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Grauer Regen

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26.09.2006
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Grauer Regen

Seit Tagen schon hatte im Dorf niemand mehr die Sonne gesehen. Zum unablässigen Regen gesellte sich ein dichter Nebel, der leise von den Bergen herabkroch und sich wie ein nasses Tuch über das Tal legte. Die von Vieh und Mensch ausgetretenen Wege hatten sich in eine Ansammlung schlammiger Pfützen verwandelt und der kleine Bach hinter den Getreidespeichern leckte schäumend an den Planken der Brücke.
Sie spürte das Wetter in ihren Knochen, die Feuchtigkeit, die durch die Wände drang, machte ihren Gelenken zu schaffen. Wenigstens hielt das Strohdach dicht, zum Glück war es im letzten Sommer neu gedeckt worden. Ein ganzes Schaf hatten sie es sich kosten lassen, aber das war es wert gewesen.
Die alte Fluka seufzte leise und schob die Öllampe näher an ihren kleinen Webstuhl heran. Ihre Augen wurden zwar nicht besser, aber da das Wetter sie in ihrem Haus eingesperrt hatte, blieb ihr wenig zu tun, als die schon vor Wochen gesponnene Wolle zu einem neuen Tuch zu verweben.
„Da kommt jemand.“
„Was?“
Sie drehte sich zu Ulmar, ihrem Mann, um. Er saß auf einem Schemel neben dem Fenster, seinen neuen Schäferstab zwischen den Knien und Holzspäne an der Hose, und deutete mit dem Messer nach draußen.
„Hörst du’s nicht? Jox bellt. Da kommt jemand die Straße herunter.“
Tatsächlich. Durch das bedrohliche und doch einlullende Rauschen des Regens drang gedämpftes Bellen. Sie schnaubte und wandte ihm wieder den Rücken zu.
„Bei diesem Wetter geht niemand vor die Tür. Schlimm genug, das du den armen Hund in seiner Hütte schlafen lässt.“
„Wirst’s schon sehn, Alte“, brummte er und schälte ein weiteres Rindenstück von seinem Stab.
Sie schob weiter das Schiffchen durch die gespannten Fäden und versuchte nicht auf das Ziehen in ihren Fingerknöcheln zu achten.
„Da!“, rief Ulmar triumphierend. „Der Besuch will zu uns, ich kann ihn sehen. Er ist klein.“ Sie hörte das Stirnrunzeln in seiner Stimme. „Und er hat vier Beine…“
„Hast du dich wieder am Branntwein vergriffen, du alter Suffkopf?“
„Ach, halt den Mund, Weib.“
Ein Ächzen und das Kratzen des Schemels auf dem Boden. Er hatte sich erhoben.
„Es ist nicht einer, sondern zwei. Kinder. Das sind Raalas’ Bastardzwillinge! Ja, sie kommen zu uns. Na denen werd’ ich… Machen mir hier noch die Schafe nervös!“
„Ulmar!“, rief Fluka. „Sie sind immer noch dein Neffe und deine Nichte!“
„Die Brut der Tochter deiner Schwester, dieser Hure! Sie sind nicht mein Fleisch und Blut. Wenn ich dich nicht geheiratet hätte…“
„…wärst du heute noch ein Tagedieb und im Graben verreckt, wärst du!“, fuhr sie ihn an und schaffte es keuchend, vor ihm an der Tür zu sein.
Kalte, dumpfe Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen, als sie die Tür aufschob. Keine Sekunde zu früh, denn auf der Schwelle stand ein zitterndes Bündel aus einer schweren Wolldecke auf vier dürren Beinchen, an denen der Schlamm bis zu den Knien klebte. Unter dem grauen Stoff lugten vier blaue Augen hervor, eingerahmt von zwei Büscheln weißblonden Haars und dazwischen kleine, blasse Gesichter, die einander glichen wie ein Ei dem anderen.
„Bei allen Göttern!“, rief Fluka aus, zerrte die vollkommen durchnässten Kinder in die Stube und überließ es ihrem Mann mit einem leisen Fluch die Tür zuzuschlagen.
Das Feuer im Kamin war schon fast heruntergebrannt, aber einige Holzscheite ließen es wieder hell auflodern. Die Kinder stellten sich ganz nahe an die Flammen und versuchten wieder etwas Wärme in ihre kleinen Hände zu reiben. Fluka nahm ihnen das nasse Wolltuch ab.
„Na ihr kleinen Strolche! Was treibt ihr euch herum? Den Hintern versohlen sollte man euch!“
Die Zwillinge blickten zu ihr auf.
„Entschuldige, Tante Fluka.“
