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Ground Zero
01
Was vom Himmel kam
13. Januar 2015
Schon den ganzen Morgen sprang Cody wie verrückt hin und her und zerrte an der Leine, die ihn daran hinderte, wie ein Derwisch über den Hof zu rasen. Stuart Widemaker versuchte den Hund zu beruhigen und lockte ihn mit einigen saftigen Fleischstückchen. "Cody, alter Junge. Na komm schon... Komm schon..." Es war zwecklos. Sobald Stuart nahe genug heran war, ging der Hund in eine äußerst agressive Angriffshaltung über und gab ein überaus bedrohliches Knurren von sich. "Dann eben nicht, blöder Läusefänger!", murmelte Stuart verärgert, warf Cody trotzdem das Fleisch vor die Füße und stapfte zurück zum Haus. Es war ungewöhnlich kalt für den Januar. Normalerweise herrschten Temperaturen um die zehn bis dreizehn Grad, aber in den letzten Tagen pegelte sich das Quecksilber im Thermometer beständig beim Gefrierpunkt ein. Null Grad. Stuart hatte die Veranda erreicht und drehte sich noch einmal zu Cody um. Der Schäferhund schnupperte mißtrauisch an den Fleischbrocken, schüttelte den Kopf und sprang dann wieder wie wild nach oben. 'Was hat er nur?' Stuart sah zum grauen Himmel hinauf, konnte aber bis auf ein paar Vogelschwärme nichts ungewöhnliches entdecken. Dann sah er zu den drei großen Feldern Weizen. Seufzend fuhr er sich durch sein graues Haar. 'Wenn es noch länger so kalt bleibt, dann ist die gesamte Ernte zerstört...' Was passieren würde, wenn dies eintrat, daran wollte Widemaker noch nicht denken. Was er jetzt wollte, war eine heiße Tasse Kaffee. Er öffnete die Tür, klopfte am Holzrahmen den Schmutz von den Schuhsohlen ab und betrat das Haus.
"Ist Cody krank?", fragte Leroy, während er mürrisch mit dem Löffel in den Cornflakes herumstocherte. In den Ferien konnte Leroy alles verkraften, nur nicht, dass Cody plötzlich krank war. Die Aussicht, für unbestimmte Zeit auf den einzigen vernünftigen Spielkameraden für die langen Nachmittage zu verzichten, erfüllte ihn mit großer Sorge. "Mom? Ist Cody krank?", fragte er erneut und sah zu seiner Mutter.
Anne Widemaker saß dem Jungen gegenüber am reichlich gefüllten Frühstückstisch und wußte nicht, was sie sagen sollte. Schließlich rang sie sich zu einem "Ist er bestimmt nicht, Junge... Ist bestimmt bald wieder vorbei...". Sehnsüchtig sah sie zu der Flasche Scotch, die sie hinter den Fertiggerichten in der kleinen Vorratskammer versteckt hatte. Schon als sie heute am frühen Morgen erwacht und nach einigen Minuten aufgestanden war, hatte sie die ganze Zeit nur die eine Sache im Kopf gehabt: 'Nur einen kleinen Schluck... Nur einen winzig kleinen Schluck, damit die Kopfschmerzen verschwinden...'
"Hat er Tollwut?" Leroy senkte den Kopf und kämpfte gegen aufkommenden Tränen.
Sein Vater betrat die Küche und setzte sich zu ihnen. "Keine Angst, Leroy. Cody hat nicht die Tollwut. Vielleicht liegt es am Wetter." Er goss sich einen Kaffee ein.
"Am Wetter?", fragte Anne belustigt und blickte zugleich beschämt aus dem Fenster.
"Das kann durchaus sein", sagte Stuart. "Es ist viel zu kalt für diese Jahreszeit."
Leroy schob die Schüssel Cornflakes weg und lehnte sich zurück. "Und wenn es doch die Tollwut ist, Dad?" Er war neun Jahre alt, genoss in der Schule das Image des schmächtigen Versagers und im Moment fühlte er sich richtig elend. Seit geraumer Zeit hatte er festgestellt, dass mit seiner Mom was nicht stimmte, dass sie morgens unausstehlich war, und erst gegen Abend, leicht beschwipst, gute Laune verbreitete. Sein Vater antwortete ihm nicht. "Dad?"
Stuart zuckte zusammen und sah etwas irritiert zu seinem Sohn. "Was? Was hast du gesagt?" Er war kurz mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen, irgendwo in der Vergangenheit, als Anne und er noch Pläne hatten. Richtige Pläne, die ein Leben als hart arbeitende Landwirte nicht beinhalteten.
"Schon gut!" Genervt stand Leroy auf und wollte die Küche verlassen, wurde aber von Stuart am Arm festgehalten.
"Es tut mir leid, Leroy."
"Ist schon okay, Dad." In seinem traurigen Gesicht zeichnete sich ein schmales Lächeln ab. "Wann kann ich wieder mit Cody spielen?"
Seufzend sah Stuart zu seiner Frau, die stumm auf dem Holzstuhl saß und damit beschäftigt war, das Zittern ihrer Hände in den Griff zu bekommen. Er schüttelte leicht den Kopf und drückte dann den Jungen an sich. "Weißt du was? Wenn Cody sich morgen immer noch so merkwürdig verhält, dann fahren du und ich mit ihm zu Doc Poulsen, hm?" Stuart machte ein grimmiges Gesicht. "Haben Sie mich verstanden, Soldat?", rief er laut mit einem grottenschlechten Südstaatenakzent.
Leroy grinste bis über beide Ohren. "Ja, Sir!" Dabei stand er stramm vor seinem Vater und salutierte unbeholfen mit der rechten Hand.
"Na... Alles wird gut werden, mein Junge!", murmelte Stuart. Er drehte den Jungen um, gab ihn einen leichten Klaps auf den Hintern und sagte: "Geh nach oben und lies ein wenig. Du weißt, Lesen ist wichtig!"
"Ja, Dad..." Kurz sah Leroy zu seiner Mom, die völlig abwesend wirkte. Er gab Stuart einen Kuß auf die Stirn und rannte dann nach oben in sein Zimmer.
Kaum hatte Leroy die Küche verlassen, drehte sich Stuart zu Anne und sagte leise: "So geht das nicht weiter, Anne. Du machst den Jungen kaputt."
