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Gretchens Kuss

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19.05.2015
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Gretchens Kuss

Dämonen tobten und hämmerten in ihr, tanzten in ihren Gedanken und klopften gegen die Gehirnwände. Alle Tränen waren aufgebraucht, als sie durch den Park irrte, den Teppichrasen, die Vögel, die Kinderwagenfamilien kaum wahrnahm, die an ihr vorbeijagten. Sie setzte sich auf eine Bank und sah den Blättern zu, die im Wind tanzten, zog Mantel und Schal enger an sich, um die Wärme in ihr zu hüten, spürte, wie Kälte die Härchen auf ihrer Haut aufrichtete. Eine Weile atmete sie die Winterluft im Takt ihres Herzens ein. Dann roch sie Fäulnis, Weihnachtsbaumnadeln, Zimtsterne, fröstelte und beobachtete die Bäume, die ihre Nebelfinger zum Himmel schickten. Sie schloss die Augen, wiegte sich im Takt eines Stille-Nacht-Traums und wollte warten, bis sie von der Dunkelheit ergriffen wurde.

Da spürte sie einen Windhauch, öffnete die Augen und sah ein Mädchen, das neben ihr saß, ohne dass sie gewusst hätte, woher es kam, so nah, dass die Schenkel sich berührten. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht bewegten sich im Takt ihres Lächelns wie ein Sog, in den man nur einzutauchen brauchte.

„Bist du traurig?“, fragte das Mädchen.
„Ach, mir ist das Glück abhandengekommen“, antwortete die Frau. „Nichts gelingt mir und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
„Hm“, sagte das Mädchen, streckte das Milchhändchen aus, zeigte auf ein rosa Säckchen, öffnete es und sagte: „Ich heiße Gretchen und möchte dir etwas zeigen. Schau mal, Ulla!“
„Was hast du in dem Säckchen?“-
„Hauptsächlich Erinnerungen.“

Sie hielt ihr einen schwarzen Stein hin, der wie eine Zwiebel aussah, aus der im Frühjahr Blumen wachsen.
„Das ist ein Mondstein, der vom Himmel gefallen und auf einem Berg gelandet ist.“
Mehr von den Wunderschätzen kamen zum Vorschein, während die Hände flatterten, die Worte sprudelten, sich in Ullas Bauch herumtrieben, sie wärmten und sich wie ein Sturmwind anfühlten, der die Verwirrung mitnahm. Sie lernte die Nadel kennen, mit der Gretchen die Knöpfe an den Kleidern ihrer Lieblingspuppen annähte, die Strähne blonden Flachshaars, die eine Fee verloren hatte, das Fläschchen mit Wasser aus einem Zauberteich, das jeden Kopfschmerz besiegte, die Samtfeder eines Vogels, der in Regenbogenfarben schimmerte und manches, über das man nicht reden darf.

Als Gretchen den Saum ihres Sternenmantels zurückschlug, sich vorbeugte, kam ein schwarzes Säckchen zum Vorschein.
„Was machst du damit?“, fragte Ulla.
„Da stecke ich alles rein, was ich vergessen will. Tränen, Wut und Angst und wenn ich an einem Meer, einem See oder einem Fluss vorbeikomme, werfe ich es rein.“

 

Hallo alexei,

dankeschön für deinen Vorweihnachtsbesuch in der Märchenwelt. Klar, manches wirkt kitschig, wenn man es so lesen möchte, anderes könnte ausgeschmückter sein, hätte wahrscheinlich viel mehr Text erfordert. Als Experiment hat’s funktioniert und mir geholfen, so wie deine Kritik auch.

Beim ersten Absatz hab ich das Gefühl, dass man sich nicht entscheiden konnte, ob man jetzt ein angenehmes oder ein unangenehmes Gefühl beim Leser hervorrufen wollte. Zum Beispiel hier:

roch Fäulnis, Weihnachtsbaumnadeln, Zimtsterne
Ich weiß nicht, ob das beabsichtigt ist. Mir gefällt es jedenfalls nicht.

dieses Gefühl wollte ich schon erzeugen, das Ambivalente Gefühl zwischen Zimtsternsehnsucht und der Fäulnis in ihrem Inneren.

Das mit Weizenmeer würde ich streichen.
schade, dass das Bild nicht funktioniert, ich hab’s rausgenommen, haben andere auch kritisiert.

