Mitglied
- Beitritt
- 22.04.2008
- Beiträge
- 4
Grauer Beton
Ein grauer Frühlingstag… warm war es, aber die Sonne schien nicht. Es wäre auch nicht schön gewesen, denn ich durchlitt geballte Traurigkeit, zu der Sonnenschein gewiss nicht gepasst hätte. Ich wusste nicht, ob es wegen meiner Mutter war, die im Winter nach langem Krebsleiden gestorben war. Ob es unerwiderte Liebe war, wie ich sie seit einigen Wochen erfuhr. Ob es die Schule war, in der ich geliebt und doch gleichzeitig so sehr gehasst wurde. Nein, es war eine verzwickte Situation, in der ich mich befand. An der erweiterten Oberschule stand ich kurz vor dem Absprung, meine Noten waren kläglich.
Nun saß ich in Ost-Berlin im Wohnzimmer. Mein Vater war einkaufen. Ich wusste, dass dies oft nur ein Vorwand war. Er hatte den Tod meiner Mutter schnell verkraftet und hielt offenbar nichts davon, ihr noch Ehre zu erweisen. Ich habe Briefe von ihm gelesen, aus denen eindeutig zu entnehmen war, dass er eine Geliebte hatte. Ich sagte nichts, um ihn nicht zu beschämen. Mein bereits erwachsener Bruder war vor einigen Tagen in die Nationale Volksarmee berufen worden. So saß ich nun alleine auf dem roten Sofa. Ich dachte nach, über die Schule, die Freunde, die Liebe, die Familie. Es lief zu der Zeit so ziemlich alles schief, was schieflaufen konnte. Der hauptsächliche Grund dafür, dass ich so niedergeschlagen war, war aber die Liebe. Lena hieß sie, und sie ging auf meine Schule. Einmal hatte ich ihr bereits einen Antrag gemacht. Sie war überrascht, aber unerwartet offen. Sie sagte, sie würde sich in mich verliebt haben, aber abwarten wollen, denn Schule hatte bei ihr Vorrang. Das war auch schon zwei Monate her, seitdem hatte ich keine Gelegenheit, mit ihr irgendwie zu kommunizieren, sie gab sich in der Schule sehr abweisend, Telefonieren war auch keine Alternative, denn die strengen Eltern hielten es mit der Schule ähnlich wie Lena und wiesen jeden Jungen sofort ab. Lena hatte zuhause offenbar nicht allzu viel zu sagen.
Meine Mutter war immer für mich da gewesen. Im Gegensatz zu meinem Vater, der auch früher schon einmal einen Seitensprung hatte, ging sie immer sehr liebevoll mit mir um. Sie unterstützte mich, wo sie nur konnte. Sie tat alles für mich, damit ich in der Schule promoviert wurde. Sie schenkte mir zu Weihnachten immer einen Schal in den Vereinsfarben von Union Berlin. Sie half mir bei den Hausaufgaben. Früher las sie mir vor. Aber seit Herbst war sie weg. Sie hatte mir, mir persönlich, einen herzzerreißenden Abschiedsbrief geschrieben. Das war drei Tage vor ihrem Tod. Vorher hatte sie die Hoffnung nie aufgegeben, immer gekämpft. Ich habe sie so oft wie möglich besucht. Sie sollte merken, dass es neben einem Vater, von dem sie sich nur des Geldes wegen nicht scheiden ließ, und einem Bruder, der sich seit einigen Monaten und Jahren schon auf seine militärische Karriere konzentrierte und freute, noch ein Familienmitglied gab, dem sie besonders am Herzen lag. Ich glaube, sie hat es gemerkt. Als sie gestorben ist, war ich bei ihr und habe ihre Hand gehalten. Mein Vater ging fünf Minuten nach dem Tod weg.
Meine Hände zitterten und mein Gesicht senkte sich fast automatisch. Tränen begannen mir übers Gesicht zu fließen. Je länger ich über mein Leben nachdachte, desto trauriger wurde ich. Ich raufte mich zusammen und begann, wieder klarer zu denken. Ich musste an Lena denken, was für ein reizendes Mädchen sie war. Ich verließ die Wohnung und ging vor die Tür. Ich wollte ein wenig spazieren, da lief mir Lena fast in die Arme. Mein Herz machte einen Luftsprung, sie hatte mich also doch nicht vergessen. Sie umarmte mich und ich genoss den Moment. „Ich habe dich vermisst“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Mehr als flüstern konnte ich auch gar nicht, ich war sprachlos, dass sie tatsächlich zu mir kam. „Ich dich auch, René“, sagte sie leise. Mit der U-Bahn fuhr ich mit ihr zum Alexanderplatz. Wir hatten einen schönen Tag und ich den ersten Kuss meines Lebens. Er war wunderschön. Ich hatte mich über beide Ohren in sie verliebt.