Anne lächelte schwach und winkte ab. "Was verstehst du schon? Hm? Was verstehst du..."
"Sei still!" Stuart war aufgesprungen und deutete ihr an, ruhig zu sein.
"Was glaubst du eigentlich, wer du..."
"Halt um Gotteswillen den Mund, Anne!" Angestrengt horchte er, leicht nach vorne gebeugt dastehend. "Hörst du das?"
Stirnrunzelnd sah Anne zum Fenster. "Ich höre nichts. Was meinst du?"
"Das ist es ja eben! Es ist so... still!" Langsam ging Stuart zum Fenster und sah nach draußen. Cody lag dicht am Boden gekauert und hatte seine Pfoten über den Kopf gelegt, als ob er... "Mein Gott!", murmelte Stuart. Direkt vor ihm flog eine Ähre vorbei. "Die gottverdammte Ernte... Was wird das? Ein Tornado? Hier?" Er sah nach oben und stöhnte leise auf. "Anne! Um Gotteswillen!" Er drehte seinen Kopf etwas. "Leroy!" Er mußte sich zwingen, sich umzudrehen und loszurennen. "Leroy!"
Anne sah ihm verständnislos nach. "Stu?" Sie stand nun auch auf und sah ängstlich aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und mittlerweile schossen abertausende Weizenähren durch die Luft. Sie entdeckte Cody, der am ganzen Körper zitterte. "Stu!" Dann sah auch sie nach oben und öffnete den Mund, um laut loszuschreien. Doch keinen einzigen Laut brachte sie zustande. Und ganz plötzlich wurde es hell, als ob Sommer war und keine störenden Wolken den Himmel bedeckten. Ein pfeifendes Summen wurde hörbar, das von Sekunde zu Sekunde lauter und furchteinflößender anschwoll. Das Geschirr auf dem Küchentisch und in den Schränken begann zu scheppern. Der ganze Boden bebte. Anne mußte sich festhalten. "Stu! Leroy!" Sie hatte schreckliche Angst. 'Was geschieht hier?' Sie sah wieder nach oben. Und dann sah sie es. Es kam direkt auf sie zu. Auf ihr Haus. Auf ihre Familie. Auf ihre Flasche Scotch, versteckt in der Vorratskammer... "Oh nein!", flüsterte Anne Widemaker leise und schloss die Augen. Plötzlich gab es eine gewaltige Druckwelle, verbunden mit einer imensen Hitze. Anne wurde nach hinten geschleudert und landete unsanft neben dem überquellenden Mülleimer, der in Flammen aufgegangen war. Alles brannte. Anne brannte. Das Summen war ohrenbetäubend. Und dann hörte sie gar nichts mehr, nur noch ein hohes Piepsen. In ihren Ohren spürte sie eine unangenehme Flüssigkeit. 'Das Trommelfell!', dachte sie gequält. Dann gab es einen gewaltigen Knall, den sie nicht hören, aber fühlen konnte, und Sekundenbruchteile später war alles vorbei.
02
Abreise
16. Januar 2015
Das Telefon klingelte. Jamie öffnete kurz die Augen und murmelte: "Ist deines..." Dann gähnte sie noch einmal, rollte sich zur Seite und schlief weiter, als ob nichts geschehen war.
"Schon gut." Conrad richtete sich auf und griff halbherzig nach dem roten Telefonhörer. Er sah zur Uhr. "Oh Scheiße..." Es war mitten in der Nacht. Erst vor drei Stunden hatte er sich ins Bett gelegt und an Jamie gekuschelt. "Also wenn es sich da nicht um den Weltuntergang handelt, dann..." Er nahm ab, räusperte sich und sagte mit klarer Stimme: "Colonel Conrad Brock? Ja... Ja..." Plötzlich zuckte er zusammen. Seine linke Hand krallte sich in die Bettdecke. "Was? Was haben Sie gesagt?"
Jamie drehte sich verschlafen um und sah ihn fragend an. "Was ist denn los?"
Er schüttelte leicht den Kopf. "Verstehe... Dreißig Minuten! Ja, natürlich den Dienstwagen!" Conrad legte den Hörer langsam auf die Gabel. Mit dem Rücken zu Jamie murmelte er leise: "Ich muß los, Jamie. Kann länger dauern." Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und lief ins Bad.
"Verstehe." Seufzend quälte sich Jamie aus den Bett, machte das Licht an und zerrte die große Reisetasche vom Schrank herunter. "Zwei Wochen reichen?", rief sie laut.
Aus dem Bad kam eine gurgelnde Antwort: "Jarrr..."
"Okay!" Sie rieb sich noch einmal den Schlaf aus den Augen und begann Sachen für ihren Mann in den Koffer zu packen.
Achtundzwanzig Minuten später saß Brock auf der bequemen Rückbank des Chryslers. "Guten Morgen, Henry", brummte er. Es war ein schneller Abschied von Jamie gewesen.
"Guten Morgen, Colonel!", antwortete der Fahrer monoton. Seit vier Jahren war er der persönliche Fahrer von Brocks, aber so früh hatte er noch nie eine Fahrt gehabt. "Wo soll es denn hingehen?" Henry blinzelte mit den Augen und gähnte. Erschrocken hielt er sich den Mund zu und schielte zum Rückspiegel. 'Hat er sicherlich nicht mitbekommen', dachte er verunsichert. "Sir?"
"Pentagon", sagte der Colonel. "Also, Sie können ja Fragen stellen..." Neben ihm lag eine versiegelte Mappe. Die blaue Plakette bedeutete zwar nicht die höchste Geheimhaltungsstufe, aber reichte vollkommen aus, um einen Mann wie Conrad Brock nachts um Zwei Uhr aus dem Bett zu holen. "Schalten Sie das Radio ein und suchen Sie uns einen guten Sender!", wies er Henry an. "Irgendwas aus den Achtzigern vielleicht..." An der Plakette war ein kleiner Apparat angebracht, nicht größer als eine Streichholzschachtel. In dessen Mitte befand sich ein Sensor. Brock wischte sich den Daumen an seiner Uniform ab und presste dann diesen auf den Sensor. Es dauerte eine Weile, dann piepste es kurz und die Plakette brach an Sollbruchstellen auseinander. Beiläufig bekam er mit, was die verschiedenen Radiosender alles brachten... "Love Game... Love Game... Same Love Game..." "Do the right thing, darling, oh bring me a cup of tea..." "Vor wenigen Minuten erreichte uns die Nachricht, dass ein..." "The only move to win is not to play..." Irritiert sah er nach vorn. "Schalten Sie nochmal einen Sender zurück, Henry!" Er legte die Mappe neben sich und beugte sich nach vorn.