Ach, mir ist das Glück abhandengekommen“, antwortete die Frau
Und die Frau sagt jetzt einfach einem fremden Kind, dass es ihr nicht gut geht??
ja, so stelle ich mir Märchen vor.:shy:

Schau mal, Ulla!“
Das ist schön. Weil das Mädchen den Namen der Frau von Anfang an weiß, wirkt sie mystischer.
gut, dass du es bemerkt hast.:Pfeif:

Liebe Weihnachtsplätchengrüße
Isegrims

 

Lieber Friedel,

ich musste deinen Kommentar genau lesen, in den Lichtstunden der vergehenden Weihnachtstage, so dicht verpackst du deine Anmerkungen. Vielen Dank für deine Zeit und deinen wachen Geist.

Eine in Rosa angelegte Zone der horizontalen Farbschichten in Darstellungen von Heilungswundern, der Himmelfahrt oder Verklärung in der frühen deutschen Buchmalerei weist auf einen zärtlich-barmherzig geöffneten Himmel. Auch Christus trägt einen rosafarbenen Mantel,
ich habe in einer anderen Geschichte mit der Farbe Rosa gespielt und nun erst weiß ich mehr darüber.

* Nur "Mention" wird in der Formatierungsleiste angeboten, dass ich für Zitate aus Eurem Text "< .... > nehme. Ist sogar raumsparender, quarsch, ist ja eher ne Fläche ...
oha, aber schwieriger zu erkennen.:D

Sommersprossen sind meistens bräunlich (gelb mit Grauschleier) und Weizenmeere zeigen zumeist Monokultur(en) an - schließt sich der Kreis von der Symbolik her, wenn man weiß, dass der Weizen tatsächlich seinen Namen von der Farbe des Mehls hat: "Weiß", bis ins 16. Jh. sind mundartlich "weiszen" und schriftsprachlich "weissen" belegt (Grimmsches Wörterbuch).
habe ich zwar mittlerweile geändert, aber das Weizenmeer werde ich sicher bei anderer Gelegenheit wieder verwerten.

Man soll halt nicht alles glauben, was das Internet so anbietet.
yes!:thumbsup:

Was aber außergewöhnlich entwickelt erscheint, ist der Geruchssinn, etwa Zimtsterne in einem Park zu riechen, es sei denn, jemand - und sei es sie selbst - trüge die Leckerei spazieren oder der Wind wehte Rolf Zukowskis Weihnachtsbäckerei herüber (oh Gott, noch neun Tage, bis ich in einem Kreise von Drei- bis 67-jährigen, vielleicht sogar einer über 90-jährigen, gefoltert werde.
dabei handelt es sich eher um einen Geruch, der aus den Gedanken hervorweht. Und? Hast du die Wonneweihnachtstage gut und ehrnevoll und stolz überwunden, dein Gretchen geküsst?:Pfeif:

Viele Grüße in die wilde Nachweihnachtsnacht
Isegrims

 

Grüß dich Isegrims!

Nachdem ich deinen kurzen Text gelesen hatte, habe ich mir die Kommentare und vor allem deine Antworten angesehen - und ich muss sagen, diese haben mir geholfen, diese Geschichte besser als das einordnen zu können, was sie wohl sein soll: einen kleinen, weihnachtlichen Impuls, ein kurzer Moment zum Innehalten, ein warmer Lichtstrahl an einem kalten Tag.

Und in diesem Licht hat mir die Geschichte mit dieser Intention sehr gut gefallen. Ob ihrer Kürze verzichtest du auf Schnörkel, baust keine weitreichende Handlung aus und musst dich auch nicht auf Handlungslogik, Figurencharakterisierung und Sinnhaftigkeit von Zusammenhängen konzentrieren.

Statt dessen schenkst du dem Leser mit der verzweifelten Ulla und dem tröstenden Gretchen ( als gute Fee, Weihnachtsengel oder einfach nur ein Kind mit schöner, kindlicher Fantasie) das befriedigende Bild von Schutz, Geborgenheit und Linderung von Trauer und Rastlosigkeit.
Gut gewählt hast du dazu die ambivalenten Beschreibungen winterlich/weihnachtlicher Idylle und den gleichzeitigen Merkmalen des Verfalls. Seien es Dämonen oder der Geruch der Vergänglichkeit - ein schön subtiles Bild, dass sich dem Leser erschließt.

Das "Ende" (was in meinen Augen eigentlich keins ist, da dieser kurze Ausflug in eine emotionale Gedankenwelt eigentlich keinen Anfang und damit auch kein Ende im Sinne einer konventionellen Geschichte benötigt!) ist wie gesagt erstaunlich befriedigend - alle Sorgen kommen in einen Sack und der Sack kommt in den See! Die Patentlösung für Kummer, Gram und unzufriedenen Ehepartner!

Ich muss sagen, zunächst war ich ja angesichts der Kürze dieser (fast schon Kalenderblatt)geschichte ein wenig skeptisch. Umso erfreulicher dann auch die intendierte Wirkung und die dafür sehr passend gewählten stilistischen Mittel.

