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Großstadtdschungel

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25.06.2020
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Großstadtdschungel

Wieder kehren ihre Gedanken zu diesem einen Moment zurück, wieder und immer wieder hört sie den schrillen Klingelton, sieht sich schlaftrunken zur Tür taumeln im blaugestreiften Nachthemd, hört
unterschiedliche Schritte im unbekannten Rhythmus, quietschende Gummisohlen neben harten Absätzen im gleichmäßigen Takt, zu schnell für zwei Uhr nachts, spürt noch einmal das Unbehagen, als sie die Klinke hinunter drückt und die Tür langsam öffnet.

Heute, fast genau ein Jahr später, steht Amelie auf der anderen Seite dieser Tür, wartet darauf, dass ihr geöffnet wird, etwas atemlos, achtundsechzig Stufen sind es in den vierten Stock. Sie ist spät dran und der Fahrstuhl mal wieder kaputt, wie so oft in den letzten vier Jahren. Den Schlüssel hat sie schon vor Tagen im Büro bei Schultz-Immobilien abgegeben, die Suche nach einem Nachmieter ist bereits in vollem Gange. Noch einmal tief durchatmen, dann drückt sie auf den messingfarbenen Klingelknopf. „Ach da sind Sie ja, Frau Reimann, lassen Sie uns noch einmal alles durchgehen und dann nur noch eine Unterschrift“, professionelles Lächeln, das die Augen nicht erreicht, Figur betonender, dezent hellgrauer Anzug, zu viel Rasierwasser kann die letzte Zigarette nicht überdecken. Auch nicht der Geruch der frischen Farbe oder des Holzöls der Dielen, der in der Luft hängt. „Sieht ja alles gut aus so weit, nur ein paar Kleinigkeiten. Der Anstrich der Eingangstür deckt nicht optimal, wäre Abschleifen besser gewesen, wir raten ja immer ab von dunklen Farben.“

Amelies Augen folgen der weit ausholenden Armbewegung. Der Dschungel ist nun mal dunkel und gefährlich, geht ihr durch den Kopf. Die Gedanken wandern zurück. Die reklamierten dunkleren Schattierungen werden zu dichten Schlingpflanzen in verschiedensten Grün- und Brauntönen. Auf dem dicken Ast in Augenhöhe liegt ein beeindruckend großer schwarzer Panther und schaut ihr mit seinen gelben Augen direkt ins Gesicht. An zwei armdicken Lianen schwingt sich ein Paar von der Schwelle eines Baumhauses in großem Bogen um das Raubtier herum und fliegt auf ein Hochhaus zu, Hand in Hand, lachende Gesichter. Ein Schimpanse grinst hinter einem riesigen Blatt hervor und am Baumstamm reibt sich ein dicker Bär wohlig den Rücken.

Ron hatte so gelacht, als sie wie vom Donner gerührt vor seinem „Tor zum Großstadtdschungel“ erstarrte. „Hey, willkommen zurück in unserem Baumhaus! Wie war‘s beim Leben retten?“ Eigentlich war er gerade dabei eine neue Kinderbuchversion von Kiplings Dschungelbuch zu illustrieren, doch offensichtlich hatte er Schwierigkeiten, seine Ideen und sein Temperament auf Buchseitenformat zu fokussieren. „Vielleicht ein bisschen dunkel in dem kleinen Flur?“, hatte sie noch zaghaft eingewandt, bevor Rons strahlende, erwartungsvolle Augen sie in sein Lachen einstimmen ließen, „zweifellos einmalig“, schob sie prustend hinterher.