"Was?", fragte der Fahrer und sah irritiert in den Rückspiegel. "Was soll ich?" "Sleep my child and go ahead..."
"Der Nachrichtensender!", sagte Brock ungeduldig. "Der, den Sie gerade hatten!"
Henry nickte und drehte an einem kleinen Rad, das an der Seite des Lenkrads angebracht war. "Einen Moment, Sir. Gleich..." "Breathe is the only thing..." "It was a strange night, a strange night..." "Bei dem Einschlag vor drei Tagen handelte es sich offenichtlich um einen..." "Ist es das, Sir?"
"Ja, Ruhe jetzt!" Gebannt starrte Brocks auf das kleine Radio vorne im Wagen. 'Bloß nicht! Bloß nicht!', dachte er.
"Wir können es selbst kaum glauben, aber es scheint so, als ob nahe der Grenze zu Kanada ein..." Wie aus heiterem Himmel gab es einen pfeifenden Signalton.
Henry runzelte die Stirn. "Das verstehe ich nicht, Sir. Ich..."
"Schon gut!", sagte Brocks zufrieden. "Alles bestens!" Er lehnte sich zurück und schnappte sich die Mappe. Noch ungefähr zwanzig Minuten Fahrt. "Na, was haben wir denn da?"
"Sir?"
"Achten Sie auf die Straße, Henry!"
Das neue Pentagon unterschied sich nur unwesentlich von dem altem Komplex. Die Pentagramform hatte man beibehalten, allerdings konnte man nur die oberste Etage sehen, der Rest war unterirdisch angelegt. Am streng bewachten Eingang durchleuchteten Spezialisten den Chrysler auf der Suche nach verstecktem Sprengstoff. Die letzten fünf Jahre hatten gezeigt, dass es immer wieder geplante Anschläge gegeben hatte, die jedoch allesamt in meist letzter Sekunde vereitelt worden waren. Geduldig ließ Brock die Prozedur über sich ergehen. Ein Soldat klopfte an die Fensterscheibe. Henry drehte seinen Kopf leicht zur Seite. Brock nickte. Eine Sekunde später glitt die Scheibe automatisch nach unten. Ein schwer bewaffneter Soldat in normaler Dienstkleidung schaute in das Wageninnere und schwenkte dabei mit einer Taschenlampe umher. "Guten Morgen", sagte Brock freundlich und lächelte, als der grelle Schein der Lampe ihn blendete.
"Guten Morgen, Sir!", antwortete der Soldat und nickte dem Colonel zu. "Schön, Sie wiederzusehen, Colonel Brock."
"Ja, danke." Der Soldat nickte ihm noch einmal zu, dann gab er das Signal den anderen. Drei direkt hintereinander angelegte Schranken öffneten sich in kurzen Intervallen und die Straßensperre senkte sich in den Asphalt. Die einzige Durchfahrt zum Gelände des Pentagons war nun frei. Brock fuhr sich durchs Haar. "Fahren Sie zum Gebäudeabschnitt Zulu Zwölf, Henry!"
"Ja, Sir." Der Fahrer nickte und gab langsam Gas.
"Wir sind da, Sir", sagte Henry und deutete nach vorn. "Sie werden wohl bereits erwartet?" Er bremste den Wagen ab und kam genau vor dem Eingang des kleinen Bunkers zum Stehen.
"Scheint so."
"Soll ich hier auf Sie warten?"
"Nein." Brock schüttelte den Kopf und grinste etwas spitzbübisch. "Sorgen Sie dafür, dass der Wagen stets sauber und aufgetankt bleibt, okay?"
Henry lächelte verlegen. "Geht in Ordnung, Colonel."
"Bis bald, Henry", sagte der Colonel und stieg aus.
"Ja..." Seufzend drückte Henry den kleinen grünen Knopf neben dem Lautstärkeregler für das Radio am Lenkrad. Der Kofferraum öffnete sich. Er wartete, bis die Ordonanzen das Gepäck des Colonels zu sich genommen und die Haube wieder fest verschlossen hatten. "Bis bald, Colonel."
03
Zimmer Zwölf
16. Januar 2015
Der Aufzug war leise. Keine beruhigend wirkende Fahrstuhlmusik war zu hören. 'Ja, wir vom Militär sind schon toll!', dachte Brock etwas amüsiert und sah zu dem kleinen Display. Stumm wechselte die rote LCD-Anzeige von Meter zu Meter. -54... -55... -56... -57... Die beiden Ordonanzen sagten kein Wort. Ein wenig kam sich Brock vor, als ob er zu seiner eigenen Hinrichtung abgeführt wurde. Dann wurde der Aufzug langsamer. -124... "Wir sind da?", fragte Brock.
"Ja, Colonel.", sagte einer der beiden Männer. Die Fahrstuhltür glitt summend zur Seite. "General Trigger erwartet Sie bereits. Zimmer Zwölf, am Ende des Flurs." Die Männer machten keine Anstalten, die Aufzugkabine zu verlassen.
Brock verstand. "Was wird mit meinem Gepäck?"
"Keine Sorge, Colonel."
Brock nickte und ging nach draußen auf den langen, schmalen Gang. "Ich erwarte, dass keinerlei Beschädigungen bei meinen Sachen vorkommen, Gentlemen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"
"Ja, Sir." Die Ordonanzen salutierten, die Fahrstuhltür ging wieder zu und Brock stand allein in dem Gang.