Die Alte nickte, kniff kurz die Augen zusammen und entschied nach einem kritischen Blick, dass diese Worte von Taya stammten. Mit ihren sieben Jahren waren die zarten Muster ihrer Sommersprossen noch immer das einzige, womit sich das Mädchen und ihr Bruder Olik unterscheiden ließen.
„Na, schon gut“, sagte sie etwas versöhnlicher. „Aber was wollt ihr hier? Und was sagt eure Mutter dazu?“
„Nicht böse sein, Tante Fluka.“ Diesmal war es Olik. „Mami hat gesagt, sie geht in den Wald, bevor alle Beeren geplatzt sind. Sie bringt uns Pilze mit. Und sie hat gesagt, wir sollen auf das Feuer aufpassen.“
„Sie war komisch“, fügte seine Schwester hinzu.
„Verrücktes Weibsstück“, brummte Ulmar, der zu seinem Platz am Fenster zurückgekehrt war. „Raala wird sich da draußen die Blutlunge holen!“
„Still, alter Miesepeter.“ Sie griff eine trockene Decke zu legte sie den Kindern um die Schultern. „Und was ist geschehen?“
„Olik ist eingeschlafen und hat nicht auf das Feuer aufgepasst!“
„Bin ich gar nicht! Du solltest auf das Feuer aufpassen“
„Mami hat gesagt, du sollst Holz nachlegen!“
„Aber du auch!“
„Nein!“
„Doch!“
„Ihr habt also das Feuer ausgehen lassen“, stellte Fluka fest. Die Zwillinge senkten die Köpfe, als wären sie soeben beim Gemüseklauen erwischt worden.
„Da ist ein neues Loch im Dach. Wir haben es erst gemerkt, als es Zisch gemacht hat in der Asche.“
„Und jetzt ist da nur noch eine Pfütze.“
Fluka seufzte. Den Rest konnte sie sich denken.
„Und da saßt ihr in der Kälte und der Dunkelheit und…“
„…und da dachtet ihr, verkriecht euch doch bei eurer alten Tante und eurem alten Onkel, während eure Rabenmutter sich von den Nachtreißern holen lässt“, fiel ihr Mann ihr ins Wort.
„Ulmar!“ Fluka humpelte zu ihm hinüber und bohrte ihm einen vom Alter verkrümmten Zeigefinger in die Brust. „Ich glaube, es ist besser, wenn du in den Stall gehst und den Tieren frisches Heu gibst!“
„Du bist unverbesserlich, Alte!“, grummelte er, ließ seine Schnitzerei bleiben und schlurfte in Richtung Stall. Fluka wartete, bis er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, dann ging sie zum Herd, nahm den Kessel vom Feuer und goss das kochende Wasser in zwei Tonbecher mit getrockneten Kräuterblättern. Sie holte den Honigpott aus einer Truhe und rührte mit einem Holzlöffel zwei dicke Batzen unter. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass die Lippen der Zwillinge allmählich wieder Farbe bekamen.
„Hier“, zwinkerte sie. „Aber erzählt eurem Onkel nichts von dem Honig. Soll er ruhig denken, ich hätte alles weggenascht. Er mag zwar ein alter Miesepeter sein, aber in Grunde ist er ein netter Kerl.“
„Danke, Tante Fluka.“ Taya und Olik nippten gierig am süßen Kräutersud.
Die Alte zog einen Schemel heran und ließ sich mit einem leisen Seufzen darauf nieder. Ihre eigenen Söhne waren in die Stadt gegangen, schickten jeden dritten Vollmond ein paar Kupfermünzen nach Hause und es schien eine Ewigkeit herzusein, dass sie so klein gewesen waren, wie Taya und Olik. Es war selten, dass man die Zwillinge so zufrieden sah. Im Dorf war man nicht gerade freundlich zu ihnen und ihrer Mutter. Und wenn die Götter ihnen jetzt auch noch die armselige Hütte über den Köpfen zusammenbrechen ließen…
Etwas zupfte vorsichtig an ihrem Rock. „Tante Fluka“, begann Taya, „Wieso ist Mama so komisch?“
Fluka presste die Lippen zusammen, als sie in die großen, fragenden Augen des Mädchens blickte.
„Komisch?“
„Ja, komisch.“, beharrte Taya. „Schon seit mehreren Tagen. Olik hat sogar gesehen, wie sie geweint hat, in der Nacht, einfach so.“ Ihr Bruder nickte.
Diese neugierigen Gören. Trotzdem hielt sich Flukas Überraschung in Grenzen. Irgendwann mussten die Kinder einen flüchtigen Blick hinter die eiserne Maske erhaschen, mit der Raala die Vergangenheit und all das böse Blut im Dorf ertrug.
Aber warum musste das ausgerechnet jetzt sein?
Und das Schlimme war, das Fluka meinte die Antwort zu kennen.
„Kommt her. Ich werde euch eine Geschichte erzählen.“