In der Notaufnahme hatte sie Ron zum ersten Mal gesehen, Blut an Kinn, Ellenbogen und Knie, die neongelbe Jacke mit dem roten Schriftzug „Pizzanotruf“ war zerrissen. Eine unachtsam geöffnete Autotür, der Fahrer hatte darauf bestanden, ihn ins Krankenhaus zu bringen. „Wo haben Sie Schmerzen? Ich untersuche Sie jetzt mal vorsichtig.“ Kurzes Schweigen, fragender Blick. „Aber dann wird die Pizza doch kalt.“ Dieser erster Dialog, immer wieder gerne zitiert auf die Frage, wie sie sich denn kennengelernt hätten. Wochen später stand Amelie mit dick verbundenem Knöchel vor dem Fahrstuhl ihres Wohnhauses und fluchte laut angesichts des „Außer-Betrieb“-Schildes an der Tür. Missmutig machte sie sich an den schmerzhaften Aufstieg, registrierte kaum den Summer, das dumpfe Zuschlagen der schweren Haustür und die leichten, elastischen Schritte, immer zwei Stufen auf einmal. Pizzanotruf sauste neongelb an ihr vorbei, verharrte am Treppenabsatz und drehte sich schwungvoll um. Strahlende Augen unter dunklen, unfrisierten Haaren schauten sie überrascht an. „Haben Sie Schmerzen? Ich trage Sie jetzt mal hoch, wenn’s recht ist, in welchen Stock denn?“ Überraschter Blick, kurze Sprachlosigkeit. „Ich fürchte, dann wird schon wieder die Pizza kalt.“

Von diesem Tag an wirbelte Ron durch ihr Leben. „Amelie, der passt nicht zu dir, Künstler und Pizzafahrer, der nutzt dich aus. So viel Unzuverlässigkeit hat in deinem Leben keinen Platz, du willst doch Karriere machen, nach dem teuren, langen Studium. Da brauchst du Zeit und Kraft für Klinik und Forschung und keine Flausen im Kopf.“ Vermutlich irgendwie gut gemeinte Ratschläge hatten keine Chance gegen die neue, zuvor so nie gekannte Leichtigkeit in ihrem Leben. Der Duft von Pfannkuchen, schwungvoll mit Flughöhe von einem Meter gewendet, begrüßte sie nach dem anstrengenden Nachtdienst. Auf der anderen Seite des kleinen Küchentisches saß ein aufmerksamer Zuhörer, voller Mitgefühl in warmen dunklen Augen. Das Bild des wimmernden Mädchens mit dem verbrühten Arm in der Notaufnahme verblasste, der innere Druck verpuffte, die nächtliche Adrenalinüberdosis der stetigen Anspannung und Konzentration begann langsam abzufallen. Sie konnte endlich wieder ohne schwere Träume schlafen. Amelie war fasziniert mit welcher Intensität sich Ron in alles stürzte mit scheinbar unerschöpflicher Energie. Sie genoss es, sich in seinen übersprudelnden Bilderwelten zu verlieren, lachte über seine Geschichten als Pizzabote, „ich liebe diesen Job, so viele interessante Leute und Einblicke!“, auch wenn sie immer ein bisschen Angst um ihn hatte, wenn er nachts auf seinem Fahrrad unterwegs war. „An unserem Kennenlern-Tag mache ich das bis an mein Lebensende! Ok, den Unfall lasse ich weg!“ „Wir könnten uns auch einfach zur Feier des Tages eine Pizza backen und kalt werden lassen?“

„Frau Reimann?“, die etwas heisere Stimme von Immobilien Schultz holt Amelie in die Gegenwart zurück. „Sie wollten ja die Küchenzeile hier lassen, da können wir das mit dem Anstrich schon übernehmen. Nur hier an der Zwischentür die Scheibe müsste allerdings doch auf ihre Kosten originalgetreu ersetzt werden. Das passt so wirklich gar nicht zum Stil dieser wunderschönen Altbauwohnung.“ Wieder diese übertrieben ausholende Armbewegung, Amelies Blick durch das einfache Glas als wäre es eine Zeitmaschine .