Der Gang war mit brauner Farbe gestrichen und verlieh dem Ganzen etwas altmodisches. 'Okay', dachte Brock und ging langsam den Gang hinab. Die Türen, an denen er vorbeikam, waren aus Glas, aus solchem, wo man nur schemenhafte Umrisse dahinter erkennen konnte. Brock kannte das aus Prag, wo er vier Jahre lang in einer geheimen Kommandozentrale in ganz Europa Spezialeinsätze koordiniert hatte. Hinter den Türen konnte er emsiges Treiben erkennen, ohne eben genau zu erkennen, was sich in den einzelnen Zimmern abspielte. Seine Hände wurden feucht. Das passierte ihm immer, wenn er ein ungutes Gefühl bekam. Dann stand er vor Zimmer Zwölf. "Merkwürdig...", murmelte er leise und betrachtete erstaunt die Tür. Sie war aus massiven Eichenholz. 'Immerhin handelt es sich hier um einen General!', durchfuhr es ihn. Er holte tief Luft und klopfte vorsichtig an. Nichts. Keine Reaktion. Auf einmal hatte Brock das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnell drehte er sich um und sah den Gang hinunter bis zum Fahrstuhl. Nichts. Er sah nach oben und runzelte die Stirn. 'Keine Kameras?' Aber irgendwas war da. Er spürte es, konnte es fühlen. Es war als ob... Plötzlich wurde hinter ihm die Tür aufgerissen. Erschrocken drehte sich Brock um und stand einem drahtigen Kerl gegenüber, der eine Felduniform trug, an deren Brusttasche vier Sterne eingenäht waren.
"Colonel Conrad Brock?"
"Ja, Sir."
Der Mann zuckte kurz mit den Mundwinkeln und nickte dann. "Gut! Los, rein mit Ihnen!" Er ging zur Seite und machte so den Weg frei.
Brock schluckte und betrat Zimmer Zwölf. "Sir, ich..."
Der Mann schloss die Tür und deutete Brock mit einer kurzen Geste an, zu schweigen. Dann ging er zu einem überdimensionalen Schreibtisch, drückte einige Knöpfe, die in einer Leiste links neben den zwei Computermonitoren angebracht war, und seufzte zufrieden. Er ließ sich in den großen Lederstuhl fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dabei musterte er den Colonel. "Also gut", sagte er schließlich und lächelte. "Ich bin General William Trigger."
Verstohlen sah Brock zu dem Schild, was auf dem Schreibtisch stand. 'Gen. W. Trigger', las er in Gedanken und nickte mit dem Kopf. "Freut mich, Sie kennenzulernen, General." 'Das ist ein General?', fragte er sich. Trigger war ohne Zweifel ein durchtrainierter Modellathlet. Ein Musterbeispiel für einen Soldaten. Aber das Getue, was er in den letzten Sekunden an den Tag gelegt hatte... "Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Sir."
Trigger verzog das Gesicht. "Das ist rethorische Hundekacke, und das wissen Sie auch. Sie wollen mir schmeicheln, aber das ist Bullshit, Brock! Belügen Sie mich nicht. Und vor allem, belügen Sie sich nicht selbst! Klar?"
Überrascht ging der Colonel unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück. "Ich wollte nur..."
"Schon gut!", unterbrach ihn Trigger. "Sie haben die Unterlagen studiert?"
"Sir?"
"Die Mappe, die man Ihnen auf dem Rücksitz Ihres Dienstwagens hinterlegt hatte." Trigger grinste hämisch. "Schon Schlußfolgerungen gezogen?"
Brock amtete tief durch und sagte: "Ja, Sir."
"So?"
"Nun..." Brock nickte kurz und amtete tief durch. "Was soll das, General? Sie wissen doch, was passiert ist."
Trigger winkte gelangweilt ab. "Ich? Ich weiß gar nichts!"
"Verstehe", seufzte der Colonel und öffnete die Mappe. Er holte einige Satellitenbilder hervor, dazu noch Memos und Infoblätter der NASA. "Es war ein Meteorit, vielleicht so groß wie ein Einfamilienhaus. Hm..." Er lächelte. "Sie kennen die Werbung? Wir bauen Ihr Haus und Sie zahlen nur die ersten dreihundert Raten?"
Trigger lachte laut und nickte. "Klar! Jeder kennt die."
"Man ist sich ziemlich sicher, dass der Meteorit plus minus drei Meter die Größe eines solchen Hauses gehabt hat. Das kann man auch ganz gut erkennen. Hier..." Er zeigte dem General ein Satellitenbild und tippte mit dem Zeigefinger auf eine hell markierte Stelle. "Das kann man anhand des Kraters recht schnell hochrechnen..."
"Diese grünen Punkte da..." Trigger runzelte die Stirn. "Was ist das?"
Brock zuckte leicht mit den Schultern. "Das weiß man noch nicht genau."
"Wie bitte?"
"Die Analyse des Gases, das aus dem Kern austritt, dauert noch an."
"Der Meteorit ist... aufgeplatzt?", fragte Trigger etwas irritiert. "Steht das Einschlaggebiet unter Quarantäne?"
"Einhundert Meilen rings um den Krater ist alles dicht. Da kommt keiner raus, geschweige denn rein."
"Was ist mit den kanadischen Behörden?"
"Um diese Sache kümmert sich Calleb Benton, der Sprecher des..."
Trigger stöhnte laut auf. "Ach, so ein geschniegelter Hurensohn. Ausgerechnet Benton." Kopfschüttelnd nahm der General eines der Bilder in die Hand und betrachtete es. Dann sah er zu Brock und legte den Kopf etwas quer. "Sie werden da hoch fliegen, Brock."
Erstaunt zuckte Brock zusammen. "Sir?"
"Ja, ich will da einen von uns vor Ort haben. Einen hochrangigen Offizier, der in der Lage ist, rationell zu denken und zu handeln."
"Aber Colonel Arthur Brody ist bereits..."
"Vergessen Sie Brody, okay!"
Brock schluckte und nickte. "Wie Sie wünschen, General. Ich werde morgen früh..." Er verstummte, als der General aufstand und die Arme vor der Brust verschränkte. 'Bitte, bloß nicht sofort!'
"Der Hubschrauber wartet bereits auf Sie, Colonel", sagte Trigger und reichte Brock die Hand. "Vermutlich ist es ein ganz normaler Meteoriteneinschlag, wie er jeden Tag irgendwo vorkommt. Nur war es dieses Mal ein ziemlich großer Brocken, der nun irgendein Gas ausstößt. Lassen Sie uns beten, dass es nichts schlimmes ist."
'Amen!', dachte Brock, stand auf und schlug ein. "Was ist mit meinem Gepäck?"
"Im Hubschrauber."
Er schloß die Tür hinter sich und atmete tief durch. 'Das war das merkwürdigste Gespräch meines Lebens...' Brock runzelte die Stirn und suchte wieder nach den Kameras. Sie mußten da sein. Da war es wieder, das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnell ging er zu den Fahrstühlen, entlang an den Glastüren, hinter denen es nun dunkel war.