„Vor langer, langer Zeit lebte in einem fernen Königreich in einem Dorf an einem großen Fluss ein Mann. Er war kein armer Mann, nein, er lebte gut in einem eigenen Haus und er hatte immer genug für sein leibliches Wohl. Er war auch kein unglücklicher Mann denn er durfte die Liebe eines wunderschönen jungen Mädchens sein eigen nennen. Und so hielt er um ihre Hand an und sie willigte freudig ein.
Nun stammte das Mädchen aus einem anderen Dorf, das auf der anderen Seite des Flusses lag und der alte Fährmann mit seinem kleinen Nachen verdiente sich viele kleine Silbermünzen damit, sie jeden Tag zu ihrem Liebsten zu bringen. Die Zeit verging und der Tag der Hochzeit rückte immer näher.
Doch es gab noch jemanden, der Gefallen an dem Mädchens gefunden hatte. Roc, der Gott der Wolken und des Windes hatte ein Auge auf die Schönheit geworfen und jetzt wurde Er von unbändigem Neid und Zorn gepeinigt, dass sie sich einem anderen Sterblichen antrauen lassen wollte. Und so geschah es, dass wenige Tage vor der Vermählung, als das Mädchen wieder einmal über den Fluss fuhr, der Gott beschloss, sie ganz für sich allein zu haben.
Roc schickte eine scharfe Windbö vom Himmel, der das Fährboot so zum Schaukeln brachte, dass das schöne Mädchen in den Fluss fiel. Sie schrie und rief um Hilfe, aber da sie nicht schwimmen konnte, rissen sie die Fluten mit sich fort und sie ertrank.
Darauf hatte Roc gewartet. Als sich ihre Seele vom Leib löste, ergriff Er sie und verwandelte sie in einen weißen Vogel, damit sie am Himmel immer an Seiner Seite sein sollte.
Der Mann wartete lange auf seine zukünftige Braut, aber als der dritte Tag zu dämmern begann und sie ihn immer noch nicht besuchen kam, beschloss er, nach ihr zu sehen. Er ging zum Fluss hinab und traf dort auf den Fährmann, der still am Ufer saß.
„Wieso sitzt du hier auf der Erde und nicht in deinem Boot, alter Schiffer?“, fragte der Mann.
„Ach“, antwortete da der Alte voller Gram, „was soll ich jemals wieder auf den Fluss fahren, wenn doch die junge Schönheit nicht mehr da ist. Vor drei Tagen hat sie mir der Wind aus dem Boot geworfen und der Fluss hat sie mit sich genommen.“
Da begann der Mann zu ahnen, was mit seinem Mädchen geschehen war. Trauer griff nach seinem Herzen und Tränen füllten seine Augen. Doch dann schlug seine Traurigkeit in blinde Wut um und er packte den Fährmann und würgte ihn.
„Was lässt du meine Liebste ersaufen, du alter Feigling! Wärst du ihr nachgesprungen und hättest sie gerettet!“
Und wie er das rief, war das Leben aus dem Alten gewichen. Er warf ihn voller Verachtung in das Wasser und ging mit blutendem Herzen heim. Wie er dann aber da saß, den Kopf zwischen seinen Händen, da kamen ihm Zweifel und Skrupel. Wie hätte der Fährmann ihr helfen sollen, er war schon zu alt und zu schwach gewesen, um gegen die Kraft des Stromes anzukämpfen. Da erkannte der Mann, dass er zum Mörder eines Unschuldigen geworden war und wieder fing er an bitterlich zu weinen.
So beschloss er, den Fluss entlangzugehen und nach seiner ertrunkenen Liebsten zu suchen, um ihr ein anständiges Begräbnis zu schenken. Tagelang wanderte er durch Schilf und Schlamm, bis er an eine Fuhrt kam, wo das Wasser die Leiche des Mädchens an das Ufer gespült hatte.
Doch der grausame Tod hatte ihr Gesicht verwüstet und die wilden Tiere hatten ihren Körper benagt, so dass von ihrer Schönheit im Leben nichts mehr geblieben war. Das sah der Mann und abermals nahmen ihm die Wut und die Trauer den Verstand.
„Da liegst du nun!“, schrie er in seiner Besinnungslosigkeit. „Wegen dir muss ich all diesen Schmerz erleiden! Wegen dir habe ich den armen Fährmann umgebracht! Ich wünschte es hätte dich nie gegeben, wärst du in den Fluss gefallen, bevor ich dich gekannt hätte, dann wäre mir all dieses Unheil nie zugestoßen!“
