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- 30.06.2004
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Grünhaar und Feuerhände
"Grünhaar, Grünhaar!"
"Monster!"
"Wo hast du denn deine Wurzeln gelassen?"
Yeraz zog den Kopf zwischen die Schultern und vergrub die Hände in den Kitteltaschen. Den Blick starr auf den Boden gesenkt, schlug er einen etwas schnelleren Schritt an. Nur nicht auf sie hören, nur nicht aufblicken, nur nicht reizen lassen.
"Hey, hast du etwa Angst?"
"Seht nur, wie er davonläuft!"
"Feigling!"
Brodelnder Zorn stieg in Yeraz auf, doch er versuchte, ihn zurückzudrängen. In ihm wuchs das Bedürfnis, herumzufahren und ihnen ins Gesicht zu rufen: "Ich bin kein Feigling, wenn jemandem der Mut fehlt, dann euch!" Doch das wäre eine sehr schlechte Idee gewesen. Yeraz wusste, dass er stark war für sein Alter und seine Größe, und zäh und schnell dazu. Mit einem, zwei oder sogar drei der größeren Jungen könnte er es sicher aufnehmen, doch es waren mehr, viel mehr. Die Gruppe, die ihm seit dem Kinderhaus verfolgte, war stetig angewachsen, so dass nun eine Ansammlung von fast zwanzig Jungen hinter ihm her war.
"Hey, weißt du, was mit deiner Mutter los war? Als sie dich gesehen hat, hat sie sich gleich wieder in einen Baum verwandelt vor Schreck."
"Geht dein Vater immer noch in den Wald und treibt es mit Astlöchern?"
Das Brodeln in seinem Magen wurde stärker. Er presste die Zähne so fest aufeinander, dass es weh tat. Nur noch um die Ecke und dann noch dreißig Schritte bis zu Haustür. Dann müssen sie dich doch in Ruhe lassen. Das haben sie bisher noch immer getan. Aber jedes Mal wagen sie sich näher heran. Was, wenn sie heute nicht an der Haustür umdrehen?
"Wenn man dich ordentlich gießt, wächst du dann noch, Grünhaar?"
"Denkst du an den Wald, wenn du es dir besorgst?"
Es war genug, Yeraz spürte, wie der Zorn überlief. "Es reicht!"
Er wirbelte herum, die Fäuste geballt, die Schultern angespannt und starrte seine Verfolger wütend an. Beinahe konnte er spüren, wie seine gelben Augen Funken sprühten. Er wusste, dass sie das taten, wenn er zornig, aufgebracht oder freudig war, er hatte es im Spiegel gesehen und es hatte ihm selber Angst eingejagt.
Die Gruppe war stehen geblieben, einen Moment lang überrascht von Yeraz' plötzlicher Reaktion. Einige wichen sogar ängstlich ein paar Schritte zurück. Doch die Anführer der Meute - Tharun, der Sohn des Schmieds und Kollino, der älteste der Seilersöhne - hatten sich schnell wieder gefasst und kamen nun mit entschlossenen Schritten Schulter an Schulter auf Yeraz zu. Beide waren in diesem Jahr fünfzehn geworden und überragten Yeraz um einen ganzen Kopf. Ihre Zeit im Kinderhaus war nun bald vorbei und ganz offensichtlich waren sie fest entschlossen, zum Abschluss dem Prügelknaben des Dorfes noch eine Abreibung zu verpassen.
"Sieh an, das Grünhaar will kämpfen, wer hätte das gedacht?", spottete Tharun. Kollino drehte sich demonstrativ um seine Achse, bevor er wieder den Blick auf Yeraz richtete.
"Keine Bäume hier, Fleckengesicht. Diesen Kampf musst du ganz alleine bestreiten."
Angst mischte sich in Yeraz' Wut. Eine kleine Gruppe Kinder löste sich vom Haupttrupp und versuchte, hinter ihn zu gelangen, um ihm den Heimweg abzuschneiden. Die Übrigen rückten nun zu Tharun und Kollino auf, eine Wand aus Leibern und höhnischen Gesichtern.