Glassplitter im ganzen Wohnzimmer versprengt, eine Blutspur von Rons Unterarm bis auf den Boden. Ungläubiges Entsetzen, Höhepunkt dieser grauen, schweren gemeinsamen Monate. Wann hatte sie eingesetzt, diese Veränderung? Wann war die helle Leichtigkeit brüchig geworden und zurückgewichen? Hatte es schleichend begonnen oder doch in diesem einzigen Augenblick, den Ron später auf die Stunde genau zu kennen glaubte? Dunkle Wolken senkten sich nieder. „Siehst du nicht, dass selbst unser Spiegelbild in den Pfützen grau und unscharf ist? Wo soll ich da Farben und Bilder finden?“ Eine zerstörerische dunkle amorphe Masse begann durch die Wohnung, durch ihrer beider Leben zu wabern, schob sich in jede noch so kleine Lücke, schaffte schmerzhaft Distanz zwischen ihnen. Alles Strahlende, das bisher seine Umgebung in den Bann gezogen hatte, schien sich bei Ron jetzt wie ein zerstörerischer Laserstrahl nach innen zu richten, während er äußerlich fahl und grau und mit dunklen Augenringen unter matten, fast leblosen Augen langsam zu zerfallen schien. Amelie fühlte sich hilflos, wehrte sich gegen die Warnung ihrer ärztlichen inneren Stimme, wollte Ron glauben, dass so eine Phase doch bei Künstlern mal vorkommen könne, „nur eine Schaffenskrise“. Beschwichtigte sich weiter, selbst nach diesem Abend, als sie nach Hause kam, Splitter und Blut überall. Zeugen von plötzlich aufwallendem Zorn und Verzweiflung über die Leere im Kopf und im Herzen. Als hätte jemand einen Überdruckbehälter geöffnet war alle zerstörerische Energie in Rons Schlag gegen das Glas explodiert, hatte sich plötzlich nach außen gekehrt. Amelies Entsetzen, ihre Angst, er hätte versucht, sich das Leben zu nehmen, Rons erstaunt wirkende Erleichterung, mit der er fasziniert die tiefen Schnittwunden an seinem Arm betrachtete. „Das tut echt weh, aber hey, ich kann es fühlen, herrlich schlimm! Es ist vorbei, alles wird gut!“ Amelie rettete sich in die Rolle der Notärztin, da hatte sie gelernt zu funktionieren, Emotionen unterzuordnen. Untersuchen, desinfizieren, ein paar Stiche, ein großer Verband. „Auf keinen Fall ins Krankenhaus, ich habe meine Lebensretterin doch hier bei mir!“ Im langen Ringen zwischen den beiden, Patient und Ärztin, dann wieder Partner und Liebende, zwischen einerseits Vernunft - „plötzlicher Beginn und Ende einer Depression sind richtungsweisend für eine schwere depressive Episode…“, und andrerseits Erleichterung wurde die Wende auch für Amelie spürbar. Hoffnung auf frühere unbeschwerte Lebendigkeit keimte unter der tiefen Erschöpfung. Irgendwann, beim Zusammenfegen der Scherben der Kompromiss, in den nächsten Tagen zum Arzt zu gehen, nicht nur wegen der Wunden, sondern auch wegen der „schwierigen Phase“. Tatsächlich kehrte Wärme, Strahlen und dieses kecke Glitzern in die geliebten dunklen Augen unter dem zerzausten Wuschelkopf zurück, die Sprengkraft war verpufft, Farben und Licht waren wieder da. Jeder weitere Tag in der Alltagsroutine übertünchte Sorgen und Ängste, Arzttermine wurden seltener und fanden dann gar nicht mehr statt. Einzige Mahnung blieb die Scheibe, Ron wollte sie selbst bezahlen. Die einfachste Variante, mehr war im Budget nicht drin, schließlich hatte er wochenlang nicht gearbeitet. Das leise Unbehagen beim Anblick des Glases gehörte ab jetzt dazu.

„Bestimmt hätte doch die Versicherung damals den Schaden bezahlt. Ich weiß natürlich nicht, was da passiert ist“, bedeutungsschwangere Pause, „wir empfehlen Ihnen gerne eine auf Jugendstil spezialisierte Glaserei, übrigens mit sehr günstigen Konditionen, wenn Sie sich auf uns berufen“, verschwörerisches Grinsen mit Augenzwinkern, jovialer Tonfall, unerträglich. Amelie will diese Posse jetzt nur noch zügig zu Ende bringen, bevor das hier zu einem Alptraum wird. „Bei den günstigen Konditionen des Glasers Ihrer Wahl wird der Wert der Küche mit, wie Sie ja ausdrücklich bewerben, hochwertigen Geräten sicher auch noch den Ersatz der Scheibe abdecken. Sind wir dann fertig?“ Hat sie das gerade wirklich gesagt? Immobilien-Schultz ist jedenfalls aus dem Konzept gebracht, Überraschungscoup gelungen, erstmals über mehrere Minuten sprachlos, überreicht er ihr, jetzt ohne Lächeln und mit einem kurzen „alles Gute für Sie“, das korrigierte Übergabeprotokoll. „Alles Gute“, klingt fast zynisch in Amelies Ohren, wobei sie das Herrn Schultz tatsächlich nicht ankreiden kann. Sie hatten wirklich geglaubt, alles sei gut! Ron malte wieder, hatte Ideen und neue Projekte. Sein Bilderbuch „Abenteuer Krankenhaus“, das er ihr gewidmet hatte, würde von einem großen Verlag veröffentlicht werden, Pizzanotruf nur noch ab und zu, eher zum Spaß als aus Notwendigkeit. Amelie hatte ihre innere Ruhe wieder gefunden, plante den Wechsel von der Klinik in die Praxis, keine Nachtdienste mehr, endlich freie Wochenenden. Sie lachten viel, planten eine Reise in den echten Dschungel, irgendwann. Die Scheibe versprühte immer weniger Unbehagen. Sie hatten sich beide so an sie gewöhnt, dass sie nicht mehr darüber sprachen, weder über einen Austausch noch über die zugehörige Geschichte. Sie ließ doch eigentlich mehr Licht durch als das Original, machte den Raum heller. „Alles gut“, trügerische und zerbrechliche Illusion.