Seine Worte stiegen auf zum Himmel und trafen dort auf den weißen Vogel, der die Seele des Mädchens war und der Hass färbte ihr Gefieder Schwarz und ließ ihren Gesang zu einem hässlichen Krächzen werden. Und als Roc sah, was da geschehen war, da verfiel Er in unbändigen Zorn, wie ihn nur die Götter kennen.
Seine donnernde Stimme fuhr auf den Mann hernieder:
„Du, der du mit deinen unbedachten Worten meine schönste Schönheit geschändet hast, ich verfluche dich! Du wünschtest, es sollte sie nie gegeben haben, so soll es dich niemals geben!
Der graue Regen soll folgen dir, wo immer du auch bist und sein Wasser soll alles fortwaschen, was dort ist, auf das nichts und niemand bleibt um an dich zu erinnern! Der Donner soll verbrennen die Häuser in denen du schläft und die Tinte mit der du schreibst soll zu Wasser werden! Deine Spuren sollen im Schlamm verwischen, damit dein Weg verborgen bleibe, wohin du auch gehst. Kein Mensch auf der ganzen Welt soll wissen, dass es dich gibt!
Und von diesem Schicksal soll dich kein Alter und kein Tod erlösen, nicht bis zum Ende aller Tage.“
Der Mann sah, wie sich die Wolken über ihm zusammenballten. Und als es zu regnen anfing, da floh er nach Hause. Doch wie er dort ankam, fand er sein Heim vom Blitze niedergebrannt bis auf die Grundmauern. Von seinem Besitz blieb ihm nur der Beutel Goldmünzen, den er bei sich trug. So mietete er sich im Gasthof ein. Dort saß er dann und grübelte darüber nach, was der Gott wohl gemeint haben könnte, während die Wolken am Himmel nicht weichen wollten.
So vergingen einige Wochen, in denen nichts passierte, außer dass ständiger Regen fiel.
Doch dann begann der Mann eine unheimliche Veränderung zu bemerken. Zuerst fingen die Farben an, zu verblassen. Das Rot der Ziegelsteine, das Grün der Bäume, die Gewänder und die Gesichter der Menschen, sogar der gelbe Schein des Feuers, alles wurde grau, grau wie der Himmel über ihnen. Dann schien alles langsam durchscheinend zu werden, als würde alles Stoffliche langsam daraus verschwinden. Der Mann rieb sich die Augen, hielt alles für einen Streich, den sein Geist ihm spielte, aber dann begannen auch die Töne an dumpfer und leiser zu werden, das Bellen der Hunde, das Muhen der Kühe und auch das Reden der Menschen. Nur das Prasseln des Regens blieb stetig da.
Und als der Mann eines Tages erwachte, da war das Dorf verschwunden und er lag allein, auf grauer, nasser Erde.
Er wanderte in ein anderes Dorf und suchte sich dort ein Heim, dachte, er könnte den ganzen Spuk hinter sich lassen, aber der graue Regen folgte ihm und auch hier geschah das gleiche. Er ging in die nächste Stadt und blieb dort, aber nach wenigen Monaten hatte der Regen alle Mauern und Menschen aufgelöst. Er zog immer weiter und suchte einen Ort, wo er bleiben und in Ruhe leben könnte, aber immer war der graue Regen bei ihm. Der Mann suchte Hilfe, aber die meisten Menschen lachten über ihn und wenn ihm jemand glaubte, so war er doch nach kurzer Zeit schon verschwunden. Er schrieb Briefe an weise Männer, Priester, sogar an den König, aber alles was ankam war nur ein feuchtes Stück Papier. Und als sich der Mann schließlich umblickte, hatte der graue Regen das gesamte Königreich vom Antlitz der Welt gewaschen.
Große Trauer und Verzweiflung umfing ihn mit schwarzen Armen und er erklomm die höchste Klippe, die er fand, um sich in eine Schlucht zu stürzen. Doch wie er fiel, da war es, als würde der Regen ihn auffangen, seinen Sturz bremsen und er berührte unversehrt den Boden.
Und da begriff der Mann, dass er gegen den Fluch des zornigen Gottes machtlos war. Wenn er nicht eines Tages vollkommen allein auf der Welt sein wollte, dann war er gezwungen zu wandern und nicht lange an einem Ort verweilen. Er musste wieder fort sein, bevor der Regen sein grausames Werk verrichtet hatte, er konnte keine Freundschaften eingehen, denn seine Nähe brachte nichts als Verderben.“