"Ihr seid auch nur mutig mit eurem Gefolge hinter euch, nicht wahr?", brachte Yeraz hervor. Vielleicht konnte er die Zwei dazu bewegen, alleine gegen ihn zu kämpfen. Er war sich ziemlich sicher, mit den Beiden fertig werden zu können. Doch die glaubten ganz offensichtlich dasselbe, und waren nicht bereit, sich auf das Risiko einzulassen. Ein Wink von Kollino und an seiner Seite tauchten seine beiden Brüder auf, beide mit Holzstöcken bewaffnet. Fünf weitere Kinder riegelten auf eine Geste Tharuns hin die Gasse nach vorne ab.
Yeraz spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Ein hastiger Blick über seine Schulter sagte ihm, dass er auch nicht mehr auf eine Flucht die Straße hinunter hoffen konnte. Worauf hab ich mich jetzt eingelassen?
Panisch ließ er seinen Blick durch die Gasse schweifen. Links zwei Bürgerhäuser, Seite an Seite geschmiegt, ohne einen Durchlass für ihn. Rechts eine Mauer, vielleicht vier Schritte hoch. Und über der Mauerkrone, beinahe nur eine Ahnung, lugte hellgrünes Laub hervor. Kollino musste es übersehen haben, sonst wäre er nicht so siegessicher gewesen. Ein Apfelbaum. Yeraz verspürte einen Anflug von Erleichterung, vielleicht hatte er doch noch eine Chance. Wenn nur die Mauer nicht zu hoch ist.
Tharun deutete seinen verzweifelten Blick richtig, er lachte leise. "Jetzt bekommst du es wohl doch mit der Angst zu tun, Grünhaar, nicht wahr? Hast den Mund ein bisschen zu voll genommen. Nun gut, du wolltest kämpfen? Dann kämpfen wir!"
Mit einem Satz überwand er die zwei Schritte, die ihn noch von Yeraz trennten, Kollino dicht hinter ihm. Yeraz, der den Angriff erwartet hatte, duckte sich unter Tharuns Schlag weg, und sprang vor Kollino zur Seite. Er stand jetzt mit dem Rücken an der Mauer, geduckt, die Muskeln angespannt, lauernd. Wieder zögerte die Meute für einen Wimpernschlag. Doch als Tharun zum zweiten Mal ausholte, fiel alle Zurückhaltung von ihnen ab. In einem Gewirr aus Armen, Beinen und Leibern, stürzten sich die restlichen Kinder in den Kampf.
Auf diesen Augenblick hatte Yeraz gewartet. Wieder duckte er sich unter Tharuns Faust durch, sprang gleich darauf vorwärts und riss den überraschten Schmiedesohn von den Füßen. Kollino, der nach ihm hatte greifen wollen, stolperte über seinen Freund, rang um Gleichgewicht und riss dabei einen seiner Brüder um. Die anstürmende Bande bremste ab, um nicht ebenfalls zu stürzen. Einen Augenblick lang war Yeraz unbeobachtet.
Er wirbelte herum, spannte sich abermals an und schnellte nach oben. Seine Gedanken eilten ihm voraus, sandten einen Hilferuf an den Apfelbaum hinter der Mauer. Rascheln und Wispern von Laub, das Knarzen von Holz. Dann, als Yeraz den höchsten Punkt seines Sprungs erreicht hatte, schoss ein knorriger Ast über die Mauer hinweg, bog sich nach unten, wuchs rasend schnell auf Yeraz zu. Raue Borke schmiegte sich in seine ausgestreckten Hände, dann schnellte der Ast zurück. Yeraz wurde mit unglaublicher Kraft nach oben gerissen, durch die Luft gewirbelt und schließlich jenseits der Wand sanft in einem Rübenbeet abgesetzt.
Der Apfelbaum vor ihm schüttelte seine Blätter, als würde er lachen. In tiefer Dankbarkeit presste Yeraz einen Moment lang sein Gesicht an die Rinde, dann fuhr er herum und rannte los. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis die Bande ihren Weg in den Garten fand, und ein einzelner Apfelbaum war viel zu wenig, um Yeraz vor ihrem Zorn zu schützen.