Während der Makler noch auf einen Interessenten wartet und demonstrativ mit dem Rücken zu ihr aus dem Fenster schaut, steht Amelie das Schwerste noch bevor. Ein letztes Mal diese Türklinke hinunterdrücken, das hatte sie in den zurückliegenden dreihundertvierzig Tagen nie mehr ohne einen Hauch von Unwohlsein getan. Drei zögerliche Schritte noch bis zur Tür, dann das Geräusch quietschender Sohlen auf der Treppe in hastigen Schritten, das Klingeln geht ihr durch Mark und Bein. Amelie ist jetzt an der Klinke, keine Zeit nachzudenken, öffnet mechanisch. Ein hoffnungsvoller Mittdreißiger wird an ihr vorbei von Herrn Schultz mit karnevalistischem Tonfall in Empfang genommen und direkt in die Küche geführt. Amelie nimmt weder sein Lächeln noch seinen freundlichen Gruß wahr. Sie fröstelt. Vor ihr steht ein groß gewachsener, uniformierter Polizist mit Schweißperlen auf der Stirn und eine blondierte, schlanke Frau, deren hohe Absätze nicht zur sportlichen Jacke mit der Aufschrift „Kriseninterventionsteam“ passen. Sie erinnert noch den Geruch des blumigen Parfums, ihre Mutter hatte jahrelang das gleiche benutzt. „Amelie Reimann? Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Lebensgefährte Roland Pfeiffer einen schweren Verkehrsunfall hatte, der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun.“

Seit dieser Nacht ist nichts mehr wie es war. Wie soll jemals wieder „Alles gut“ werden? Bevor die Tränen zu fließen beginnen, nur raus hier, weg von Immobilien-Schultz, die Treppe hinunter, jede der achtundsechzig Stufen eine Erinnerung. Ron hatte es geliebt, sie zu zählen, im Rhythmus seiner Schritte, wie ein Ritual, sein „Fahrstuhl-Außer-Betrieb-Ritual“. „Irgendwann steht jede Stufe für ein gemeinsames Jahr“, strahlende Augen unter dunklem Wuschelkopf, nur jede zweite Stufe für einen Monat hatten sie gemeinsam geschafft. Immerhin hat sie jetzt schon fünf Tage pro Stufe überlebt, auch sie hatte schon immer ein Faible für Zahlen. Fünfmal achtundsechzig, dreihundertvierzig Tage, in denen sie von der Ertrinkenden langsam wieder zur Schwimmenden wurde, in denen sie in zahlreichen Therapiestunden gelernt hatte, Strudel zu überwinden oder zu umschiffen und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie wird nächste Woche in der Hausarztpraxis ihrer ehemaligen Oberärztin anfangen. Darauf kann sie sich sogar beinahe richtig freuen. Ihre neue kleine Wohnung ist dort ganz in der Nähe, Dachgeschoss, lichtdurchflutet, Ron hätte sie gefallen. Sie läuft jetzt regelmäßig durch den Großstadtdschungel, anfangs, um außer den schmerzenden Muskeln und Lungen nichts spüren zu müssen, in der Zwischenzeit, um ihren eigenen Rhythmus zu fühlen, Gedanken kommen und gehen zu lassen. Das klappt immer besser, zumindest solange, bis sich diese eine Erinnerung wie ein Giftpfeil in ihr Herz bohrt. „Die Scheibe sollten wir doch mal austauschen lassen, ist doch vorbei, oder? So eine Zeit kann ich nicht noch mal überleben!“ Rons Stimme, vielleicht etwas leiser als gewohnt, schon in der Fahrradmontur unter der neongelben Jacke, lange feste Umarmung, ein Kuss, die Augen schon Richtung Großstadtdschungel gewandt. Warum hatte er ihr ausgerechnet an diesem Tag nicht noch mal tief in die Augen geblickt? Hätte sie doch nur seine Augen sehen können! Hätte sie dann niemals nachts um zwei im blaugestreiften Nachthemd schlaftrunken die Tür öffnen müssen?

