch nicht so super glücklich, mit dieser Formulierung. Habe den Satz jetzt einfach gekillt! :D

Könnte man vielleicht auch eleganter verkürzen. „Kurz vor dem Ersticken, als würde die Maschine das Leben aus ihm schlagen.“
Habe ich so ähnlich übernommen.

Hier muss aber wirklich was weg! Streich das „eindeutig“. Im Lehm war ein Gesicht! Dann haut uns der Satz einfach stärker in die Magengrube.
Da gehe ich mit, habe das 'eindeutig' gestrichen und ein Ausrufezeichen gesetzt. Sehr gut!

„versuchte zu schlafen“ und dann den zweiten Satz weg.
Auch das habe ich in ähnlicher Form jetzt umgesetzt.

Nun gehe ich sehr gerne noch auf dein generelles Feedback näher ein:

Eine Verpflanzung des Golem-Mythos in eine ländliche, strukturell scheinbar schwache Gegend. Das gefällt mir gut. Wenn man mit Horror-Elementen arbeitet, bringt so ein dreckiges, hoffnungsloses Ambiente immer eine gute, zusätzliche Wirkung mit rein.
Herzlichen Dank!

Man fragt sich dann immer: Was ist schlimmer? Das Monster, oder die Menschen, welche diese trostlose Umgebung bevölkern?
Super Reaktion, besten Dank dafür. Das zeigt mir als Autor der Geschichte, dass bei Dir als Leser eine Reflexionsebene ausgelöst wurde, das finde ich natürlich sehr schön.

Und bei der Ziegelei hast du entweder selbst Erfahrungen gesammelt oder wahnsinnig gut recherchiert. Und gäbe es einen besseren Platz, um einen Golem zu erschaffen? Das fand ich schon recht originell.
Ja, das ist tatsächlich recherchiert. Mein Berufsleben (und auch sonst) hat so rein gar nichts mit der Arbeit in einer Ziegelei zu tun. Aber wie schon weiter oben geschrieben, hier in der Nähe gibt es noch eine Ziegelei, manchmal fahre ich dran vorbei, und ich empfand das sofort als faszinierendes Setting für eine Story. Daraus habe ich die Inspiration für diesen Text geschöpft.

Danach wurde es sehr stringent und spannend. Da habe ich keine Kleinigkeiten mehr gefunden und war sehr gespannt auf das Ende. Vor allem war die Stimmung im Puff noch einmal richtig deprimierend.
Wie er selbst realisiert dass ihm außer Arbeit, Besuchen bei den Prostituierten und Bier trinken nichts bleibt, dass ist schon harter Stoff.
Sehr schön zu lesen auch das hier, hat mich wirklich gefreut.

Ich habe es entweder nicht verstanden oder du hast hier einen falschen Tag gesetzt. Humorvoll war für mich nämlich nichts.
Ich denke, der Humor -- wenn überhaupt direkt vorhanden -- ist sehr subtil, ein paar Leser haben den wahrgenommen, so wie ich es intendiert hatte, aber ich verstehe durchaus, dass das nicht bei allen gleich ankommt oder überhaupt ankommen kann. Wenn Dich der Tag auf eine falsche Fährte gelockt haben sollte, so ist das natürlich schade! Ich habe das selber auch schon erlebt (eher das Autoren hier Tags vergessen haben) und ich einen Text 'falsch' gelesen habe (falls das überhaupt möglich ist!).

Und damit sind wir schon sehr nahe an dem was Kafka oder mehr noch Meyrink beschrieben haben: Die Suche nach Identität in einer traumhaften Realität, die sich zunehmend zum Alptraum entwickelt.
Bei dir verknüpft mit einer aktuelleren Rahmenhandlung und einfacherem Schreibstil. Aber das meine ich nicht als Kritik. Denn wer kann schon schreiben wie Kafka oder Meyrink. Das wäre erstens wahnsinnig schwierig und könnte zweitens auch schnell aufgesetzt wirken.
Ja, ich muss zugeben, ich war immer recht defensiv eingestellt, wenn da gleich die grossen Vergleiche gezogen wurden, Stephen King und so. Ich sehe mich rein als Hobby-Autor, ich schreibe, weil ich Freude daran habe, weil ich im besten Falle gerne Leser unterhalten möchte, nicht weil ich irgendwelche Ambitionen hege (auf eine Veröffentlichung, meine ich, das Forum hier reicht vollkommen!). Aber klar, ich bin natürlich inspiriert von dem, was ich selbst so lese. Muss allerdings dazu sagen, Kafka und Meyrink mir nie reingezogen zu haben, aber vielleicht wird's ja mal Zeit dafür? :D Dennoch nehme ich dies mal als Kompliment an, Du verortest den Text sozusagen im literarischen Kanon und hast ja auch die Motive klar erkannt: Identität, Entfremdung, Traumlogik. Also besten Dank für dein Feedback!

Insgesamt hat mich also wieder einmal eine Geschichte von dir sehr gut unterhalten. Ich meine auch, dass ich eine Entwicklung erkenne. Ich war ja lange weg, aber im Vergleich zu deinen älteren Stories hast du handwerklich schon gut zugelegt!
Das ist supertoll, also das mit der Entwicklung, selbstverständlich möchte ich mich auch als Hobby-Autor ständig weiterentwickeln, da tut es sehr gut, sowas zu lesen! Ich hoffe, Du findest Zeit, selbst auch wieder ins Schreiben zu finden. Wäre jedenfalls gespannt auf einen neuen Text von Dir :-)

Bis dahin!



Hallo @Woltochinon

Danke für deinen Nachtrag:

Die 'Golemifizierung' des Protagonisten ist zwar der Hauptstrang deiner Erzählung, aber mir hat es auch eine andere Ebene des Textes angetan:
Das sich Aufbäumen der geschundenen Arbeiter (stellvertretend für viele Geplagte) gegen ihre Ausbeutung. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Unrecht und (aussichtsloser) Notwehr; die Peiniger werden von der Maschinerie verschlungen, der sie dienen (müssen).
Diese Thematik öffnet fast die Tür zur Sparte 'Philosophisches'.
:huldig:

Beste Grüsse,
d-m

 

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