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Grau

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26.01.2006
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Grau

Er stand am Bahnsteig. 17:12 Uhr. In 8 Minuten kam sein Zug.

Er sah sich um. Überall Reisende. Familienväter im Wollmantel, den Kragen bis ins Gesicht gezogen, auf dem Weg nach Hause zu Frau und Kindern. Die Taschen gefüllt mit Überraschungen für die Kleinen, den Kopf programmiert auf Spiel und Spaß, fernab der Arbeit im heimeligen Einfamilienhaus. Und fernab den heimlichen Gedanken ihres sündhaften Geistes. Und dort? Aufstrebende Bürohengste, die Zeitung fein säuberlich unter den Arm geklemmt, bereit, der Wirtschaftswelt auch nach Feierabend noch am heimischen pc entgegenzutreten. Kraftstrotzend, bis in die Fingerspitzen motiviert, um in der Nacht nach einem 14-Stunden-Tag bei irgendeiner Nutte ein wenig Wärme und Nähe zu suchen.

Er lächelte. Sex wollten sie alle. So oder so. Und je bedeutender und erfolgreicher sie zu sein schienen, desto perverser und abstruser waren ihre Wünsche.
Er wusste das. Er kannte sie alle. Er wusste, was sie wollten und womit man selbst den hochdotierten Manager zu einem winselnden und auf dem Boden um Gnade bettelnden Wurm machen konnte.

Und dort?
Ein verliebtes Pärchen. Wie süß. Sie küssten sich. Scheu, schüchtern, wie es Jugendliche tun, wenn sie zum ersten Mal den Mund ihres Partners erkunden und zaghaft in die unerwartet warme Höhle eindringen, um erschrocken vor dessen Zunge zurückzuweichen und im bereits nächsten Moment wieder zögerlich nach ihr zu suchen.
Wie naiv sie doch waren. Spätestens in ein paar Monaten würde sie ihm sagen, dass sie ihn liebt, eine Familie will, Kinder, und sein Gehirn würde entsetzt nach einem Ausweg suchen, zum Schutz seiner Freiheiten, seiner Abende allein, den Samstagen im Fußballstadion, und enden würde es damit, dass er ihr von einer Anderen erzählt, die ihm mehr Freiraum lässt und sowieso viel besser im Bett ist.

Dann grinste er. Bittersüß.
Liebe war eine Illusion. Sie erwarteten von der Liebe, dass der Andere einen so hinnahm, wie man eben war. Ohne wenn und aber. Ohne Fragen. Bedingungslos.
Aber so lief es nicht, und das wusste er. Es gab nur schwarz und weiß. Und Liebe war schwarz.

17:15 Uhr.
Sie küssten sich immer noch, und wieder sah er hin. Er fragte sich, wann sie es ihm sagen würde. Oder hatte sie es ihm schon gesagt? Wenn ja, war er ein verflucht guter Schauspieler. Sein Blick suchte seine Augen. Sie waren geschlossen, im Zustand vermeintlicher Hingabe.
Kluger Junge, dachte er. Du darfst sie nie wirklich anschauen. Dann sehen sie es. Sie können deine Gedanken lesen, was du wirklich über sie denkst und was du dir wirklich wünscht, wenn du still vor dich hinstarrst und deinen Träumen nachhängst. Also, sieh sie niemals zu lange an. Schließ die Augen - genießend, wenn du sie küsst, begierig und stöhnend, wenn du sie fickst, aber gib ihr keine Chance, in deine Seele zu schauen.

Sein Blick fiel auf ihre Hand, die sie sanft um den Nacken des Jungen gelegt hatte. Ganz leicht nur, aber er konnte die Gänsehaut fast selbst spüren, die diese federleichte Berührung in ihm auslösen musste.
Nimm dich vor ihren Händen in Acht, mein Freund. Sie können Schlimmeres anrichten als ihre Worte, ihre Zunge, selbst als ihre Lippen um deinen Schwanz. Sie sind wie Messer. Sie treffen dich direkt ins Herz.

Plötzlich sah er sie vor sich. Die Meisterin der Messer. Die, die mit einer einzigen Berührung zielsicher das Ende einleiten konnte. Die das geschafft hatte, was bei keinem Sex der Welt zuvor geschehen war.

"Liebst du mich?"
"Du weißt, dass ich dir darauf keine Antwort gebe."
"Und warum bist du dann hier?"
"Weil wir guten Sex haben."
"Du lügst. Sieh' mich an."

Er hatte sie nicht angesehen. Was hätte er ihr sagen sollen? Er war zwar verrückt, aber nicht so verrückt ihr zu erlauben, das Messer auch noch herumzudrehen. Sie hätte ihn niemals verstanden. Sie hätte Opfer gefordert, die er nicht bereit war zu geben. Also hatte er sich entschieden.

17:20 Uhr.
Ein letzter Blick zu dem Pärchen, das sich nur widerwillig voneinander löste, ein leises Seufzen, dann sah er den Zug in den Bahnhof einfahren, hörte das Tosen der Räder und spürte die Luftwirbel, die auch den letzten Gedanken an sie mit sich rissen und im Nirgendwo verschwanden. Entschlossen nahm er seine Koffer und stieg ein.

Sex war weiß, Liebe schwarz. Und das helle Grau, das dort irgendwo vielleicht doch existiert hatte, blieb langsam ausblutend zurück.

 

hi steeerie,

danke auch dir fürs lesen und kommentieren. und ja, du hast recht, es ist kein pessimistisches rumgenörgel. sollte es zumindest nicht sein. ich bin der ansicht, dass es immer einen grund hat, wenn jemand die welt so sieht. zumindest in den fällen, die ich persönlich kenne.

mit dem "PC" hast du vermutlich recht, werde ich überdenken und ändern.

danke nochmal und noch schöne feiertage :)

mag

 

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