04
Lagebericht
16. Januar 2015
Calleb Benton nestelte umständlich an seiner in dunklen Brauntönen gehaltenen Krawatte herum und lächelte den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika mit seinem besten Oxford-Lächeln an. Kalt. Verachtend. Allwissend. Seit zehn Minuten saß er dem immer noch mächtigsten Mann der Welt gegenüber und versuchte, diesem klar zu machen, warum das gemeine Volk nichts von dem wissen durfte, was sich vor drei Tagen in einem unbedeutenden Kaff, irgendwo an der Grenze zu Kanada, abgespielt hatte. Er wedelte mit einigen Satellitenbildern herum und machte dann ein sorgenvolles Gesicht. "Sir... Ich muß Ihnen davon abraten, dass Sie..."
"Ach was!" Wütend lehnte sich Norman Godard zurück und trommelte mit den Fingerknöcheln ungeduldig auf die Marmorplatte des Schreibtisches. "Wieviele Sender sollen wir noch blockieren? Wieviele Druckanlagen weiterhin anhalten? Die Times und die Post machen Dampf! Von CNN ganz zu schweigen." Er kniff die Augen zusammen und sah zu Benton. "Verstehen Sie? Richtigen Druck!" Godard stand auf und ging zum Fenster. "Das Ausland weiß doch schon längst Bescheid..."
Benton räusperte sich. "Da muß ich widersprechen, Sir. Die wissen gar nichts. Wir haben sofort nach Bekanntwerden eine Meldung lanciert, die besagt, dass ein kleines Passagierflugzeug abgestürzt ist. Sämtliche Satelliten, die in den nächsten drei Tagen die Stelle überfliegen, befinden sich unter unserer Kontrolle. Und Kanada..." Benton grinste und rieb sich die Hände. "Die Aussicht, dass Hollywood möglicherweise einige Produktionen wieder dort abwickeln wird, hat wahre Wunder bewirkt, was das Thema Schweigen betrifft."
"Reden Sie nicht so gestelzt, Benton!", sagte Godard und holte aus der Schublade des Schreibtischs eine Packung Zigaretten hervor. Er ignorierte den erstaunten Blick von Benton. "Ja, ich weiß..." Seufzend zündete er sich eine Zigarette an und zog kräftig. "Was ist mit den Verwandten der Familie, die da ausgelöscht wurde?"
"Sie meinen die Widemakers?"
"Ja."
Benton zuckte mit den Schultern. "Ich denke da an zehntausend Dollar pro Kopf. Also insgesamt dreißigtausend. Den Hund zählen wir natürlich nicht mit. Das Geld geht nach Kalifornien. Dort lebt der jüngere Bruder von Stuart Widemaker. Keine große Sache, Sir."
"Ja, das klingt vernünftig." Der Präsident suchte nach einem Aschenbecher. "Mist." Kurz überlegte er und aschte dann auf dem blauen Teppich ab. "Verkneifen Sie sich jeglichen Kommentar, Benton!"
"Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir."
"Guter Mann!" Godard ging zum Fenster, öffnete es, nahm einen letzten Zug und warf die halb aufgerauchte Zigarette nach draußen. "Übrigens, Benton..."
"Sir?"
"Sie werden da hinfliegen!"
Benton krallte seine Finger in das graue Plüsch der Besuchersessel. "Sir? Ich soll..."
"Sie haben mich schon verstanden." Godard zuckte mit den Schultern. "Mir reicht es nicht, dass das Pentagon die Sache im Alleingang regeln will. Sie verstehen?"
"Ja, Sir", antwortete Benton zerknirscht. "Voll und ganz."
Godard schloss das Fenster und verharrte einige Sekunden. "Möge Gott uns beistehen, Calleb. Hoffen wir, dass es keine schlimme Sache ist."
"Das ist es bestimmt nicht, Sir."
"Und woher wollen Sie das wissen?"
"Das kann ich Ihnen nicht genau erklären, Sir." Benton hatte sich bereits wieder etwas entspannt. "Ich habe da so ein Gefühl, wissen Sie?"
Der Präsident nahm seine Hände vom Fenstergriff. "Dann wollen wir hoffen, dass Ihr Gefühl Sie nicht in Stich läßt."
"Sir?"
"Wie konnte das überhaupt passieren?"
Calleb kratzte sich am Kinn. "Nun, ständig schlagen irgendwo auf der Erde Meteoriten ein. So große Brocken allerdings kommen eher selten vor."
"Sie haben meine Frage nicht beantwortet!" Godard ging zu seinem Schreibtisch zurück.
"Sir, ich..."
Wütend schlug Godard mit der Faust auf die Tischplatte. "Verdammt, Benton! Kommen Sie mir bitte nicht mit fadenscheinigen Erklärungen!"
Er war zusammengezuckt, als die Godards Faust die Tischplatte berührt hatte. Calleb versuchte zu lächeln. "Sir, ich werde das vor Ort klären. Wie Sie es wünschen."
05
Ankunft in Tallington
17. Januar 2015
Tallington bestand im Grunde genommen nur aus fünf weit auseinander gelegenen Farmen, von denen eine vollständig ausgelöscht, drei ziemlich schwer verwüstet, und eine halbwegs glimpflich davongekommen waren. Obwohl es Januar war, hatte es angefangen zu schneien. Der Hubschrauber bahnte sich seinen Weg durch dichtes Schneegestöber und starken Wind. Der Pilot hatte Mühe, die millionen Dollar teure Maschine im Griff zu behalten. Immer wieder sah er sorgenvoll zu den Instrumenten, die abwechselnd rot und grün aufblinkten. "Entschuldigen Sie, Colonel! Das es so holprig wird, konnte ich nicht wissen!", brüllte er in das Mikro.
