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Graues Glück
Graues Glück
Schnipp. Das schneidende Geräusch der Schere holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Ich brauche unbedingt ein neues Kleid, das hier zieht überall Fäden.“ Schnipp. Er beobachtete wie ein weiterer Faden langsam zu Boden schwebte.
Plötzlich bewegte sich seine Frau mit der Schere in der Hand auf ihn zu. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er auf einmal die irre Vision, dass sie mit der Schere auf ihn losstürzen würde. Er spürte beinahe den kalten Stahl der Klingen auf seiner Haut, nachdem sie sich auf dem Weg in sein Fleisch durch seinen abgetragenen Anzug gebohrt hatten. Schnipp. Aber nur ein weiterer Faden fiel zu Boden, diesmal von seinem Anzug.
„Bist du fertig Schatz?“ Die ausgestoßene Luft seiner Worte ließ den Faden in einem leichten Aufwind tanzen.
Während er dem Weg des Fadens unablässig mit den Augen folgte, dachte er über seine eben gesagten Worte nach: Schatz. Was war eigentlich ein Schatz? War es nicht etwas, was man schätzte, was kostbar für einen war? Er dachte über Kostbarkeiten in seinem Leben nach. Im selben Augenblick breitete sich ein schiefes Lächeln über seinem Gesicht aus, als er sich fragte, ob es wohl angemessen wäre, wenn er von nun an seine DVD Sammlung mit diesem Kosenamen betiteln würde.
Plötzlich merkte er, wie seine Frau ihn anstarrte. Sofort verschwand das Lächeln.
„Du wirst immer wunderlicher.“ Sie stand vor ihm und zupfte an ihm herum. Der Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Sie benutze immer noch das gleiche wie vor 30 Jahren.
Damals hatte bereits dieser Duft genügt, um ihn zu erregen. Nun regte sich nichts mehr. Und umso öfter er ihren Geruch vernahm, war es ihm als ob sich noch etwas anderes darunter mischte. Er wusste nicht warum, aber ein Bild von bröckelndem Putz kam ihm in den Sinn. Manchmal dachte er auch an Verwesung, an den körperlichen Verfall, den sie unter den Schichten ihres Make-ups verbarg. Doch dann erschrak er und fragte sich, ob dieser Geruch wohl auch ihm kleben würde.
Von Zeit zu Zeit sah er sie an und überlegte den ersten Moment, wer sie war, denn in ihrem Gesicht konnte er nicht mehr das finden, weshalb er sie einst geliebt hatte. Ob es sich wohl unter den Schichten von Puder und Cremes versteckt hatte?
Nun beobachtete er sie aufmerksam. Sie wollte wieder einmal zu irgendeinem Geburtstag, irgendwelcher Bekannten. Er verspürte nicht die geringste Lust zu diesen Menschen zu gehen, die er nicht kannte, die ihn nicht interessierten und die sich auch nicht für ihn interessierten. Aber seine Frau hielt es für wichtig. War man anwesend, konnte nicht über einen geredet werden und es kamen auch keine Gerüchte zu Stande, das war ihr wichtig, also war es ihm ebenso wichtig, folglich fügte er sich. Er sah wieder zu ihr herüber. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und steckte sich ihr Haar hoch. Auf einmal sah er etwas, was nicht in ihr ansonsten sorgfältig gefärbtes Haar passte. Er ging näher heran und entdeckte tatsächlich eine winzige graue Strähne dicht über ihrem Haaransatz im Nacken. Er beugte sich noch näher über ihren Nacken und beobachtete die wenigen Haare in ihrem schimmernden grau und plötzlich begann sich eine Woge von Zärtlichkeit in ihm auszubreiten. Er konnte nicht anders und küsste ihren Nacken. Sie erschauerte und machte einen Schritt vorwärts. „Lass das, wir müssen jetzt los!“ Sie griff nach ihrer Handtasche und sie gingen gemeinsam zur Haustür. Sie ging vor. Noch einmal warf er einen Blick auf diese Strähne, dieses Stück Unvollkommenheit. Als ob sie seinen Blick im Nacken spüren konnte, blickte sie sich noch einmal um. Doch in der Hälfte ihrer Bewegung erstarrte sie und schaute in den Spiegel, im Eingangsbereich. „Was ist denn das? Hättest du mir nicht sagen können, dass ich da eine graue Strähne habe?“ Sie griff zur Schere auf der Ablage. Schnipp. Ein letzter prüfender Blick und sie eilte zur Tür hinaus und achtete gar nicht auf die herab-fliegenden Haare.
Doch er sah ihnen nach und streckte unwillkürlich seine Hand aus. Die Haare segelten auf seine Handfläche, die sich schützend um sie schloss. Er steckte sie in die Tasche, schloss die Tür hinter sich und lächelte erneut. Doch diesmal war es ein warmes Lächeln.
Jeder an diesem Abend sollte, in dem Glauben das Lächeln würde ihm gelten, zurück lächeln. Wahrscheinlich zum ersten Mal würden ihn die Leute in Erinnerung behalten und würden glauben, dass sie eine glückliche Ehe führen würden, während er sich hinter diesem Lächeln, an diesem Abend in die schwer zu betretende Welt der glücklichen Momente seines Lebens zurückgezogen hatte, die sich um das Bildnis jener grauen Haarsträhne rankten.