Fluka machte eine Pause und es war nur noch das Prasseln des Regens und das Knacken des Feuers da. Wenn man genau hinhörte, konnte man vielleicht noch hören, wie es im Stall rumorte, wo Ulmar die Schafe mit frischem Heu versorgte. Die Zwillinge hatten sich in ihre Decke gewickelt und sahen mit großen Kinderaugen zu ihr auf. Über die Mundwinkel der Alten zuckte ein kurzes Lächeln. Es war einige Zeit her, dass jemand ihr zuletzt so gebannt gelauscht hatte, aber sie war definitiv nicht aus der Übung gekommen.
„Das ist aber eine schlimme Geschichte, Tante Fluka!“, sagte Taya mit dem Ernst eines Kindes. „Aber was hat das mit Mama zu tun?“
„Nun geduldet euch. Die Geschichte geht ja noch weiter. Will jemand noch einen Kräutertee?“
„Au ja!“
„Ich auch!“
„Gut. Aber Honig gibt’s diesmal keinen!“
Unter den ungeduldigen Blicken der Kinder schenkte Fluka nach.
„Nun, wo war ich… Ach ja...“

„So wanderte der Verfluchte einsam durch die Welt. Wie lange, das wusste selbst er nicht mehr. Er sah viele Länder, hohe Berge und tiefe Meere, aber nichts machte ihm Freude, denn über allem hing der graue Regen. In keinem Dorf, in keiner Stadt verweilte er lange und schon kurz nachdem er sie wieder verlassen hatte, erinnerte sich schon niemand mehr an ihn. Es war, wie Roc es gesagt hatte, kein Mensch auf der ganzen Welt wusste, dass es ihn gab.
Trotzdem sann er ununterbrochen darüber nach, wie es ihm gelingen konnte, den Fluch zu brechen. Und wie unablässig grübelte, da kam irgendwann die Idee: Mit einer Liebe hatte der unselige Fluch seinen Anfang genommen, mit einer Liebe ließ sich Roc vielleicht überlisten, denn man sagt ja, dass die Liebe zuweilen stärker sein kann, als die Götter.
So hielt der Mann unter den Frauen und Mädchen Ausschau nach einer neuen Liebe. Doch bald schon merkte er, dass er schon zu lange einsam und allein durch die Welt gezogen war. Welcher Frau er auch begegnete, keine mochte auch nur den leisesten Funken Liebe in ihm zu erwecken. Es war, als hätte der Regen auch sein Herz grau und leer gewaschen. Seine letzte Hoffnung schien zu schwinden.
Schließlich lenkte das Schicksal seine Schritte in unser Tal und brachte den grauen Regen mit.“

