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Grüne Hölle
Es kam mir nicht so vor, als wenn es hier heute Abend etwas mit Geldverdienen werden könnte. Der Wellblechzaun am Postbahnhof zog sich endlos hin. Er war zu hoch, als dass er sich überblicken ließ, und man konnte nicht sehen, was sich auf der anderen Seite befand.
Wo war die Tür im Zaun, von der mir der Mann in der Kneipe erzählt hatte? Da sah ich sie. Sie war schwer auszumachen, da sie sich kaum von dem restlichen Zaun unterschied. Eigentlich bloß durch die Türklinke.
Nur Eingeweihte, und dazu gehörte jetzt auch ich, fanden sie.
Als ich eintrat, sah ich, dass ich nicht alleine an diesem Abend hier zur Nachtschicht angetreten war. Die Anderen, die da wartend vor einem Pförtnerhäuschen standen, sahen so aus, als wenn ihr Portemonnaie genauso leer war wie meines. Wir alle waren hier, weil wir Pakete sortieren wollten. Es waren die Achtziger.
In diesen Hallen nahe dem Ostbahnhof befand sich zu DDR-Zeiten das Verteilzentrum von Ostberlin. Jetzt ist in die Gebäude des ehemaligen Postbahnhofs schon lange wieder „Neues Leben“ eingezogen. Was dieser großsprecherische Slogan auch immer im einzelnen zu bedeuten hat. Zur Zeit versuchen sie es mit Büros, und die Zeiten, wo man sich mit Paketesortieren sein schmales Budget aufbessern konnte, sind lange vorbei.
Ich frage mich manchmal, was die Kollegen vom Wriezener - wie ein Teil des Postbahnhofs, auf dem Westpakete verladen wurden, bei den maulfaulen Berlinern hieß - heute so machen, denn ihre Arbeit auf dem Bahnhof hat ihnen, neben etwas Geld natürlich, wenigstens eine feste Struktur und das Gefühl, gebraucht zu werden, gegeben, und den Besuch einer Kneipe können sie sich wohl heute auch nicht mehr leisten.
Eine, gar nicht mal so unwichtige, Auswirkung des Falls der Berliner Mauer ist ja auch, dass nach der Wende im Osten die Getränkepreise stark angezogen haben. Ein Bier hat in der Kaufhalle in Ostberlin dasselbe gekostet wie in der Kneipe. Früher konnte man mit fünf Mark in die Kneipe gehen und ist auf allen Vieren wieder rausgekrochen. Und wenn du zehn Mark bei hattest, haben sie dich rausgetragen. Für viele finanziell schlechter Gestellte ist damit nach der Wende die lustige - nicht immer - Kneipengeselligkeit weggefallen und ihr soziales Leben, wie der Wessi so schön sagt, ist verarmt.
Das Wort „sozial“, dass jetzt inflationär in Gebrauch ist, hat im Osten übrigens keiner in den Mund genommen.
Auf die Möglichkeit sich hier am Ostbahnhof Geld auf die Hand zu verdienen, hatte mich übrigens mein ehemaliger Chef aufmerksam gemacht. Unabsichtlich. Nachdem ich gekündigt hatte, fragte er mich in boshaftem Tonfall, ob ich denn jetzt etwa vorhätte, Pakete zu sortieren.
Die Leute, die so etwas taten, standen in den Augen der ehrenwerten Bürger, wofür er sich hielt, auf der untersten Stufe der Gesellschaftspyramide. Weil ich auf meinem letzten Arbeitsplatz so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, schob ich die Suche nach einer neuen Stelle erstmal vor mir her. Als mir dann langsam das Geld ausging, fielen mir seine Worte wieder ein, und ich begann mich umzuhören.
Keine feste Arbeit zu haben, kam mir richtig dekadent vor. Das hatte ich mich noch nie getraut. Was wohl die Leute aus meinem Dorf dazu sagen würden? Und die, mit denen ich zusammen gelernt hatte. Auch in meinen Kreisen in der Bluesszene, die stark proletarisch geprägt war, wurde ich schief angekuckt.