 

Hallo, @Traumtänzer,

ich denke, deine Geschichte hat zwei Probleme: Sie ist zu lang und zu sprunghaft.

Ein Beispiel:

Wieder kehren ihre Gedanken zu diesem einen Moment zurück, wieder und immer wieder hört sie den schrillen Klingelton, sieht sich schlaftrunken zur Tür taumeln im blaugestreiften Nachthemd, hört unterschiedliche Schritte im unbekannten Rhythmus, quietschende Gummisohlen neben harten Absätzen im gleichmäßigen Takt, zu schnell für zwei Uhr nachts, spürt noch einmal das Unbehagen als sie die Klinke hinunter drückt und die Tür langsam öffnet.

Was erfahren wir aus diesem Absatz? Wir erfahren: Es gibt eine Protagonistin. Sie erinnert einen Moment (mit dem der Leser nichts anfangen kann) und hört einen Klingelton und taumelt zur Tür (was sie anhat, quietschende Gummisohlen etc. spielen in einer Kurzgeschichte keine Rolle).

Dann:

Heute, fast genau ein Jahr später, steht Amelie auf der anderen Seite dieser Tür,
Das wäre ein guter erster Satz. Und dann schön langsam das Geschehen ausbreiten, ohne sprunghafte Gedanken, ohne unnötige Adjektive, sich nur auf die Handlung konzentrierend.

Hier ein paar Sätze, exemplarisch, wie du deine Geschichte straffen kannst:

Heute, fast genau ein Jahr später, steht Amelie auf der anderen Seite dieser Tür, wartet darauf, dass ihr geöffnet wird, etwas atemlos, achtundsechzig Stufen sind es in den vierten Stock. Sie ist spät dran und der Fahrstuhl mal wieder kaputt, wie so oft in den letzten vier Jahren. Den Schlüssel hat sie schon vor Tagen im Büro bei Schultz-Immobilien abgegeben, die Suche nach einem Nachmieter ist bereits in vollem Gange. Noch einmal tief durchatmen, dann drückt sie auf den messingfarbenen Klingelknopf. „Ach da sind Sie ja, Frau Reimann, lassen Sie uns noch einmal alles durchgehen und dann nur noch eine Unterschrift“, professionelles Lächeln, das die Augen nicht erreicht, Figur betonender, dezent hellgrauer Anzug, zu viel Rasierwasser kann die letzte Zigarette nicht überdecken. Auch nicht der Geruch der frischen Farbe oder des Holzöls der Dielen, der in der Luft hängt. „Sieht ja alles gut aus so weit, nur ein paar Kleinigkeiten. Der Anstrich der Eingangstür deckt nicht optimal, wäre Abschleifen besser gewesen, wir raten ja immer ab von dunklen Farben.“

Ich fand die Geschichte an manchen Stellen sehr amüsant, leider aber auch redundant. Desto mehr Unnötiges du aus der Geschichte streichst, desto lebhafter und lebendiger wird sie. Es ist paradox: Aber desto mehr du beschreibst und desto mehr Gedankengänge du einfügst, desto mehr verwässert das Bild vor den Augen des Lesers. Probiere es aus - du wirst staunen!

 
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Hallo @Traumtänzer ,

sei herzlich willkommen im Forum!
Ich will gleich sagen, dass mich die Geschichte gefesselt hat.

Zwei Handlungsstränge sind geschickt miteinander verwoben:
Die realistisch nüchterne Schilderung der Szenen zum Übergabeprotokoll der Wohnung mit den Einschüben aus dem Leben mit dem Freund der Protagonistin.
Die Prota vermittelt ganz viele Sinneseindrücke in komprimierter Form, so eng aneinandergereiht, dass es im Kopf des Lesers zu rattern beginnt.