Den Zwillingen stand der Mund offen.
„Er war hier?“
„Hier bei uns?“
Fluka lächelte.
„Ja, vor einigen Jahren. Er hat sich im Gasthof einquartiert, damals, als der alte Holler noch am Leben war. Und dort hat er auch eure Mutter kennen gelernt.“
„Mami?“ Taya runzelte die Stirn. „Was hat die denn da gemacht?“
„Raala hat damals dort gearbeitet. Damals kamen noch viel mehr Reisende über den Pass und haben hier in unserem Dorf Rast gemacht. Und so traf sie auch auf den verfluchten Mann.“
Die Alte sah, wie es hinter den Stirnen der Kinder arbeitete. Sie senkte die Stimme ein wenig und erzählte weiter.

„Wisst ihr, eure Mutter war damals noch ein wunderschönes Ding. Nicht wenige Männer im Dorf haben damals um sie geworben. Die Narbe hat sie sich erst geholt, als ihr schon drei Sommer alt wart, als ein Rudel Nachtreißer im Winter… aber das gehört jetzt nicht hier her.
Jedenfalls hatten die Götter eure Mutter als genaues Abbild des armen ertrunkenen Mädchens geschaffen, dass der Mann einst geliebt hatte. Und wie er sie sah, als er am Abend in der Gaststube saß, da begann sich sein Herz zu erinnern, wie es war, Liebe zu empfinden, ja im selben Augenblick noch verliebte er sich in sie. Und wie er nach draußen zum Himmel aufsah, da erschienen ihm die Wolken nicht mehr so grau und der Regen nicht mehr so düster, wie es sonst gewesen war.
Ich habe einmal gesehen, wie er Raala den Hof gemacht hat. Er erzählte ihr von den fernen Ländern und Städten, die er schon durchwandert hatte und er beschrieb sie in den leuchtendsten Farben und bei strahlendem Sonnenschein, denn die Sonne schien auch wieder in seinem Herzen. Und Raala, jung wie sie war, lauschte ihm so gebannt zu, wie ihr mir jetzt. Er war so faszinierend, jener Mann, der so jung im Gesicht, aber so alt in seinen Worten war.
Und so schenkte auch sie ihm alsbald ihre Liebe und versprach ihn zu heiraten.
Der Mann baute ein Haus am Rande des Dorfes, es war nicht groß, aber gut und stabil. Sie heirateten bei den Tempelsteinen auf dem Krummberg und fast schimmerte etwas Sonne durch die Wolken.
So verlebten sie glücklich die ersten Monate. Der graue Regen war immer noch da, aber er war kaum noch mehr als ein sanftes Nieseln. Und eines Tages bemerkte Raala, dass sie neues Leben unter dem Herzen trug.“

„Willst du damit sagen, der verfluchte Mann ist unser Vater?“, rief Olik. Er wollte aufspringen, aber seine Schwester zog an der Decke, so dass er wieder auf den Boden plumpste. Tayas Blick ging leicht ins Leere, als wollte sie sich das so schwer Fassbare vorstellen. Dann aber sah sie auf.
„Wie ging es weiter, Tante Fluka?“