Außer von der Mauer, über die Yeraz gekommen war, wurde der Garten von zwei Hauswänden begrenzt, doch an der vierten Seite, ihm genau gegenüber, gab es einen niedrigen Weidenzaun, der den Blick auf eine staubige Gasse freigab. Er spurtete, setzte über den Zaun und gleich darauf über einen zweiten in einen weiteren Garten. Hinter sich hörte er bereits das Johlen der Meute, die in die Gasse eingebogen waren. Er zermatschte einen Kürbis unter seinen hämmernden Füßen, trat nach einem kläffenden Köter, der hinter ihm her durch den Garten raste und erklomm die nächste Mauer.
Augenblicklich fiel alle Angst von ihm ab, das unerträgliche Blaffen des Hundes und das Geschrei schienen zu verstummen, und Yeraz' Gedanken und Sinne wurden von den Bäumen gefangen.
Der Garten, den er durchquert hatte, grenzte direkt an den Wald. Und obwohl die unendlichen Reihen von Bäumen den übrigen Dorfbewohnern Angst machten, wusste Yeraz doch, dass ihm selber nie etwas geschehen würde, solange er sich im Wald befand.
Er drehte sich nochmal auf der Mauer um, blickte zurück auf die Kindergruppe, die nun inne gehalten hatte, Angst in ihren Gesichtern. Für einige Augenblicke war er versucht, es ihnen heimzuzahlen, ihnen die Baumgeister auf den Hals zu hetzen. Doch im Grunde wusste er, dass das die Sache nur schlimmer machen würde. Besser, unterzutauchen, bis sie die Lust an der Verfolgung verloren.
Geschmeidig ließ sich er von der Mauer fallen und glitt in den Schatten der Bäume.
Trockenes Laub raschelte unter seinen Füßen, warmer Erdgeruch umfing ihn von allen Seiten und die Baumkronen flüsterten ihm Geheimnisse in ihrer unverständlichen, beruhigenden Sprache zu. Angst und Zorn waren wie fortgeblasen, Yeraz Körper war entspannt, seine Gedanken flogen. Er schlug Pfade ein, die er schon hundertmal beschritten hatte, meist an Tagen wie diesem, wenn das Kinderhaus sich wieder einmal gegen ihn verschworen hatte. Hierher wagte ihm niemand zu folgen.
Während er seine Füße unbewusst in Richtung der alten Hecke lenkte, versuchte Yeraz nicht zum ersten Mal, zu verstehen, was die anderen Kinder an ihm so sehr störte. Die Stimme seines Vaters klang in seinen Ohren wieder. "Reiß dich doch zusammen, du brauchst dich deiner Abstammung nicht zu schämen. Sieh dir Vilari an!" Yeraz schnaubte. Sein Vater hatte gut reden. Yeraz' große Schwester hatte selbstverständlich nicht so sehr zu leiden wie er.
Erstens hatte sie nie ins Kinderhaus gehen müssen, denn sie war ja ein Mädchen und musste keine Ausbildung in Kampf und Handwerk erhalten. Zweitens war ihr Haar längst nicht so auffällig dunkelgrün wie Yeraz', eher ein helles, grünliches Blond. Auch die dunklen Flecken auf ihrer Haut waren kaum zu erkennen. Und drittens war Vilari einfach schön. Niemanden störten grüne Haare und eine gescheckte Haut, wenn sich darunter ebenmäßige Gesichtszüge, ein perfekt geformter Körper und ein Lächeln voller Sonnenschein verbargen.
Aber Yeraz war nicht schön. Er sah einfach nur seltsam aus. Und dass seine Mutter dem Wald entstammte, den die anderen Dorfbewohner fürchteten und mieden, half nicht besonders. Im Wald verlief die Grenze zur Heimat der nördlichen Dämonen, die alle paar Jahre wieder einmal über das Dorf herfielen, die Häuser in Brand steckten, Vieh und Menschen töteten, Frauen vergewaltigten und Kinder verschleppten. Niemand wusste, was mit den Entführten geschah, aber die Gerüchte reichten von Sklaverei über rituelle Opfergaben an ihre Blutgötter bis hin zur Nahrung für ihre Jungen.
Missmutig rammte er seine Schuhspitze in die Erde, so dass die Blätter aufwirbelten. Warum nur musste Vater dieser Dryade verfallen? Es war nicht das erste Mal, dass Yeraz sich das fragte. Einem Waldgeist, unbeständig, unberechenbar. Kurz nach Yeraz' Geburt war seine Mutter wieder im Wald verschwunden, aus dem sie so mysteriös aufgetaucht war. Verräterin.