Brock im hinteren Teil des Hubschraubers sah zerknirscht aus den ovalen Fenstern nach draußen. "Da können Sie ja nichts dafür!" Er drückte einen kleinen Knopf an seinem Helm. Nun war er nicht mehr in die bordinterne Kommunikation integriert. 'Konnte ich nicht wissen...', dachte er und schüttelte den Kopf. 'Klar! Die Wettersatelliten sind ja auch erst in der Testphase... Bullshit!' Seufzend drehte er die Landkarte um neunzig Grad und studierte die rot umkreisten Landschaften. Eine blaue Linie umschloss die gesicherte Zone. Brock nickte zufrieden. 'Brody hat hervorragend reagiert. Keine Ahnung, was ich hier eigentlich soll.' Kurz sah er wieder nach draußen. Schnell drückte er den Knopf am Helm. "Ist das die Leverten-Farm?" Unter ihm sah er trotz des dichten Schnees acht Felder, die teilweise abgebrannt waren. Es sah aus, als ob ein Schwarm Heuschrecken sich über die Felder hergemacht hätte, jedoch auf halber Strecke plötzlich den Appetit verloren hatte. Sie flogen über das Haus. Unzählige Zelte und Container standen um das Anwesen herum. 'Die Vorhut...', dachte Brock und lehnte sich zurück. Der Helikopter flog nach links. Brock drückte wieder den kleinen Knopf. "Was machen Sie da?"
"Ich dachte, Sie wollten sich das genauer ansehen, Sir", sagte der Pilot.
"Nein, fliegen Sie mich einfach zum Stützpunkt, okay!"
"Ja, Sir."
Brock drückte erneut den kleinen Knopf. 'Selbstständig handeln... Diese Air-Force!' Er widmete sich wieder den Berichten.
Dreißig Minuten später saß Brock in einem geräumigen, mit technischem Spielzeug der Deluxe-Klasse ausgeschmückten mobilen Einsatzcontainer Colonel Arthur Brody gegenüber. Brody war die Sorte Soldat, der man bedingungslos sein Leben anvertrauen würde, wenn es hart auf hart käme. "Das war Triggers Entscheidung, Colonel!", sagte Brock.
"Nennen Sie mich doch Arthur..."
"Okay."
Brody stand vor mehreren Monitoren, die in abwechselnder Reihenfolge Außenaufnahmen zeigten. Ab und zu zuckte er kurz mit den Mundwinklen und aschte somit die Zigarette ab, die er kein einziges Mal aus dem Mund nahm. "Dann erzählen Sie mal, Conrad! Was können Sie hier erwirken, wozu ich nicht in der Lage wäre?"
Diese Frage hatte Conrad erwartet. "Absolut nichts, Arthur!", antwortete er freundlich. "Trigger meint jedoch, dass zwei Verantwortliche besser sind als ein einziges Kontrollorgan..."
"Kontrollorgan? Verdammt nochmal, haben Sie überhaupt eine Ahnung, was hier los ist?"
Brock holte einige Fotosätze hervor. "Nun, den Aufnahmen nach handelt es sich zweifellos um einen Meteoriteneinschlag. Und außerdem..."
"Bullshit!", presste Brody beinahe angewidert aus. "Das passiert immer, wenn man es nicht alleine macht." Er ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte eine dickte Aktenmappe hervor, die er zu Brock warf, der diese geschickt auffing. "Blättern Sie da mal durch, Conrad. Und wenn Sie fertig sind, fahren wir zu Ihrem... Meteoriten!" Das Telefon klingelte. Er wartete zwei Sekunden und nahm dann den Hörer ab. "Colonel Brody!... Was?" Er sah zu Brock und verdrehte die Augen. "Ja, verstehe..." Achtlos ließ er den Hörer zurück auf die Gabel fallen. "Auch das noch!"
"Was ist los?", fragte Brock.
"Calleb Benton!"
"Was ist mit ihm?"
Brody nickte mit dem Kopf Richtung Fenster. "Landet in fünf Minuten..."
'Oh Scheiße!', dachte Conrad. "Großartig!", murmelte er leise und ein süffisantes Lächeln zierte sein Gesicht.
"Sie sagen es, Conrad... Sie sagen es..."
"Was will der denn hier?"
Brody zuckte mit den Schultern. "Anordnung des Präsidenten."
Calleb Benton lehnte dankend ab, als ein Master-Seargent ihm die schwere Reisetasche abnehmen wollte. "Vielen Dank, nicht nötig, Mister... Riley!"
Master-Seargent Riley zuckte mit den Schultern. "Wie Sie meinen, Sir." Er deutete Benton an, sich geduckt vom Helikopter zu entfernen. "Folgen Sie mir, Sir!", brüllte er, drehte sich um und rannte schnell aus dem Gefahrenbereich.
Benton beugte sich nach vorn, biss die Zähne zusammen und folgte Riley so schnell, wie es seine gut einhundert Kilogramm Körpergewicht zuließen. Nach fünzig Metern hatten sie einen Militärjeep erreicht. Stöhnend ließ Benton den Rucksack fallen und wischte sich mit seinem Jackenärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Er sah zu Riley. "Und nun?"
Riley hob demonstrativ leichtfällig die Reisetasche auf und warf sie auf die Rückbank des Jeeps. "Steigen Sie ein, Sir. Colonel Brody erwartet Sie bereits."
"Das ist großartig!", antwortete Benton erfreut, lief um den Wagen herum und stieg ein.
Der Master-Seargent sah kurz zu dem dicken, schwitzenden Mann. "Sie sollten sich lieber gründlich den Schweiß abwischen, Sir. Der Fahrtwind kann ihn sonst zu schnell abkühlen. Die Folge wäre eine Erkältung. Und anschnallen, wenn ich bitten darf!" Kaum hatte er seine Ansprache beendet, drehte er den Zündschlüssel um, legte den Gang ein und trat auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen kleinen Sprung und preschte dann über den provisorischen Landeplatz, vorbei an hunderten Soldaten, die Kisten und Gerätschaften aus Transporthubschraubern schleppten.
06
Klarheiten
17. Januar 2015
Colonel Arthur Brody war nach draußen gegangen, um erstens seinen Container nicht zu sehr mit Zigarettenqualm ("Verdammt! Irgendwie scheint das Lüftungssystem nicht richtig zu funktionieren. Das kommt davon, wenn man nicht alles selbst macht!") zu verpesten, und zweitens Calleb Benton in Empfang zu nehmen.