Eine gute Geschichte - Danke dafür!

Der EISENMANN wünscht dir einen guten Rutsch ins neue Jahr mit hoffentlich wenig Inhalten für das schwarze Sorgensäckchen!!:)

 

Hallo wieselmaus,

danke dir für dein kurzes Statement.

Anna, meine jetzt elfjährige Enkelin, verkündigte kurz vor ihrem sechsten Geburtstag:

"Oma, darf ich dir was sagen? Wenn du mir was schenkst, also, meine rosa Phase ist jetzt vorbei, ich mag jetzt lieber grün oder lila."

Was sagt uns das?

ich schätze mal, deine Enkelin hat ihr rosa Glückserinnerungssäckchen umgefärbt, ja? :shy:

Daher will ich jetzt gar nichts über Kunst und Kitsch nörgeln,
ich will auch nicht darüber reden, in der Zeit nach Weihnachten, der Erholungszeit nach den Herzkitschtagen, besser nicht nörgeln.

Liebe Grüße und einen perfekten Start ins neue Jahr für dich
Isegrims

 

Hallo Carlo Zwei,

entschuldige bitte meine späte Antwort, hing mit der Zimtsternzeit, den nachweihnachtlichen Vorneujahrstagen zusammen. Und mit der Challenge-Geschichte, die ich fertigstellen wollte. Vielen Dank für deinen Kommentar, die Zeit und die Auseinandersetzung mit dem Text.

atmete sie die Winterluft, hörte ihrem Puls zu, dann roch sie Fäulnis, Weihnachtsbaumnadeln, Zimtsterne, fröstelte und beobachtete
ein bisschen zu dick aufgetragen für meinen Geschmack
na ja, Weihnachtzeitbeschreibung, das kann ruhig fetter sein.

Während Ulla verwundert in die Sonnenaugen sah, gab Gretchen ihr einen Kuss
die Sonnenaugen mit bestimmtem Artikel ist mir zu selbstverständlich als Begriff eingeführt. Eine Anreihung von Neologismen dieser Art würde es mir über den Kontext besser erschließen
diese Anmerkung verstehe ich nicht ganz, du meinst, ich soll da mehr Sonnenglitzerlichtwörter anfügen, echt?

wenn sie sprachlich unter die Lupe genommen wird, noch einige Unebenheiten birgt, die vielleicht auch daher rühren, dass die Wahrnehmungsebenen, die sich hier in der Sprache niederschlagen, kompliziert sind, und auch ein/e sehr erfahrene/r Autor/in darüber bestimmt schnell ins holpern gerät.
ich über noch, will aber die Wahrnehmungsebenen ermöglichen.

Liebe Grüße und einen Sonnenstart in das frische Jahr
Isegrims

Hi Grayson,
dankeschön, für mich ist es wertvoll zu wissen, was Sprache bewirken kann, freut mich, dass der Sog bei dir entstanden ist, auch wenn ich nicht recht weiß, was alternative Bewusstseinsebenen sind.

Hallo
Wirklich viele Gedanken habe ich zum Text deiner Freundin nicht, außer dass er sprachlich stark ist. Dieses Poetische zieht den Leser in alternative Bewusstseinsebenen. Interessant :)

Dir auch ein bewusstseinsebenenerweiterndes Jahr
Isegrims

 

Lieber Eisenmann,

was für ein Kommentar. Den versteht man erst so recht, wenn man bedenkt, wie heiß Eisen in der Sonne wird, vielen Dank.

diese Geschichte besser als das einordnen zu können, was sie wohl sein soll: einen kleinen, weihnachtlichen Impuls, ein kurzer Moment zum Innehalten, ein warmer Lichtstrahl an einem kalten Tag.
besser könnte ich meine Absicht nicht ausdrücken, mehr will der Text nicht.

Ob ihrer Kürze verzichtest du auf Schnörkel, baust keine weitreichende Handlung aus und musst dich auch nicht auf Handlungslogik, Figurencharakterisierung und Sinnhaftigkeit von Zusammenhängen konzentrieren.
ich hatte schon den Impuls die Geschichte besser zu füllen, Charaktere zu zeichnen, Erklärungen zu geben, andererseits fühlte es sich so an, als ob die Figuren dadurch an sozusagen mystischem Glanz verlören.

alle Sorgen kommen in einen Sack und der Sack kommt in den See! Die Patentlösung für Kummer, Gram und unzufriedenen Ehepartner!
wenn wir es uns nur manchmal so einfach machen würden und könnten, aber träumen darf man davon

Ich wünsche dir ein Rosasäckchenjahr und sende dir ein paar Eisenfressergrüße und gelobe, dass ich bald eine Horror-Geschichte schreiben werde.
Isegrims

 

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