Die Bäume um ihn herum raschelten bei diesem Gedanken. Yeraz konnte ihren Missmut spüren. Ich bin eben doch nicht ganz einer der Ihren. Mein Blut ist verwässert. Auch das spürte er nicht zum ersten Mal. Zahme Obstbäume mochten ihm dienen, doch die uralten Riesen des Waldes schützten ihn vielleicht, duldeten ihn in ihrer Mitte, beugten sich aber nicht seinem Willen.
Er erreichte die Hecke. Übermannshoch und verwachsen ragte sie vor ihm auf. Die Grenze, die er nie überschritten hatte. Dahinter das Land der Dämonen. Er schwenkte ab, wanderte auf dem alten Wachtpfad entlang der Hecke. Mit der Linken strich er durch die dichten Zweige, spürte das Laub seine Handfläche streicheln. Es gab ihm ein merkwürdiges Gefühl der Befriedigung, sich so nahe am Gefahrengebiet aufzuhalten, als müsste er irgendjemandem seinen Mut beweisen, seinen Nutzen.
Ein leises Schluchzen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Es war ein so ungewohnter Laut hier in der Stille unter den Bäumen, dass er regelrecht zusammenzuckte. Noch nie war er hier einem Menschen begegnet.
Er hielt inne und lauschte. Einen Moment lang vernahm er nur das Knarren alten Holzes im Wind, dann kam es wieder, ein unterdrückter Laut, viel zu menschlich für die Umgebung. Vorsichtig, lautlos wie ein Schatten, bewegte sich Yeraz darauf zu. Seine Gestalt verschmolz vollständig mit der Umgebung.
Das Schluchzen führte ihn zu einem Erdloch, einer tiefen Mulde, den die Wurzeln einer gestürzten Buche in den Boden gerissen hatten. Yeraz ließ sich auf den Bauch fallen und robbte vorsichtig an den Rand des Loches heran. Er spähte über den Rand, bemüht, sich erst einmal nicht zu zeigen.
Unten saß, einem schmutzigen Bündel gleich, ein Mädchen. Viel konnte Yeraz von ihr nicht erkennen, denn sie hatte sich eng zusammengerollt und das Gesicht in den Armen vergraben. Der Größe nach schätzte er sie etwas jünger als sich selber. Ihr Haar war schmutzigblond mit einem Stich ins Rötliche. Ihre bloßen, schmierigen Arme wurden von einer Schicht kleiner blauer und gelber Flammen umlodert.
Yeraz zuckte leicht zusammen, als er dies erkannte. Ein Zweig knackte unter seinem Gewicht und der Kopf des Mädchens fuhr nach oben. Ein dreckverschmiertes Gesicht mit weißen Tränenspuren und erschreckend schwarzen, pupillenlosen Augen fixierte ihn. Yeraz starrte zurück. Mehrere Herzschläge dehnten sich in eine Ewigkeit, dann, ohne dass er genau wusste warum, lächelte er dem Mädchen zu. "Hallo."
Eine weiße Nickhaut glitt für einen Moment über ihre Augen. Yeraz beherrscht sich, nicht nochmals zusammenzuzucken. Eine Mischung aus Nervosität und Neugier erfüllte ihn.
Das Mädchen erhob sich. Yeraz registrierte, dass ihr Körper nur von schmuddeligen Lumpen verhüllt war. Sie war barfuß.
"Was willst du?", fauchte sie plötzlich. "Verschwinde!" Sie weinte nicht mehr, Zorn und Angst mischten sich in ihren Zügen.
"Ich wollte dir nichts tun", versuchte er sie zu beruhigen. "Ich ... kam nur zufällig vorbei. Ich hab dich gehört, und wollte wissen, ob alles in Ordnung ist ..." Er hätte sich ohrfeigen konnte. Angesichts des Zustands des Mädchens war doch eigentlich klar, dass hier nichts in Ordnung war.
"Ja, klar, ich bin gerne alleine im Wald", zischte sie auch sofort zurück. "Das ist mein Mittagsspaziergang. Also verpiss dich, ist nicht deine Sache!"
Er dachte nicht daran, ihr zu gehorchen. Statt dessen richtete er sich auf, und setzte sich mit baumelnden Beinen an den Rand des Loches. Sie musterte ihn finster.