Brock blätterte in der dicken Aktenmappe, die Stirn in tiefe Falten gerunzelt, seinen Augen kaum glaubend, was er da alles las und sah: Unzählige spektrale Analysen; Diagramme mit in verschiedenen Farben gehaltenen Linien und Kurven; hunderte kurze wissenschaftliche Memos; Ratschläge, Tipps, Erklärungen; Zusammenfassungen der entnommenen Proben und daraus resultierende Vermutungen... Die Liste war schier endlos. Und wirkliche Erklärungen waren nicht ersichtlich. Brock schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Brody ging vor dem Container auf und ab, die Zigarette im Mundwinkel, die Arme vor der Brust verschränkt. Kopfschüttelnd las Conrad eine per E-Mail direkt an Brody gegangene Memo einer gewissen Sheila Harding, ihres Zeichens wissenschaftliche Militärexpertin. 'Was eine Bezeichnung!', dachte er lächelnd. Er nahm die Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand und trank einen kleinen Schluck. 'Kaffee wäre nicht schlecht. Warum hat er mir keinen Kaffee angeboten?' Er wischte den Gedanken zur Seite und widmete sich der Memo:
Date: 15-01-14
To: Col. Arthur Brody
From: Dr. Sheila Harding
Status Security: Level G
Subject: Widemaker-Organismus
Die Analyse der Proben hat ergeben, dass es sich auf keinen Fall um einen Meteoriten (o.ä.) handeln kann. Jede Gewebeprobe weist organische Elemente auf. Es scheint sicher, das Objekt 'Widemaker' ein komplexer, uns bisher unbekannter Organismus ist. Weitere Probebohrungen für den frühen Nachmittag angeordnet. Empfehle Sicherheitsstufe Beta-Vier für einen Zehn-Meilen-Radius. Sicherheitsstufe Beta-Zwei für das restliche Sperrgebiet. Stuff-Seargent Miles Grisham aus dem Versorgungstrakt ist mit dem austretenden Gas in Berührung gekommen. Ein Unfall – Ursache dafür wird noch geklärt. Vermutlich eigenmächtiges Handeln aus Neugier. Sofortige Quarantäne angewiesen. Bisher keine Veränderungen, was Psyche und Physis betrifft. Weitere Erläuterungen beim gemeinsamen Abendessen? Sagen wir um Sechs?
Brock sah auf die Uhr. 'Sechs Uhr?' Dann lachte er kurz auf. 'Ach so... War ja vorgestern.' Er legte die Mappe auf dem Tisch ab und stand auf. 'Ein Organismus?' Wieder sah er aus dem Fenster, zu Brody. 'Was geht hier vor? Was hat das zu bedeuten? Ich meine... Ein Organismus?' Die Tür ging auf, und Calleb Benton und Colonel Arthur Brody standen im Container. Brock blinzelte mit den Augen. 'War er nicht eben noch...'
"Sie müssen Colonel Conrad Brock sein", sagte Benton, ging auf Brock zu und reichte ihm die Hand. "Ich hab schon viel von Ihnen gehört, Sir."
"Ach?" Brock nickte kurz und schüttelte Bentons Hand. 'Schlaff... Typisch Zivilist!' "Was haben Sie denn gehört, Calleb?" Er grinste Brody an. "Wir dürfen Sie doch Calleb nennen?" Brody drehte sich um und hielt sich den Mund zu. Zufrieden sagte Conrad: "Also, Calleb?"
Der persönliche Berater des immer noch mächtigsten Mannes der Welt starrte abwechselnd zu den beiden Männern, die Mühe hatten, ihre Belustigung zu verbergen. "He..." Er hob seine Arme etwas nach oben. "Einen Moment mal! Auszeit, meine Herren!" Er schluckte und räusperte sich. "Haben Sie ein persönliches Problem mit meiner Anwesenheit, die von höchster Stelle angeordnet wurde?"
Brody setzte sich auf seinen drehbaren Holzstuhl und tippte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. "Sehen Sie es mal so... Calleb!" Nichts in der Art, wie er den Namen aussprach, ließ darauf schließen, dass er irgendeine Sympathie für Calleb Benton empfand. "Ich mag den Präsidenten und bin ihm loyal verpflichtet", fuhr er fort. "Aber Sie müssen wissen, dass Godard wegen falschen Angaben das Projekt X-Sirius einfrieren ließ. Und Sie wissen auch warum, Calleb! Ihretwegen!"
Brock pflichete Brody bei. "Wir wären nicht hier, wenn Sie uns die Gelder nicht gekürzt hätten, müssen Sie wissen. X-Sirius hätte das Ding da draußen schon weit vor der Atmosphäre in millionen Teile gesprengt. Sie dürfen unsere Abneigung Ihnen gegenüber nicht zu persönlich nehmen. Was passiert ist, ist nun einmal passiert." Er gab Benton einen versöhnlichen Stoß gegen dessen Arm.
"Es ging um die Wiederwahl!" Benton verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. "Das war jedem klar!"
"Schon gut, Benton!", rief Brody und machte mit seiner rechten Hand eine flache Bewegung durch die Luft. "Vergessen wir es einfach, okay? Conrad?"
"Von mir aus..."
"Calleb?"
Etwas unsicher wippte Benton vom einen Bein zum anderen. "Na schön."
"Prima!" Brody rieb sich grinsend die Hände. "Dann hätten wir das ja geklärt."
Brock ging zum Schreibtisch und schlug die Mappe auf. Dann hielt er Brody die Memo von Sheila Harding hin. "Was hat es damit auf sich? Da steht was von einem... Organismus?"
"Was? Zeigen Sie mal her!" Erstaunt nahm der Colonel das Papier entgegen. "Ach so...", sagte er nach kurzem Überfliegen, wobei er die Augen eng zusammengekniffen hatte. "Erzähle ich Ihnen unterwegs. Wir fahren jetzt zu Ground Zero." Er nahm den dick gepolsterten Parka von der Stuhllehne. "Bevor Sie Fragen stellen, einige Privates haben die Zone so genannt. Einige, auch ich, fanden das recht witzig. Nun ist es der offizielle Begriff." Ohne eine Antwort abzuwarten ging er aus dem Container.
Benton sah zu Brock. "Hat er Ground Zero gesagt?"
"Das hat er, ja", antwortete Brock, schnappte sich seine Jacke und einige Unterlagen und folgte dem Colonel. "Kommen Sie, Calleb! Sonst fährt er ohne uns los."
"Ground Zero?", murmelte Benton und verzog das Gesicht. Das gefiel ihm überhaupt nicht. "Und was war das andere? Organismus? Haben Sie Organismus gesagt, Colonel?"