Dein Schreibstil wirkt auf mich stellenweise wie aus einem Arztbrief, so mit den Aneinanderreihungen von fachkundigen Feststellungen und Halbsätzen.
Für die Prota wahrscheinlich ein Mittel, sich schnell noch einmal an alles erinnern, bevor es zu Ende ist. Sie wird die Wohnung mit den Erinnerungsmerkmalen ja nicht mehr betreten.

Einige scheinbar nebensächliche Wahrnehmungen der Prota werden ganz subtil vermittelt, z.B. die ausladenden Armbewegungen des Maklers, die Gerüche nach Rasierwasser und Parfum, das Klackern der Absätze oder quietschende Sohlen, alles eher, wie in Trance wahrgenommen.
Aber genau solche Nebensächlichkeiten graben sich in Schockmomenten ein, die behält man.

Die Scheibe als Erinnerungsmetapher an die Psychose des Freundes, Metapher für Unbehagen und trügerische Hoffnung finde ich gelungen, auch dass sie in der Verhandlung mit dem Makler plötzlich als zentrales Problem auftaucht. Geschickt gemacht!

Interessant finde ich die Vermischung des aktuellen Geschehens mit vergangenem, genau in dem Augenblick, als sie die Wohnung zum letzten Mal verlässt.

Drei zögerliche Schritte noch bis zur Tür, dann das Geräusch quietschender Sohlen auf der Treppe in hastigen Schritten, das Klingeln geht ihr durch Mark und Bein. Amelie ist jetzt an der Klinke, keine Zeit nachzudenken, öffnet mechanisch. Ein hoffnungsvoller Mittdreißiger wird an ihr vorbei von Herrn Schultz mit karnevalistischem Tonfall in Empfang genommen und direkt in die Küche geführt. Amelie nimmt weder sein Lächeln noch seinen freundlichen Gruß wahr. Sie fröstelt. Vor ihr steht ein groß gewachsener, uniformierter Polizist mit Schweißperlen auf der Stirn und eine blondierte, schlanke Frau, deren hohe Absätze nicht zur sportlichen Jacke mit der Aufschrift „Kriseninterventionsteam“ passen.

Ich kann mir gut vorstellen, wie stark Rons Tod die Prota als Partnerin und Rettungsärztin mitnimmt. Es ist ja nicht nur der Tod eines geliebten Menschen, der verarbeitet werden muss. Da spielt auch die Frage mit: Hätte ich seinen Tod verhindern können?

Hätte sie doch nur seine Augen sehen können! Hätte sie dann niemals nachts um zwei im blaugestreiften Nachthemd schlaftrunken die Tür öffnen müssen?
Einen akuten Depressionsschub zu erkennen, fällt selbst Ärzten schwer. Offensichtlich verhalten sich Depressive vor dem Suizid besonders angepasst und verstecken so geschickt ihr Innerstes.


Ein paar Flusen noch zum Wegfegen, ist ja auch nicht so einfach mit den Kommata, wenn man so riesige Satzkonstruktionen baut, also:

spürt noch einmal das Unbehagen, KOMMA als sie die Klinke hinunter drückt und die Tür langsam öffnet.
, hatte sie noch zaghaft eingewandt KOMMA bevor Rons strahlende, erwartungsvolle Augen sie in sein Lachen einstimmen ließen,

Ihr (vielleicht: Der erste) erster Dialog, immer wieder gerne zitiert auf die Frage, wie sie sich denn kennen gelernt (kennengelernt) hätten.

Ok, den Unfall lasse ich weg!“. „Wir (den Punkt hinter dem Ausrufezeichen weglassen)

Alles Strahlende, das bisher seine Umgebung in seinen Bann gezogen hatte, schien sich Vielleicht: … das bisher seine Umgebung in den Bann gezogen

Amelie fühlte sich hilflos, wehrte sich gegen ihre warnende professionelle innere Stimme,
Vielleicht: Amelie fühlte sich hilflos, wehrte sich gegen die professionelle Warnung der inneren Stimme,

Amelies Entsetzen, ihre Angst, er hätte sich versucht das Leben zu nehmen,
nicht sich versucht, sondern …er hätte versucht KOMMA sich das Leben zu nehmen

und andrerseits Erleichterung (KOMMA?) wurde die Wende auch für Amelie spürbar.