"Es hat keinen Sinn, wenn du auf mir herumhackst. Es gibt keine Beleidigung, die ich noch nicht gehört habe." Sie presste die Lippen aufeinander.
"Ich hatte nicht vor, auf dir herumzuhacken. Was tust du hier? Woher kommst du?"
Sie schwieg. Als er nichts weiter tat, als dazusitzen und sie anzusehen, zuckte sie schließlich mit den Schultern. "Ich wohne ... wohnte in Dhilken. Ich ... bin weggelaufen." Sie zog die Nase hoch und setzte einen trotzigen Gesichtsausdruck auf. "Ich hatte einfach genug von den anderen. ‚Feuerhände', sagen sie, ‚Monster', sagen sie. Pah, ich komm' auch ohne sie aus."
Yeraz kam nicht umhin, ihren Mut zu bewundern. Sie war so viel kleiner als er und hatte offensichtlich Angst in dieser ihr fremden Umgebung, trotzdem hatte sie sich alleine hier heraus gewagt. Und er hatte Mitleid. Wie gut kannte er das Gefühl, als Monster abgestempelt zu werden.
"Verstehe", nickte er. "Aber ich will dir wirklich nichts tun. Ich ... weiß, wie das ist." Er lächelte vorsichtig und deutete auf seine Haare, Augen und die schwarzweiße Haut. "Dryadenblut. Was ist dein Fehler?"
Sie senkte kurz den Blick, verlegen. Dann starrte sie wieder hoch, wilde Entschlossenheit in ihrem Blick. "Mein Vater war ein Dämon", erwiderte sie.
Ein Schaudern durchlief Yeraz. Doch er fasste sich schnell wieder. Er nickte, beugte sich vor und streckte ihr seine Hand entgegen.
"Ich bin Yeraz."
"Celandra."
Langsam gingen sie nebeneinander her, die alte Hecke zur Rechten. Celandra erzählte, von ihrem Dorf, ihrer Mutter, den anderen Kindern. Yeraz schwieg, lauschte, seltsam dankbar für jemanden, der das Gleiche durchgemacht hatte wie er. Gut, im Gegensatz zu Celandra hatte er es noch gut gehabt. Dryaden galten immerhin als friedlich. Aber wie sie hatte er keine Wahl gehabt. Man konnte sich seine Eltern schließlich nicht aussuchen.
"Was willst du jetzt tun?", fragte er schließlich, als sie zu reden aufgehört hatte. Sie waren an den verfallenen Überresten einer Holzfällerhütte stehen geblieben.
Sie zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht recht. Ich bin einfach drauf los gerannt. Ich versteh' vom Überleben im Wald überhaupt nichts. Ehrlich gesagt, ich hab sogar ein bisschen Angst vor dem Wald. Du weißt schon, Dämonen." Sie warf Yeraz einen verzeihungsheißenden Blick zu, doch der winkte ab. Es war keine Schande, den Wald zu fürchten.
Er überlegte. Aus irgendeinem Grund glaubte er, ihr helfen zu müssen, obwohl er sie doch kaum kannte. "Vielleicht ... wenn du mit mir kommst. In unser Haus ... ich könnte dir was zu essen geben und vielleicht neue Kleider ... Reisegepäck, so etwas. Vielleicht kannst du dich in den Süden aufmachen, nach Redvank. Das ist groß, hab ich gehört, da wirst du vielleicht nicht so viel auffallen."
Sie verzog den Mund. "Ziemlich viele ‚vielleicht'."
"Hast du eine bessere Idee?"
Sie schüttelte den Kopf, das Gesicht grimmig.
Das Dorf lag still in der Nachmittagssonne. Es war Ruhezeit, die meisten Bürger schliefen, oder befanden sich zumindest in ihren Häusern. In einem Garten schrie unablässig ein Esel, ansonsten wart die Stille vollkommen.
Yeraz zerrte Celandra an der Hand hinter sich her. Sobald sie in Sichtweite der Häuser gekommen war, hatte sie sich auf einmal geweigert, weiter zu gehen. Er konnte ihre Panik spüren, Angst vor Entdeckung, vor weiteren Schmerzen. Aber er wollte sie bei sich haben, wollte sicherstellen, dass sie alles bekam, was sie brauchte, um ihre große Reise anzutreten. Mit einer Mischung aus Überzeugung und sanfter Gewalt hatte er sie schließ dazu gebracht, ihm weiter zu folgen.
