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Großeltern

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20.07.2025
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Großeltern

Hannes ist sieben. Er wohnt mit seiner Mutter in Markt Indersdorf nördlich von Dachau in Oberbayern. Zu seinen Großeltern in Albersbach ist es nur ein Katzensprung, anderthalb Kilometer. An der Grundschule vorbei, den Wirtschaftsweg entlang, von den Fischteichen am Waldrand aus zur Solaranlage und wieder aufs freie Feld bis zu ihrem Häuschen.

An ihrem freien Nachmittag einmal in der Woche nimmt ihn seine Mutter dorthin mit. Sie hilft den Großeltern, putzt, räumt auf, arbeitet im Garten und macht sonst noch Kleinigkeiten. Manchmal bleiben sie dort übers Wochenende. Die Großeltern sind toll. Oma zeigt Hannes die Blumen und Kräuter in ihrem Garten, Opa erklärt ihm, wie man Holzfiguren schnitzt oder aus Krähenfedern einen Indianerkopfschmuck bastelt.

Seine Mutter seufzt oft.

»Ich hätte das Haus längst verkaufen sollen.«

»Und wo sollen Oma und Opa dann wohnen?«

Sie streicht ihm übers Haar und lächelt. Keinen Ton sagt sie. Nie.

Seine Mutter ist im Krankenhaus. Ein paar Tage nur. Hannes hat sie besucht, die Klinik liegt fast vor der Haustür. Er hat nicht verstanden, was man mit ihr macht, weiß nur, dass er bis zum Wochenende allein zu Hause ist. Er hat versprochen, tapfer zu sein.

»Frau Hager vom ersten Stock schaut nach dir, und du isst bei ihr. Sie ist aufmerksam und hilfsbereit.«

Für Hannes ist sie neugierig und aufdringlich. Frau Hager ist, wie sie heißt. Dürr, mit scharfen Gesichtszügen und stechenden Augen. Ein Drachen, ein Gespenst! Er kann sie nicht leiden.

Frau Hager hat gerade die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen. Hannes atmet auf, er ist wieder allein. Das Wochenende liegt zwei Tage in der Zukunft. Die Alte wird also noch zweimal abends vorbeikommen und ihn ins Bett bringen!

Hannes steht auf, geht zum Fenster. Dämmerung, noch nicht einmal Nacht. Er hat einen Plan. Er zieht seine Jeans an, den Pullover und die Jacke und schlüpft in die Gummistiefel. Sein Rucksack ist schnell gepackt. Etwas zu essen noch, ein paar Dosen Limonade. Er weiß, bei seinen Großeltern ist das Essen knapp.

An der Haustür verharrt er, greift sich an die Stirn. Natürlich! Er trippelt die vier Stufen wieder nach oben und holt in der Wohnung seine Taschenlampe von seinem kleinen Schreibtisch. Er hat sie sich zum Geburtstag gewünscht, eine große Stablampe mit so hellem Licht, dass man nicht hineinschauen kann. Es ist seiner Mutter nicht leichtgefallen, aber sie hat sie ihm gekauft! Es war ein toller Geburtstag, obwohl sie am nächsten Tag ins Krankenhaus musste.

Es ist dunkler, als Hannes beim Blick aus dem Fenster geglaubt hatte. Außerdem setzt die Nachtfeuchte ein, der Wind pfeift eine beunruhigende Melodie. Er schlägt den Jackenkragen hoch. Ein letzter Blick zurück, bei der Hager brennt Licht.

»Die wird Augen machen, wenn sie morgen merkt, dass ich weg bin!«

Bei dem Gedanken grinst er spitzbübisch, dreht sich um und macht sich auf den Weg.

Die Baustelle hinter der Grundschule überrascht ihn. Jetzt in den Ferien ist er natürlich nicht hier gewesen. Ein Bauzaun versperrt ihm den Weg. Er findet eine Lücke, zwängt sich hindurch, zuckt zusammen. Woher kommt plötzlich das Brüllen? Das Klatschen? Erschrocken schaut er sich um. Und da entdeckt er sie!

»Das kann nicht sein!« Hannes steht starr. »Bloß nicht bewegen!«

Zwei Saurier richten sich nur wenige Meter vor ihm auf. Sie stehen einander zugewandt, brüllen sich an. Einem hängen Fleischfetzen aus dem Maul.

Gleich gehen sie aufeinander los. Hannes schluckt. Wann werden sie ihn entdecken?