„Nun, der Mann war voller Freude. Er hatte den Regengott überlistet, er hatte ein Zeichen von sich in der Welt hinterlassen: Kinder.
Aber seine Freude ließ ihn übermütig werden. Er stieg auf den Krummberg und reckte die Faust gen Himmel und verhöhnte den Gott: „Roc! Ich habe es geschafft. Ich bin doch klüger als du gewesen!“
Kaum hatte er das ausgerufen, da verdunkelten sich die Wolken und der graue Regen stürzte hernieder, stärker als je zuvor. Da bekam der Mann wieder Angst und lief nach Hause und versteckte sich dort.
Und wenige Tage später geschah, was er in seinen schlimmen Träumen befürchtet hatte. Er musste mit ansehen, wie das Dorf, ja das Haus und seine Frau begannen, ihre Farben zu verlieren. Der Fluch war zurück. Ich weiß noch, wie ich mich an jenem Tag fühlte, es fiel mir schwer zu sehen, zu hören, ja sogar zu fühlen und zu denken.
Und da wusste der Mann, dass es nur einen Weg gab, eure Mutter und euch zu schützen: Er musste weiterziehen und den grauen Regen mitnehmen.
Noch in derselben Nacht, als Raala schon schlief, gab er ihr einen letzten Kuss und verschwand aus unserem Tal.
Niemand hat ihn je wieder gesehen.“

Wieder herrschte Stille im Raum. Die Zwillinge starrten stumm in ihre leeren Tassen und versuchten zu verdauen, was ihre Tante ihnen da gerade erzählt hatte. Fluka selbst saß auf ihrem Schemel und kam sich älter vor als je zuvor. Mit knackenden Knochen erhob sie sich und warf einen Blick aus dem Fenster.
„So, es wird langsam dunkel.“ Sie lächelte müde. „Wenn man bei diesem Wetter überhaupt noch vom Dunkelwerden sprechen kann. Eure Mutter wird sich sicher große Sorgen machen, solltet ihr nicht zu Hause sein, wenn sie kommt.“
Sie holte Ulmars Schäferkutte aus der Truhe und legte sie sich um die Schultern. Dann zündete sie die eiserne Laterne an der Öllampe an.
„Was machst du da, Tante Fluka?“
„Ihr glaubt doch nicht, dass ich euch noch mal allein durch den Regen gehen lasse. Ihr könnt die Decke mitnehmen und sie uns dann später zurückgeben. Ihr wisst ja wie kalt es ist. Nun kommt!“
Sie hatte erwartet, dass die Kinder murren würden, aber sie erhoben sich wortlos, schlangen die Wolldecke noch fester um ihre schmalen Schultern und trotteten an ihre Seite. Fluka nickte, mehr zu sich selbst und wandte sich zum Gehen.
Hinter der Türöffnung hing der Regen wie ein nasser Vorhang. Dahinter warteten mit Sicherheit tagelange Rückenschmerzen und vielleicht sogar eine Blutlunge auf sie. Fluka seufzte und wollte gerade den Fuß über die Schwelle setzten, als sie spürte, wie von hinten an ihrer Kutte gezupft wurde.
Wie eine einzige Person zogen die Zwillinge an dem groben Stoff.
„Das ist der graue Regen, nicht wahr, Tante Fluka?“
„Unser Vater ist hier und trifft sich mit Mami. Deshalb ist sie in den Wald gegangen.“
Sie verkniff sich ein Seufzen, aber es fiel ihr schwer. Woher nahmen Kinder so viel Verstand und wohin verschwand er nur im Laufe des Lebens?
„Ich weiß es nicht.“ Fluka rang sich ein Lächeln ab. „Aber ich bin sicher, eure Mutter würde nichts tun, was euch schaden könnte. Und… euer Vater auch nicht. Aber das alles ist nichts, über das man viele Worte verlieren sollte, sonst zieht ihr auch noch den Zorn des Regengottes zu. Und wie ihr ja seht, ist er in letzter Zeit nicht der besten Laune. Und jetzt lasst uns gehen.“
Die Zwillinge nickten, aber als sich Fluka gerade wieder umdrehen wollte öffnete Taya doch noch einmal den Mund.
„Eins noch, Tante Fluka. Wenn der Regen alle Erinnerungen an unseren Vater fortwäscht, woher weißt du dann so viel über ihn?“
Fluka hob die Laterne und das Schattenspiel ließ die Runzeln ihres Gesichtes noch tiefer wirken. Sie tätschelte erst Taya, dann Olik den Kopf.
„Wer weiß? Vielleicht bin ich ja doch eine Hexe.“
Dann trat sie hinaus in den Regen.