Eigentlich hatte jeder von uns seinen Arbeitsplatz, an dem er jeden Morgen antrat. Auch dort, in der Gegenkultur, wurde man genauso wie in der übrigen Gesellschaft danach beurteilt, inwiefern es einem gelungen war, sich anzupassen, welche gesellschaftliche Position man einnahm.
Mein Freund, ein langhaariger Student, verließ mich deswegen sogar, woraufhin ich meinen Plan, als Helferin in einem Kinderheim anzufangen, mit der Aussicht einen Abschluss nachzuholen, erst Mal nicht weiter verfolgte. Vielleicht ein Fehler. Die Leiterin des Kinderheims war sehr nett gewesen. Für meinen Gesundheitspass hatte ich sogar schon die erste Stuhlprobe durch den Türschlitz eines Labors in Weißensee eingeworfen. Das zweite Plasteröhrchen, mit dem im Verschluss eingearbeiteten spatenförmigen Schäufelchen, lag immer noch ewig bei mir rum.
Eigentlich träumten meine Kumpels von einer Frau, die ihnen hilfreich unter die Arme griff, ein fester Hafen in den Stürmen des Lebens. Die sogenannte Starke Frau.
Man sollte funktionieren. Die Möglichkeit des zumindest zeitweiligen Ausbruchs aus der Tretmühle wurde nur den Männern eingeräumt. Diese orientieren sich bei der Partnerwahl wohl stark an der Mutter.
Bei uns wurde die Arbeit angebetet.
Alleinstehend mit vier Kindern als Kranführerin im Schichtdienst und daneben noch ein Fernstudium. Das galt als das ultimative Frauenbild. Das sowas im Grunde genommen nicht zu stemmen war, wusste jeder. Früher landeten sie in Herzberge. Jetzt in Bonnys Ranch.
So jemand war unter mir und meinen Freundinnen, die wir ja meist alle nicht aus der Stadt kamen, und es nicht leicht hatten, uns hier über Wasser zu halten, eher nicht zu finden. Wir, die eine andere Mentalität hatten, waren auch keine frechen Berlinerinnen, die Arbeitskollegen Paroli bieten konnten. Den meisten von uns fehlte auch das feste Kumpelnetzwerk, dass viele Männer besaßen.
Ebenfalls sah es bei mir schlecht aus mit handwerklichen Fähigkeiten, und ich scheiterte schon beim Tapezieren. Scheinbar haben Männer so was mit der Muttermilch aufgesogen. Später ist mir klar geworden, dass diese ganzen Szenen eigentlich männliche Netzwerke sind, wo Frauen Randfiguren sind.
Es war schon komisch, sich nicht mehr an feste Zeiten halten zu müssen, wie ich es bisher immer getan hatte. Was machte ich in der vielen freien Zeit. Ganz einfach. Ich spazierte durch die Stadt. Damals, als die Leute auf ein Auto noch zwölf Jahre warten mussten, im Vergleich zu heute sehr entspannend. Mit leerem Magen nahm ich die Eindrücke viel unmittelbarer auf. So erging es auch Hemingway in Paris. Beschreibt er in „Paris-Ein Fest fürs Leben“.
Mit der Zeit wurde ich immer fauler und schob meine Arbeitseinsätze jedes Mal immer ein bisschen weiter vor mir her. Ich bemühte mich nur um einen Aushilfsjob, wenn Schmalhans Küchenmeister war, und nichts mehr ging.
Einmal lernte ich in der U-Bahn einen Ungarn kennen. Er erzählte mir: „Wenn du bei uns drei Wochen keine Arbeit hast, gehst du in den Knast.“ Harte Sitten im Sozialismus. Ich hatte einen Kumpel, der ein bisschen älter war als ich. Er, ein Intellektuellentyp, war tatsächlich noch wegen assozialem Lebenswandel eingesperrt worden. Zum Glück waren die Sitten am Ende von den Achtzigern im Osten lockerer geworden. Ich hatte deswegen nie mit der Staatsmacht Ärger bekommen.
