Grau
Sie sitzt in einem Linienbus. In einem dieser blauen Linienbusse, die alle graue Scheiben haben, von der schmutzigen Stadtluft und die große graue Aufschriften tragen, die früher einmal bunt waren. Sie sitzt also in diesem Linienbus, und um ein Haar, da hätte ich sie übersehen, weil sie sehr klein ist und sehr zierlich. Zu zierlich, sagen die anderen. Zierlich genug, um nicht aufzufallen, würde sie antworten, hätte man sie denn gefragt. Zierlich genug, um nicht gesehen zu werden, als kleines graues Mädchen, inmitten dieser großen grauen Menschen, in einem dieser blaugrauen Linienbusse, die früher einmal strahlend blau waren, genauso blau waren wie ihre Augen.
Früher, als diese grauen Gestalten noch Gesichter hatten für sie, früher, als die Linienbusse noch Farben hatten, als die ganze Welt noch Farben hatte. Früher, da hatte auch sie noch Farben, da war sie nicht nur das kleine graue Mädchen. Früher, da hat sie manchmal gelacht, dieses Mädchen, vielleicht war sie sogar glücklich.
Doch irgendetwas war mit ihr geschehen, ganz langsam und schleichend. Ebenso schleichend, wie ihre Mundwinkel immer starrer wurden, beinahe starrer als ihr Blick. Vielleicht war auch ihr Herz starrer geworden. Und wenn man sie fragen wird, was das war, das ihr das Lächeln nahm, dann wird sie einem den Rücken zuwenden und ihr Blick wird noch lebloser werden, als zuvor und sie wird aus dem grauen Busfenster starren, so als ob draußen in der farblosen Welt etwas ungemein bedeutendes geschehen würde, obwohl es doch in Wirklichkeit nur die grauen Fensterscheiben sind, die sie anstarrt, oder durch die sie hindurchstarrt und die ihr beinahe ebenso unbedeutend scheinen, wie ihr Leben selbst. Und sie wird lange auf die Fensterscheibe starren, traurig und lange, so lange, dass sie ihre Haltestelle verpasst und so lange, bis es anfängt dunkel zu werden, in den Straßen, noch dunkler als zuvor, und sie wird starren und schweigen, eine kleine Ewigkeit wird sie schweigen, doch irgendwann, irgendwann wenn sie die Worte gefunden hat, die ihr richtig scheinen und von denen sie weiß, dass sie die Wahrheit nicht nur streifen, sondern dass sie selbst die Wahrheit sind, ja dann wird sie sich langsam umdrehen und sie wird deine Augen suchen und sie wird deinen Blick suchen, doch da sind keine Augen mehr, da ist niemand mehr da, der ihr zuhören wird, der ihre Wahrheit hören wird und der bereit ist, für sie zu verstehen, warum ihre Welt keine Farben mehr hat.