Später, als sie aus der wässrigen Dunkelheit zurück ins Haus trat, fand sie Ulmar am Fenster sitzend, das Schnitzwerkzeug in der Hand, so als wäre nichts geschehen. Zu seinen Füßen lag Jox und döste vor sich hin. Ab und zu wedelte er einige Holzspäne mit dem Schwanz davon.
Erschöpft und durchgefroren ließ sich Fluka auf ihren Schemel fallen. Jeder Knochen in ihrem Körper schien sich gegen sie verschworen zu haben. Sie war einfach zu alt für so etwas.
Lange saßen beide da und schwiegen. Schließlich räusperte sich Ulmar, ohne dabei aufzusehen.
„Warum erzählst du diesen Kindern solche Geschichten? Sie haben es auch so schon schwer genug.“
„Hast du uns also belauscht?“
„Was denkst du denn, wie lange ich für die Schafe brauche? Wieso, Fluka?“
Sie starrte auf die schlammigen Fußspuren, die sie beim Reinkommen hinterlassen hatte.
„Weil Raala ihnen garantiert nie etwas erzählen wird.“
„Aber jetzt werden sie fragen.“
„Vielleicht werden sie das, Ulmar, vielleicht.“
Und dann seufzte sie doch noch.
„Weißt du, es ist doch wirklich so: An sein Gesicht wird sich keiner erinnern. Nur an den Regen…“

 

Hej omnocrat,

mir hat die Geschichte gefallen, die Stimmung um die Alte und die Kinder noch mehr als das eingeschobene Märchen. Letzteres finde ich stellenweise zu langatmig, z.B. verstehe ich nicht die Funktion des Fährmanns. Ungeduld und aufbrausende Stimmung verrät der junge Mann ja auch, als er den Leichnam seiner Geliebten findet und mit dem Regengott aneinander gerät.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich gefunden:

das Böse Blut im Dorf ertrug.
Falls das nicht eine geschichtenspezifische Bezeichnung ist würde ich "böse" klein schreiben.

So erkannte der Mann, dass er zum Mörder eines Unschuldigen geworden war und wieder fing er an bitterlich zu weinen.
So beschloss er, den Fluss entlangzugehen

Und wie unablässig grübelte
Und wie er unablässig

Und eines Tages bemerkte Raala, dass sie etwas unter dem Herzen trug
"Etwas" klingt, als könne sie auch ein Stück Bonbonpapier oder einen kleinen Hund unter dem Herzen tragen. Aber auch wenn sie nicht wusste, das es zwei Kinder waren,dass es sich um ein Kind handeln würde, wusste sie.

Hab ich gerne gelesen.

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Ane

Schön, dass die Geschichte dir zugesagt hat. Das die Märchenhandlung nicht ganz so gut ankommt, wie der Rahmen, ist mittlerweile allgemeiner Konsens, damit finde ich mich wohl besser ab. ;)

Der Fährmann passte meiner Meinung nach einfach rein, auch wenn er die Sache ein wenig in die Länge ziehen. Er verstärkt eben die Charakterisierung, ansonsten wäre mir persönlich der spätere Wutausbruch zu sehr aus dem Nichts gekommen.

Dank dir für die rausgepickten Fehler, rechtschreibtechnisch hat sich die Geschichte zu meiner persönlichen Nemesis entwickelt. :D
Wird alles korrigiert.

Greetz
omno

 

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