Wenn jetzt immer nur negatives über die DDR berichtet wird, muss man sich aber auch vor Augen halten, dass ich und die anderen Kollegen vom Ostbahnhof, die meist schwere Alkoholabhängige waren, alle eine Wohnung besaßen. Unter der Brücke, so wie heute viele, schlief niemand von uns. So was sah ich das erste Mal in Westberlin, als die Mauer fiel.
Das lag darin begründet, dass einfach keiner geräumt wurde. Wir waren eben auf eine Art doch ein Arbeiter-und Bauernstaat, und die Funktionäre, die meist in armen Proletarierfamilien aufgewachsen waren, hatten sowas noch selbst mitgemacht. Vielleicht kennt einer den Film „Kuhle Wampe“. Solche Zustände wie im alten Berlin wollten sie nicht haben. Auch Strom und Gas wurde erst nach mindestens einem Jahr abgestellt. Für Wessis ist das unvorstellbar. Es gab natürlich keine Sozialhilfe. Aber Suchtabhängige und psychisch Angeschlagene behalfen sich eben irgendwie.
Das Paketverteilzentrum am Ostbahnhof bot so eine Möglichkeit, sich ohne eine Festanstellung Geld zu verdienen. Das nannte sich pauschal arbeiten. Dort haben zu dieser Zeit viele Leute gearbeitet, die nicht so in die sozialistischen Kollektive reingepasst haben. Neben Alkoholabhängigen auch Punks und Langhaarige.
Die meisten von ihnen waren übrigens sehr gute Arbeiter und haben die komplizierte Verteilerei bestens im Griff gehabt.
Ohne Erfahrung, und ohne ein gewisses logistisches Talent, konnte man sich mit den vielen Waggons und Loren in den verwinkelten Hallen und auf den Bahnsteigen nicht zurechtzufinden. Ich, die ja nicht lange dort gearbeitet hat, habe das Sortiersystem dort nie durchschaut.
Ein großer, hagerer Mann, der mit seinem langen, schlohweißen Haar aussah wie einer der asketischen Heiligen bei Leonardo da Vinci, und dem man nicht zugetraut haben würde, dass er die Nachtschicht übersteht, so klapprig wirkte er, stand ganz allein oben auf der Empore, von der die Paketbänder schräg nach unten führten. Er war der Kopf hinter der ganzen Verteilerei und kannte sich mit jeder Kleinigkeit aus.
Einmal wurde ich mit jemandem auf einen Bahnsteig des Wriezener Bahnhofs geschickt, um einen Waggon auszuladen. Er gab mir zu verstehen, dass ich mich hinsetzen solle und entlud allein im Eiltempo den Güterwagen und stapelte die Pakete gekonnt auf die jeweiligen Gepäckloren. Dazu gehörte Erfahrung. Er wird wohl schon seit Jahren dort Nachtschichten gemacht haben. Der nächste Waggon wurde reingeschoben, und wieder wollte er alles alleine machen. Scheinbar hätte ich da nur den Rhythmus gestört.
Als er mit der Arbeit fertig war, saßen wir beide noch die halbe Sommernacht schweigend nebeneinander auf dem Bahnsteig des Wriezeners auf einer Bank und schauten in die Sterne. Über uns der „Himmel über Berlin“*. Er fragte mich nicht aus und ich ihn auch nicht, worüber wir beide froh waren.
Scheinbar hatte mein hilfsbereiter Kollege, der feinfühlig und intelligent wirkte, in irgendeinem Winkel des Bahnhofs etwas zu trinken versteckt, denn jedes Mal, wenn er mal kurz wegging, kam er mit einer Fahne wieder.