Geduckt huschten sie durch die Gassen wie Verbrecher. Ab und zu hielt Yeraz inne, um seine Sinne schweifen zu lassen, die Obstbäume, die Dorflinde, die gestutzten Hecken zu befragen, ob ihnen Gefahr drohte. Die Pflanzen beruhigten ihn. Niemand war auf den Straßen.
Sie erreichten das Haus von Yeraz' Vater, ohne auf Widerstand zu treffen. Yeraz zog Celandra in seine Kammer und machte sich dann daran, rasch einige Vorräte und Kleider für sie zusammen zu suchen. Brot, Käse, getrocknete Würste, eine Wasserblase, alles ließ er in einem Ziegenfellbeutel verschwinden. Er holte einen alten Rock und eine Bluse von Vilari und warf sie Celandra zu, die wie vom Donner gerührt dastand und ihn beobachtete. Einen weiteren Satz Kleider stopfte er auf das Essen in den Beutel. Nach kurzem Überlegen fügte er noch ein kleines Messer hinzu.
"Los, zieh dich schon um!", herrschte er die immer noch starre Celandra an. "Ich schau schon nicht."
Er drehte sich weg, hörte Kleider rascheln, und widerstand der Versuchung, trotz seines Versprechens nach ihr zu sehen.
Und gerade, als Celandra hinter seinem Rücken "Kannst dich umdrehen!" sagte, erklang von der Zimmertür her ein spitzer Schrei.
Er fuhr herum, erblickte für einen Moment Vilaris erschrockenes Gesicht, bevor sie die Tür zuwarf und laut schreiend aus dem Haus rannte. "Dämonen! Dämonen in unserem Haus!"
"Verdammt!" Mit der Linken packte er wieder Celandras Hand, mit der Rechten raffte er den Beutel auf. "Komm!"
Sie rannten. Panisch hetzten sie die Gasse entlang, während um sie herum sich die Rufe und Schritte der Dorfbewohner mehrten. Yeraz schlug Haken, suchte einen sicheren Weg zum Wald, doch immer wieder musste er die Richtung wechseln. Das "Dämonen"-Geschrei wurde immer lauter. Die Angst saß tief in den Herzen der Bürger.
Eine weitere Ecke, in eine engere Gasse, über einen Hinterhof, ein Mäuerchen ... die Stimmen kamen näher. Jetzt konnte Yeraz auch den Klang von Metall hören. Mistgabeln, Messer, vielleicht das eine oder andere Haumesser, die Dörfler bereiteten sich auf eine Invasion vor.
Urplötzlich standen sie auf der breiten Straße, die in Richtung Marktplatz führte. Yeraz blickte sich hastig um. Es war zu spät. Aus allen Richtungen kamen die Bürger zum Platz geströmt. Hinter sich vernahm er die ersten erstaunten Rufe.
"Yeraz, was tust du da?"
"Oh Götter, seht, er hat einen Dämonen gefangen!"
"Halt ihn fest Junge, wir sind gleich bei dir!"
"Holt einen Priester, ruft die Exorzisten!"
Yeraz schloss die Augen, atmete kurz tief durch. Keine Chance mehr, zum Wald zu gelangen. Ein anderer Plan musste her. Seine Gedanken rasten. Wenn sie herausfanden, dass er mit der vermeintlichen Dämonin im Bunde war ... Er riss die verblüffte Celandra herum, schlang seinen Arm um ihren Hals, presste sie an sich, setzte einen triumphierenden Blick auf.
"Ich hab sie gefangen, ich ganz alleine, seht nur!", schrie er über ihren Kopf hinweg. Für einen Moment hing sie wie gelähmt in seinen Armen, dann begann sie, sich zu winden, treten und beißen. Er verstärkte den Druck seines Armes, ließ das Bündel fallen und griff mit der nun freien Hand nach ihren Handgelenken.