Haben sie sich zu ihm umgedreht? Sie bewegen sich nicht. Er atmet auf, ist sich aber nicht sicher, ob hier nur der Wunsch der Vater seines Gedankens ist.

»Es gibt keine Saurier mehr. Das können nur ihre Geister sein, die in der Baugrube eingesperrt waren.«

Seine Stablampe fällt ihm wieder ein. Sie baumelt an seinem herabhängenden Handgelenk. Zögerlich hebt er die Hand, sein Daumen gleitet die Aluminiumröhre entlang, tastet nach dem Schalter. Endlich! Ein gleißender Lichtstrahl blendet die Saurier, sie können nichts sehen, und wenn sie ihn entdecken sollten, schaltet er das Licht wieder aus und verbirgt sich im Dunklen.

Aber Hannes sieht keine Saurier. Ein Bagger und eine Planierraupe stehen sich da gegenüber, den Greifarm und die Schaufel auf einem Gerüst abgestützt. Um den Greifarm des Baggers klatschen Reste einer zerrissenen Plane. Die Fleischfetzen! Und ihre Drahtseile surren im Wind.

Hannes schüttelt sich, Tränen rollen über sein Gesicht, Tränen der Erleichterung, aber so einen Schrecken will er heute nicht noch einmal erleben. Hätte er lieber daheim bleiben sollen? Er zwingt sich weiter.

Auf dem Feldweg schaut er sich immer wieder um. Lauert etwas hinter den Büschen? Der Mond hat die Äcker in Zwielicht getaucht. Etwas vertritt ihm den Weg. Ein halb durchsichtiger Riese steht mitten drauf und fuchtelt wild, hält schon eine Person in den Krallen, brummt ein Angst einflößendes Lied. Hannes versteht den Text nicht. Beinahe wäre er der Gestalt in die Arme gelaufen, er hatte über die Felder geschaut und sie übersehen.

Hannes bewegt sich nicht. Das Gespenst sieht er vor dem finsteren Hintergrund des Waldes nur undeutlich, geisterhaft. Er dreht sich um, will zurücklaufen, besinnt sich eines Besseren. Der Geist hätte ihn auf der freien Strecke mit vier, fünf Schritten eingeholt. Vielleicht tut er ihm nichts, wenn er stillhält? Vielleicht klappt das mit dem Blenden hier auch? Und wenn der Geist zu ihm rennt, knipst Hannes die Lampe aus, springt in den Graben und duckt sich.

»So mache ich das!«

Der knorrige Baum wiegt sich im Lichtkegel, seine Äste rütteln, der Wind summt durch Blätter und Zweige. Hannes sieht nun die enge Kurve, in der der Weg vor der Bank unter der Trauerweide nach links abknickt. Das Kruzifix mit der lebensgroßen Heilandfigur unter dem dünnen Vorhang aus Zweigen erkennt er auch wieder.

Er schaltet die Lampe aus, will die Batterien schonen. Seine Großeltern haben kein Ladegerät, und er hat seines daheim vergessen.

Der Wald schließt sich um ihn. Hannes weiß, dass man pfeifen soll, wenn man allein darin unterwegs ist. Das vertreibt die Angst. Aber sein Mund ist trocken, durch seine gespitzten Lippen dringt nicht ein Ton. Dafür tönt der Wald umso eindringlicher. Seit er ihn betreten hat, pfeifen die Waldgeister, brummen und buhen ihn aus, weil er sich fürchtet und nun zu rennen beginnt. Kichern setzt ein. Er braucht doch wieder Licht und schwenkt die Lampe hin und her.

Keine Gespenster, und das Kichern kommt von den flachen Wellen, die der Wind gegen die Ufer der Fischteiche klatscht. Da vorn ist der Wald auch schon zu Ende, jetzt kommt nur noch fester Weg im Freien. Wenn da nicht das Solarfeld wäre mit seinen mannshohen Schatten! Hannes ist dankbar, dass es wenigstens kein Friedhof ist.

Er schafft es. Er keucht, langsam wird sein Atem wieder gleichmäßig, sein Herz rast nicht mehr. Hannes steht am Ortseingang. Noch ein paar Straßen, dann klopft er bei Oma und Opa an die Haustür, von der seit langem die Farbe abblättert. Opa sagt, er kann sie nicht streichen, und so verwittert sie weiter.

Sein Herz macht einen Sprung. Etwas streichelt sein Bein, kitzelt. Hannes zieht ruckartig den Fuß weg, das Gespenst am Boden faucht und knurrt. Er holt mit der Taschenlampe aus, schlägt zu, trifft nichts. Geister haben keinen Körper. Hannes erschrickt durch diese Gedanken aufs Neue. Das Knurren verwandelt sich. Er leuchtet an sich herab.

