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Grashalme
Grashalme
Leise knirschten die gefrorenen Grashalme unter seinen Schuhen. Er schaute nach unten, beinahe betrübt. Bei jedem Schritt riß er einige von ihnen aus dem Leben. Wieder einmal drohte eine endlose Traurigkeit ihn zu übermannen. Würden sich die Grashalme wieder aufrichten? Wachsen und an dem Leben im Mikrokosmos erneut teilnehmen können? Er wußte es nicht. Dann schob er die Gedanken beiseite. Denn eigentlich war es vollkommen gleichgültig.
Beiläufig bemerkte er, daß Wind aufkam und mit kalten, beinahe eisigen Fingern an seiner Jacke zerrte. Er zog sie aus und warf sie mit aller Kraft neben sich in den kleinen Bach. Kurz erschauerte er. Doch dann ging er weiter. Seine Gedanken trieben ihn vorwärts, nichts hätte ihn jetzt noch aufhalten können. Wirklich nichts. Oder?
Er schaute sich um. Eine trostlose Umgebung drang auf ihn ein. Schob sich trotz der winterlichen Eintönigkeit in den Vordergrund, ließ sich nicht ignorieren. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was tatsächlich da war. Rechts von ihm, so weit das Auge reichte, nur verödete, einsame Felder, brachliegend, auf den Frühling wartend.
Hier und dort stand ein blattloser Baum, wirkte wie ein Gespenst aus den Albträumen seiner Kindheit. Vereinzelt standen nackte, erfrorene Büsche neben den Stämmen der Bäume. Vor ihm glänzte die Wasseroberfläche eines Flusses aus einer Senke zu ihm hoch. Auf der linken Seite starrten ihn die dunklen Fenster einiger Häuser, blinden Augen gleich, durchdringend an. Einige Meter würde er noch gehen müssen, bis sie weit genug entfernt waren. Und dann ...!
Er mußte unwillkürlich lächeln, denn er war zufrieden mit sich. Hier würde es nicht lange dauern, bis jemand nachschauen kommen würde, um zu sehen was dort im Gras liegen würde. Doch durfte es nicht im falschen Moment passieren. Schließlich wären seine Pläne zunichte, wenn nur einer der Anwohner zu früh aus dem Fenster schauen würde.
Tränen traten ihm in die Augen, rannen über seine Wangen, drohten fest zu frieren. Er begann in seiner Zielstrebigkeit zu wanken. Erneut schwappte Trauer über ihn hinweg. Er ging kurz in die Knie, preßte seine kalte Stirn auf eine ebenfalls sehr kalte Hand. Ließ all seinen Tränen freien Lauf, Bilder aus einem unbeschwerteren Leben drangen zu ihm durch, schoben sich vor sein inneres Auge. Ließen in lächeln, gaben ihm Kraft aufzustehen und zu vollenden, wofür er hergekommen war; dankte im Stillen seiner Frau für diese Kraft, die er so dringend benötigt hatte.
Denn Schwäche durfte er jetzt nicht zeigen; sie würde ihn nur hindern; seine Entscheidung umstoßen. Und das wäre nicht klug.
Er warf einen Blick zurück. Das Auto war noch zu sehen, stand am Rande des Feldwegs. Kurzfristig sah es so aus, als würde es in den Graben rutschen ... doch neigte sich der Weg von der Mitte rechts und links nach unten. Deutliche Traktorspuren spielten den Augen Streiche, ließen ihn auflachen. Es war so unnütz sich über den Wagen Gedanken zu machen, niemand würde ihn je wieder benötigen.
Die Beule hinten rechts hatte seine Frau verursacht, als sie ...... Krampfartig zog sich sein Magen zusammen. Er krümmte sich zur Seite und übergab sich. Schwer keuchend stand er da, wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers über den Mund. Wedelte dann unwirsch mit der Hand durch die Luft.
Schmetterlinge tanzten einen Reigen vor seinem Kopf, umschmeichelten ihn, versuchten ihn umzustimmen. Erneut wischte seine Hand durch die Luft, jedoch eher halbherzig. Er wußte schließlich genau, dass sein Gehirn seit dem Tag des Unfalls nicht mehr die Leistung zu bringen imstande war, die nötig gewesen wäre, um jetzt noch ein vernünftiges Leben führen zu können. Gaukelte ihm Bilder vor, die nur er sehen konnte.
Manchmal stand sogar Conny neben ihm, versuchte ihn zu berühren, mit ihm zu sprechen.....aber nie konnte er sie hören. Und wieder wurden seine Augen fort. Entschlossen marschierte er weiter
Deswegen war er ja hierher gekommen. Hatte beschlossen dem ganzen ein Ende zu bereiten. Aber er wollte es nicht mit einem Paukenschlag. Niemand sollte sich jemals seiner erinnern. Doch das war unter den Umständen schier unmöglich. Er warf einen Blick auf die Reisetasche, die er in der Hand hielt. Wieder zwang ihn eine innere Stimme anzuhalten, alles noch einmal zu überdenken. Doch diesmal war er gewappnet, hatte das Herannahen des Gewissens bemerkt, war vorbereitet. Ein Blick zeigte ihm, dass es zu dämmern begann. In nur wenigen Minuten würde es gänzlich dunkel sein. Er seufzte. Die Last seiner Entscheidung ließ ihn straucheln. Dann begriff er. Hier war der Ort.
Langsam setzte er die Tasche ab. Dann ging er in die Hocke und hob einen halbnackten Säugling aus der Tasche, der ihm mit großen verwunderten Augen anstarrte. Er lächelte das Gesichtchen an.
“ Bald”, flüsterte er, “ bald werden wir uns zum letzten Mal den Sternenhimmel anschauen und den Stern suchen auf dem wir die Mama treffen werden.”
Dann ließ er sich mit dem Baby auf dem Arm einfach auf die Grashalme fallen und schloß die Augen. Das Warten würde ihm nicht leicht fallen, doch schon kurz darauf schlief er ein. Endlich.
Das Weinen des Säuglings hörte er nicht mehr.