Die Dörfler waren stehen geblieben, in einer Mischung aus Furcht und Faszination starrten sie Yeraz und das Mädchen an, das er da in seiner Gewalt hatte. Niemand wollte sich recht näher trauen. Doch er sah die Bewunderung in ihren Augen, Ehrfurcht, Anerkennung. Sie hatten ihn noch nie so angesehen. Und obwohl er Celandra eigentlich nicht gefangen hatte, obwohl sie ja gar nicht gefährlich war, fühlte er, wie ihn eine warme Welle Stolzes durchspülte. Jetzt, ja jetzt erkannten sie endlich, was er wert war.
Die Menge teilte sich, der Priester kam auf Yeraz zu. Auch er wirkte ängstlich, aber fest entschlossen, der ihm anvertrauten Aufgabe nachzukommen. Er blieb im Abstand von etwa einer Armeslänge vor Yeraz stehen und lächelte unsicher.
"Äh ... gut so, Junge, halte sie fest, bis ich ... bis ich weiß, was zu tun ist. Äh ... vielleicht könnten wir sie zum Schrein bringen ..." Er zögerte, sich offensichtlich nicht klar darüber, was in so einer Situation zu tun wäre. Noch nie hatte irgendjemand aus dem Dorf es geschafft, einen Dämonen zu fassen. Sicher, aus Redvank kamen ab und zu Hohepriester, mächtige Gottesdiener, die im Dorf Rast machten, bevor sie ins Dämonenland weiterzogen. Diese Priester, so sagte man, hatten schon so manchen Dämonen ausgetrieben, vernichtet. Doch der Dorfpriester war kein solcher Exorzist, kein Kämpfer. Er betrachtete den Dämonen und den seltsamen Jungen, der ihn gefangen hatte, mit Furcht.
Hinter ihm kamen langsam die Dorfbewohner näher, mutiger geworden, als sie erkannten, dass es sich nur um einen Dämonen handelte, und dieser auch noch ziemlich klein war.
"Verbrennt sie!"
"Werft sie in den Brunnen!"
"Schneidet ihr die Kehle durch!"
Die zuerst vereinzelten Rufe wurden immer lauter, fordernder. Yeraz spürte, wie sein Herz immer schneller schlug. Celandra hatte ihr Gegenwehr aufgegeben, hing nun schlaff in seinen Armen. Sie weinte wieder, Tränen und Rotz tränkten seinen Ärmel. Was soll ich jetzt tun? Was erwarten sie von mir? Über die Köpfe der Dörfler hinweg sah Yeraz das Gesicht seines Vaters, von Stolz erfüllt. Sein Sohn, der Prügelknabe, hatte einen Dämonen gestellt. Eine Ewigkeit, so schien es Yeraz, sahen sie sich gegenseitig in die Augen, dann, plötzlich, wusste er, was er zu tun hatte.
"Ich werde mich um sie kümmern!", rief er, so laut, dass es jeder in der versammelten Menge hören musste. Plötzliche Stille breitete sich aus, als hätten die Menschen kollektiv die Luft angehalten. Er atmete tief durch, sammelte Kraft.
"Ich werde sie bannen. Die Bäume ..." er zögerte. "Die Bäume werden mir helfen. Folgt mir!"
Er riss Celandra herum, trieb sie vor sich her in Richtung Marktplatz. Die Menge folgte ihm, zögernd, aber auch begierig vor Neugier. Celandra zitterte in seinen Armen, verängstigt, aber seltsam schicksalsergeben. Er drängte sie bis kurz vor die große Dorflinde. Dort blieb er stehen, drehte sich wieder den Dörflern zu.
"Ich binde sie an den Baum, der schon so lange über unser Dorf wacht. So lange er steht, wird er uns vor ihr schützen." Er suchte nach Worten, nach etwas, das noch größer klang, noch eindrucksvoller. Doch mit Worten war er nie gut gewesen. Die Bäume verstanden ihn, das reichte. So schwieg er, wandte sein Gesicht von den Menschen ab und dem Baum zu. Vorsichtig tastete er mit seinen Gedankenfingern nach der Baumseele, bat ihn ergeben um seine Hilfe, erklärte, was er von ihm wollte.
Einige Momente tat sich überhaupt nichts. Dann, mit einem lautern Knarren, riss der Stamm der alten Linde der Länge nach auf. Wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen, spalteten sich Rinde und Holz bis tief in den Stamm hinein. Einige Dorfbewohner schnappten erschrocken nach Luft, doch Yeraz kümmerte sich nicht mehr um sie. Er löste den Arm um Celandras Hals, packte ihre Schultern und drängte sie in die Öffnung des Baumes.