Irgendwann KOMMA beim Zusammenfegen der Scherben der Kompromiss, in den nächsten Tagen zum Arzt zu gehen, nicht nur wegen der Wunden KOMMA sondern auch wegen der „schwierigen Phase“
(muss schwierige Phase in Anführungszeichen)

Tatsächlich kehrte Wärme, Strahlen und dieses kecke Glitzern in die geliebten dunklen Augen unter dem zerzausten Wuschelkopf zurück, die Sprengkraft war verpufft, Farben und Licht waren wieder da. Jeder weitere Tag mit wiederkehrender Alltagsroutine übertünchte Sorgen und Ängste,
Ich würde wiederkehrende streichen, da unnötig und im Satz davor auch schon zurückkehren benutzt wurde

Ich weiß natürlich nicht, was da passiert ist,“ (was da passiert ist“, )

wenn Sie sich auf uns berufen,“ verschwörerisches Grinsen mit Augenzwinkern,
(ebenfalls, Komma hinter Schlusszeichen der wörtl. Rede)

endlich freie Wochenenden . Sie (Leerstelle vor Punkt weg)

Ein letztes Mal diese Türklinke hinunter drücken (hinunterdrücken)

Fünf mal achtundsechzig (einmal, zweimal, fünfmal)

Das klappt immer besser, zumindest solange KOMMA bis sich diese eine Erinnerung wie ein Giftpfeil in ihr Herz bohrt.

Fazit:
Mich hat deine erste Geschichte durch die Wohnung und das darin Erlebte geführt. Gefühle der Liebe, des Schocks und der Trauer konnte ich nachempfinden; sie kamen für mich ehrlich und nicht übertrieben rüber.

Ich habe mich daher sehr gerne mit deinem Text (mit dem eigenwilligen Schreibstil) auseinandergesetzt.

Lieben Gruß
kathso60

 

Hallo @kathso60,

vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut mich, dass die Geschichte dich erreicht hat.

Ganz besonderen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, die (erschreckend....) vielen überwiegend Zeichenfehler aufzuschreiben. Das werde ich mal alles in Ruhe einarbeiten. Die nächste Geschichte werde ich nach den letzten Änderungen auf jeden Fall noch sorgfältiger Korrektur lesen!

Viele Grüße
Traumtänzer

Hallo @Eule,

vielen Dank für deinen Kommentar.
Die Geschichte deutlich zu kürzen, ist eine spannende Idee. Für mein Gefühl würde das allerdings eine andere Geschichte daraus machen. Um so spannender finde ich, den Versuch einmal zu wagen und mich überraschen zu lassen, wohin die Reise geht.

Zu deinem Beispiel des ersten Absatzes:

Wieder kehren ihre Gedanken zu diesem einen Moment zurück, wieder und immer wieder hört sie den schrillen Klingelton, sieht sich schlaftrunken zur Tür taumeln im blaugestreiften Nachthemd, hört unterschiedliche Schritte im unbekannten Rhythmus, quietschende Gummisohlen neben harten Absätzen im gleichmäßigen Takt, zu schnell für zwei Uhr nachts, spürt noch einmal das Unbehagen als sie die Klinke hinunter drückt und die Tür langsam öffnet.

"Was erfahren wir aus diesem Absatz? Wir erfahren: Es gibt eine Protagonistin. Sie erinnert einen Moment (mit dem der Leser nichts anfangen kann) und hört einen Klingelton und taumelt zur Tür (was sie anhat, quietschende Gummisohlen etc. spielen in einer Kurzgeschichte keine Rolle)."

Ich hätte mir gewünscht, dass der Leser versteht: Da gab es im Leben der Protagonistin einen lebensverändernden Moment. Dieser hat sich ihr bis ins Detail (vom Klingeln aus dem Schlaf gerissen, welches Nachthemd, unbekannte Schritte zweier Menschen, zwei Uhr nachts, düstere Vorahnung) ins Gedächtnis gebrannt und lässt sie nicht mehr los. Was die Lebensveränderung ausmacht, offenbart sich der Protagonistin mit dem Öffnen der Tür, dem Leser im Verlauf der Geschichte.

Das hat dann wohl nicht so gut funktioniert....

Viele Grüße
Traumtänzer

 

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