Als ich nach Hause kam, war mein Vater nicht da. Verwundert machte ich mir etwas zu essen. Da klingelte das Telefon. Die Nachricht, dass mein Vater tot sei, nahm ich erstaunlich gelassen auf. Ich selbst wunderte mich, warum ich so entspannt reagierte. Mein Vater sei erschossen worden, als er versucht hatte, in den Berliner Westen zu flüchten. An der Bernauer Straße hätte er mit seiner Geliebten versucht, dem sowjetischen Sektor zu entkommen. Ich aß mein Brot auf und legte mich schlafen. Ich verspürte keinen Kummer, keinen Schmerz. Der kam aber noch. Einige Tage später, als ich in Fotoalben meiner Familie blätterte. Manche Fotos sah ich zum ersten Mal. Einige zeigten meinen Vater als jungen Mann, wie er mit meiner Mutter zusammen bei Bekannten auf einer Feier war. Andere zeigten meine Eltern auf ihrer Hochzeit. Meine Mutter sah schön aus in ihrem weißen Kleid, mein Vater mit seinen blonden Haaren küsste sie. Auf anderen war mein Vater als Jugendlicher zu sehen. Die Fotos zeigten ihn als aufgeweckten Jungen. Er spielte mit seiner kleinen Schwester im Sandkasten. Tränen rollten mir über die Wangen. Mein Vater hielt sich immer bedeckt, war manchmal etwas gefühlslos, grob – aber im Grunde doch sehr liebevoll. Warum denkt man an so etwas erst immer, wenn es zu spät ist? Ich konnte meinem Vater nie sagen, wie wichtig er mir ist. Tagsüber musste er arbeiten, abends war er entweder müde oder schaute Fern. Nun musste mein Bruder für mich sorgen. Nicht nur, dass er seinem Vater viel verbundener gewesen war als ich und deshalb auch sehr betroffen war, nein, nun musste er auch noch für mich sorgen. Und darüber war er wenig begeistert, nahm es ihm doch die wenige Freizeit, die er hatte, um auf Partys zu gehen oder einfach nur Freunde zu treffen. Aber ich war siebzehn Jahre alt. Nächstes Jahr wäre ich mit der Oberschule fertig, wenn alles gut ginge, und ich könnte studieren. Dann wäre ich volljährig, mein Bruder könnte sich aufs Militär konzentrieren.
Lena war inzwischen meine Freundin und ich konnte ihr alles anvertrauen. Sie zeigte großes Mitgefühl, als ich ihr vom Tod meines Vaters und meiner Mutter erzählte. Es machte mich sehr traurig, diese Geschichten immer wieder zu erzählen – aber andererseits tat es gut, wenn man jemanden hatte, dem man seine Sorgen und Nöte bedenkenlos anvertrauen konnte. Und für mich war es Vergangenheitsbewältigung. Mit ihrer einfühlsamen Art ließ sie mich meine Probleme ohnehin vergessen.
Die Zeit verging, mittlerweile war es Herbst. Wagemutig hatte Lena mich inzwischen ihren Eltern vorgestellt, die aber unerwartet gelassen reagierten. Mit siebzehn Jahren wäre man alt genug für einen Freund, befanden sie, wie mir Lena erzählte. Allgemein ging es mir nun besser. Ich hatte einen kleinen Nebenjob, der meinem Bruder und mir ein wenig mehr Geld beschaffte. Die politische Wende stand bevor, vielleicht käme irgendwann sogar der große Tag, an dem wir gefahrenlos in den Westen reisen dürften.
An einem Oktobertag war es dann so weit: Lena und ich eilten am Abend zum Brandenburger Tor und wollten uns den Fall der Mauer ansehen. Der Fall jenes Bauwerkes, das der Grund für den Tod meines Vaters war. Es war irgendwie eine Genugtuung, dass diese graue Betonlinie nun dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. Dann war der Zeitpunkt gekommen, ein riesiges Feuerwerk startete und wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Ich lag in Lenas. Wir küssten uns. Ich wusste, dass sie merkte, was in mir vorging: Ich dachte an meine Mutter. Meine Mutter wäre stolz auf mich, dachte ich. Ich sah zum hell leuchtenden Himmel auf und wusste, dass sie dort oben war. Und es erfüllte mich mit Stolz.