In diesem Moment wurde ihr wohl bewusst, was er vorhatte. Noch einmal bäumte sie sich auf, schlug um sich, schrie aus Leibeskräften und trat nach Yeraz. Doch er war größer und stärker. Mit schierer Kraft drängte er sie in den Baum, achtete nicht auf ihre Schläge, Tritte und Bisse. Kaum berührte ihr Rücken das Holz im Inneren der Öffnung, begann der Baum, sich wieder zu schließen, rasend schnell. Gerade noch rechtzeitig sprang Yeraz zurück, bevor das Holz seine Finger einklemmen konnte. Mit einem grässlichen Knirschen schloss sich das Holz um Celandra, und ihre Schreie verstummten wie abgeschnitten.
Einige Momente starrte Yeraz noch auf den Stamm, bevor er sich abwandte, dem brausenden Jubel zu. Ärgerlich wischte er die Tränen aus seinem Augenwinkel.
Dieser Abend gehörte nur ihm. Das ganze Dorf feierte. Jeder wollte mit ihm sprechen, ihn berühren, hören, wie er den Dämonen gefangen hatte. Er wurde herumgereicht wie ein besonders kostbares Schmuckstück. Sogar Tharun und Kollino brüsteten sich damit, seine Freunde zu sein.
Je später es wurde, desto mehr Wein floss. Zur Feier der Dämonenaustreibung holten die Bürger ihre besten Vorräte aus den Kellern. Saftige Braten, frisch gebackenes Brot und Kuchen, süßer oder trockener Wein, heißer Met. Gesang und Gelächter lag in der Luft. Die Gaststube des Wirtshauses hatte sich in ein spontanes Volksfest verwandelt.
Niemand bemerkte es, als Yeraz sich gegen Mitternacht davonstahl. Sein Vater und seine Schwester feierten noch mit den anderen, so dass es nicht auffiel, dass er sein Bündel packte. Die Straßen waren wie ausgestorben, wer noch nicht schlief, feierte in der Wirtsstube. Yeraz huschte durch die Gassen auf den Marktplatz. Er legte die Hände an die raue Borke der Linde, rief in seinen Gedanken nach ihr.
Das Holz öffnete sich, lautlos diesmal, wie er gebeten hatte. Celandra stolperte ihm entgegen, sie sah entsetzlich erschöpft aus, verängstigt und wütend. Yeraz fing ihre Hand ab, als sie nach ihm schlagen wollte.
"Lass das!"
"Blödmann." Sie klang sehr matt.
"Tut mir leid, es blieb keine Zeit für Erklärungen. Sie hätten mich auch getötet, hätten sie geglaubt, dass ich mit dir im Bund bin. Sie vertrauten mir nicht. Ich bin keiner von ihnen. Ich musste tun, was sie verlangten, dich fortschaffen."
"Mistkerl." Sie raffte sich allmählich auf und schnappte ihr Bündel aus seiner Hand. "Ich verschwinde jetzt."
"Ja, lass uns gehen."
Sie starrte ihn an, etwas verwundert und immer noch wütend. "Ich soll dich mitnehmen?"
"Ja. Hierher gehöre ich genauso wenig wie du."
Sie schnaubte. "Aber du bist jetzt ein Held. Ein Dämonentöter." Das Letzte klang, wie ausgespuckt.
Yeraz drehte den Kopf. Aus der Wirtshausgasse drang Gelächter und Gesang. Dann wandte er sich wieder Celandra zu und zuckte mit den Schultern. "Es wird nicht lange vorhalten. In einem halben Jahr bin ich wieder Grünhaar. Sie haben zu viel Angst vor mir."
Sie sah ihn lange an. Er konnte sehen, wie sie ihren Zorn zurückdrängte. Sie würde ihm nicht so schnell verzeihen, das wusste er, aber sie verstand ihn. Sie waren in der selben Situation. Sie nickte. "Dann komm, Grünhaar!" Sie wandte sich ab und machte sich mit großen Schritten auf Richtung Dorfausgang.
Yeraz schulterte sein Bündel und folgte ihr lautlos.