Mohrle, der Kater vom Nachbarn der Großeltern, streicht um seine Beine, schnurrt. Hannes geht in die Hocke, begrüßt das nachtschwarze Haustier, tätschelt ihm ein paarmal Kopf und Rücken. Er steht auf, die Lampe braucht er für die letzten Schritte nicht.

Das Gartentor knarrt leise, als Hannes es hinter sich schließt. Er sieht die Haustür als dunkles Viereck in der mondbeschienenen Hauswand, die Fensterläden sind geschlossen. Wenige Meter noch, dann wird er auf der Stufe stehen und klopfen. Die Klingel funktioniert schon lange nicht mehr. Großvater sagt, er kann sie nicht reparieren.

Etwas will nicht, dass Hannes hineingeht. Er zittert, Gänsehaut kriecht seinen Rücken hinauf, ihm wird noch kälter. Hat er doch Unrecht, wenn er denkt, Geister haben keinen Körper? Dieser hier hält seinen Fuß mit eiserner Klammer, gibt ihn auch nicht frei, als Hannes ihn fortzieht. Der Geist lässt ihn ein, zwei Schritte machen, bevor er wieder anzieht. Schließlich stoppt er ihn ganz. Hannes will schreien, bekommt aber keinen Ton über seine Lippen. Die Lampe, schon vergessen?

Der Gartenschlauch rollt sich friedlich auf den Waschbetonplatten. Hannes nimmt seinen Fuß aus der Schlinge, atmet erleichtert auf und öffnet die Haustür. Auf sein Klopfen hat niemand reagiert, aber er hat ja den Schlüssel, den auch seine Mutter stets benutzt.

»Junge, das ist aber nett, dass du uns besuchst! Bist du allein?«

Oma schaut ungläubig, als er nickt. Sie drückt ihn an ihre Brust, Opa steht hinter ihr und lacht ihn an.

»Ich habe dir Pflaumenkuchen gebacken. Den isst du doch so gern.« Oma hat wirklich an alles gedacht. »Möchtest du etwas Limonade?«

Wortlos nickt Hannes, holt beides aus seinem Rucksack und breitet es auf dem Küchentisch aus, zieht sich den Stuhl heran, setzt sich und beginnt sein spätes Mahl. Seine Großeltern schauen ihm zu, zucken ab und zu zusammen, als er mit vollem Mund von seinen Abenteuern auf dem Weg zu ihnen erzählt. Von so vielen Gespenstern haben auch sie noch nicht gehört. Sie lachen jedes Mal erleichtert, wenn er ihnen erklärt, wie sich sein Schrecken aufgelöst hat.

Irgendwann ist er müde. Ordentlich hängt er seine Sachen über den Stuhl in seinem Zimmer, schlüpft in den Schlafanzug und kriecht ins Bett. Oma kommt, rückt ihre Brille zurecht und liest ihm eine Gutenachtgeschichte vor, er wundert sich, wie sie im Dunkeln sehen kann. Am Ende der Geschichte drückt sie ihm einen Kuss auf die Stirn und tritt zur Seite. Opa fährt ihm mit der Hand durchs Haar und wünscht ihm eine gute Nacht. Sie winken, als sie aus dem Zimmer gehen.

Hannes seufzt, bevor er einschläft. Er erinnert sich, dass seine Großeltern gestorben sind, als er noch ganz klein war.​

 

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Hallo @Michael Kothe,
berührende Geschichte. Ich habe meinen Großvater zwar lange gehabt, aber er hat sich gar nicht um mich gescherrt. Meine Oma ist 45 an Typhus gestorben, da war meine Mutter zwölf. Vater ist ebenfalls nicht vorhanden, wie bei der Hauptperson in der Erzählung. So richtig liebevolle Großeltern kann ich gar nicht nachvollziehen. Durch Deine Geschichte ist mir die Idee gekommen, dass mir da etwas fürs Leben entgangen ist. Die Beziehung Enkel Großeltern ist wichtig für die zukünftige Entwicklung eines Kindes. Wenn da Ablehnung erfolgt, oder die Großeltern ein Vakuum darstellen, kann das ungünstige Folgen haben. Ich habe auch mal hier im Forum einen Text über Großeltern eingestellt. Bei Interesse. Er heißt: Kurze Straße 19.
Gruß FK

 

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