Nach der Nachtschicht um 6 Uhr erhielten wir unser Geld und gingen zum Bahnhofskiosk auf dem Ostbahnhof. Während ich hungrig in eine Bockwurst biss, sah ich staunend zu, wie meine Kollegen vor meinen Augen eine Halbliterflasche Hochprozentiges auf Ex austranken. Das hätte mich aus den Schuhen geworfen.
Danach zogen noch alle in eine Kneipe namens „Grüne Hölle“.
Sie soll wohl neben der Markhalle am Alex gewesen sein, öffnete schon um 6 Uhr oder sogar noch früher und trug ihren Namen wohl nicht zu Unrecht.
Dass ich damals nicht mit ihnen mitgegangen bin, bereue ich heute noch. Im schlimmsten Fall hätte ich gemeinsam mit den Anderen unter dem Tisch gelegen. Man muss alles Mal mitgemacht haben. In solchen Kneipen wie der „Grünen Hölle“ ist Berlin, wie es am Berlinischten ist.
Ich nehme an, die Grüne Hölle hieß deshalb Grüne Hölle, weil sie in der Nähe von einem Platz in der Nähe der Markthalle war, auf dem sich früher der Frucht- und Blumengroßmarkt Berlins befand, der aber im Krieg zerstört wurde. Nachdem sie frühmorgens die Gemüsehändler und Blumenhändler abgefertigt hatten, haben sich die dortigen Arbeiter in der Grünen Hölle erst mal einen Absacker gegönnt und oft wohl auch einiges mehr.
Die „Grüne Hölle“ neben der Markhalle ist wohl heute schon lange ein Szeneschuppen, wo veganer Latte gereicht wird, und ich habe die Chance unwiederbringlich vertan, mal die berüchtigste Kneipe von Berlin kennenzulernen.
Meine Paketsortiererei auf dem Wriezener hatte übrigens ein Ende, als ich den Fehler beging, mich dort um eine Festanstellung zu bewerben, da ich endlich mal wieder versichert sein wollte.
In meiner Kaderakte, die man in der DDR übrigens nie zu Gesicht bekam, war eine Pfändung wegen eines Bibliotheksbuches enthalten. Ich hatte Freundinnen mit dem Buch hingeschickt.
Sie wollten aber dort Bares sehen und nahmen es ihnen nicht ab.
Natürlich hatte ich versucht, die Mahnkosten, die leider immer höher wurden, zu umgehen, aber sie haben meine neue Adresse herausgefunden und 150 DDR Mark, das war damals ein Drittel von meinem Gehalt, gepfändet. Dieses vermaledeite Buch, das ich nicht loswurde, hatte ich leider immer noch.
Und jetzt wollten sie mich auch noch deswegen kriminalisieren, und ich musste mir in der Kaderabteilung vom Postbahnhof von einer Parteisekretärin, die mich zornig mit den Augen anfunkelte, Beschimpfungen anhören.
Ich verließ das Büro völlig geschockt.
Nachdem ich nicht eingestellt wurde, durfte ich merkwürdigerweise auch nicht mehr tageweise auf dem Paketbahnhof am Ostbahnhof arbeiten, was ich als ungerecht empfand.
Als ich abends mit dem Pförtner, vor dem eine Liste lag, auf dem mein Name rot markiert war, darüber diskutieren wollte, schwiegen die Anderen, die mit mir zusammen zur Nachtschicht angetreten waren, nur betreten. Es schien sich alles gegen mich verschworen zu haben.
Aber wo Schatten ist, ist auch Licht. Ein paar freundliche Kollegen hatten mir erzählt, dass man auch bei Narva tageweise arbeiten konnte.
Gleich am nächsten Tag ging ich zum Einstellungsbüro von Narva und wurde auch sofort eingestellt und ging nach der Spätschicht glücklich und erschöpft, mit 40 Mark in der Tasche über die Warschauer Brücke zur S-Bahn. Das Leben geht weiter.
Übrigens ging Anfang März eine Nachricht durch die Presse, nach der der sanierte Postbahnhof mal wieder an einen neuen Eigentümer verkauft wurde.
*Film von Wim Wenders