Brock drehte sich um. "Los jetzt!" Der Klang in seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. Schnell ging Benton an ihm vorbei nach draußen. "Diese Zivilisten...", seufzte Brock und schloss die Tür.
07
Fahrt nach Ground Zero
17. Januar 2015
In Abständen von etwa drei Metern entlang der unbefestigten Straße, die aus Morrast, Sand und Kieselsteinen bestand, waren bewaffnete Soldaten positioniert. Obwohl es Januar war, zeigte das Thermometer an der Konsole des Jeeps eine Temperatur an, die nur knapp oberhalb des Gefrierpunkts lag. Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit. Wo früher einmal dicht an dicht Bäume standen, lagen nun verkohlte Stämme. An manchen Stellen brannte und schweelte es noch. Brody steuerte den Jeep schnell und sicher. Ab und zu sah er in den Rückspiegel, wo sich Benton und Brock die Augen rieben und verstohlen gähnten. "Müde, meine Herren?", rief er über die Schulter hinwg.
Brock winkte ab. "Ging alles viel zu schnell, wenn Sie mich fragen. Zeitzonen kann man nicht so einfach wegstecken."
"Ja.", pflichtete ihm Benton bei. Er beugte sich etwas nach vorn. "Colonel Brock erwähnte da das Wort... Organismus?" Kurz sah er zu Conrad, der die Augen geschlossen hatte. 'Wie kann er in so einer Situation nur einschlafen?' Stirnrunzelnd wandte er sich Brody zu. "Sir?"
"Ach, das..." Der Colonel lenkte den Wagen um eine Kurve. "Doktor Sheila Harding ist unsere Expertin vor Ort. Wir befinden uns augenblicklich noch etwa dreizehn Meilen von Ground Zero entfernt. Als das Ding vor einigen Tagen eingeschlagen ist, hat es ganz schönen Schaden angerichtet, wie Sie anhand der Bäume sehen können. Erinnern Sie sich an Tunguska?" Benton sah ihn etwas ratlos an. "Na schön. Das war um 1908 rum, so genau weiß ich das aber nicht mehr. Da ist irgendwo im damaligen Rußland ein Meteorid ein paar Kilometer über der Erdoberfläche explodiert. Hat im Umkreis von zig Meilen alles umgewälzt. Wie Streichhölzer. So ähnlich ist es auch hier geschehen. Doktor Harding hat Proben vom Objekt genommen und genauestens untersucht." Er bremste etwas ab, als sie über eine kleine Anhöhe fuhren. Direkt dahinter lagen mindestens zwanzig entwurzelte Baumstämme zur Hälfte auf der Straße. "Verstehe nicht, dass die immer noch keiner zur Seite geschafft hat. Die Anweisung hab ich gestern vormittag rausgegeben... Naja, wenn man nicht alles selber macht." Wütend hupte er, als sie an Soldaten vorbeifuhren, die miteinander scherzten und rauchten.
Benton nickte. "Ich erinnere mich. Und weiter?"
Der Jeep beschleunigte wieder. "Um auf Ihre Frage mit dem Organismus zurückzukommen..." Brody hielt kurz inne, überlegte und fuhr dann fort: "Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Das Ding ist kein Meteorit, sondern ein Organismus, der beim Aufprall aufplatzte und nun ein grünliches Gas absondert. Inzwischen haben wir den Ausstoß unter Kontrolle, leiten ihn durch Saugvorrichtungen und Röhren in spezielle Behälter. Wieviel von dem Zeug aber vor unserer Ankunft in die Luft gelangt ist, können wir nicht wissen."
"Das klingt erschreckend, Colonel", sagte Benton leise und lehnte sich zurück. Sie fuhren an Schildern mit orangefarbenen Markierungen vorbei. "Und die Satelliten? Was sind das für Schilder?"
Brody sah in den Rückspiegel. "Vergessen Sie die Satelliten. Wecken Sie Brock auf!" Er bremste den Wagen sanft ab, bis sie stehen blieben. "Wir fahren gleich in die Zehn-Meilen-Zone. Ab hier nur noch mit Atemschutzmasken!" Während Benton vorsichtig Brock antippte, und dieser nach einigen unverständlichen Kraftausdrücken aufwachte, holte Brody seine Maske unter dem Sitz hervor. "Ah, Conrad..." Er zeigte auf die Sitze. "Die Masken befinden sich unterhalb der Sitze."
"Wie lange war ich denn weg?", fragte Brock etwas benommen.
Benton sah auf seine Uhr. "Das waren nicht einmal..."
"Ist unwichtig!", unterbrach ihn Brody. "Okay, Masken auf! Es geht weiter!" Er und Brock setzten sich schnell die Masken auf. Unzählige Übungseinsätze und Planstunden bei Fortbildungen innerhalb der Armee machten sich bezahlt. Benton hingegen...
"Ganz ruhig, Calleb!", sagte Brock. Seine Stimme klang etwas verzerrt. Seine Müdigkeit schien wie weggeblasen zu sein. "Daumen und Zeigefinger hinter das Gummi... Von unten nach oben..." Dann hatte es Benton geschafft. "Geht doch!"
"Danke!", nuschelte Benton und hob den Daumen.
"Wir fahren jetzt in die Zehn-Meilen-Zone!", sagte Brody und gab erneut Gas. "Zehn Minuten!"
'Hier sieht es aus wie nach einem Atombombenangriff!', dachte Calleb entsetzt. Zumindest stellte er es sich so vor. Sie hatten vielleicht zwei Meilen hinter sich gebracht. Nur vereinzelt tauchten Soldaten auf. Kleine und große Krater prägten die Landschaft. Schmutziger Schnee verschlechterte die Sicht erheblich. 'Was zum Teufel ist das?' Eine graue Masse lag neben der Straße. 'Verdammte Maske!' Er bekam kaum Luft, schwitzte aus allen Poren. "Was ist das da am Straßenrand?", wollte er wissen.
"Keine Ahnung", sagte Brock desinteressiert. Er blätterte in Unterlagen und warf ab und zu einen Blick in die Mappe, die er aus Brodys Container mitgenommen hatte.
"Eine Mischung aus Weizen, Mais und Roggen." Brody zuckte mit den Schultern. "Fragen Sie mich nicht, wie das passiert ist. Chemische Reaktionen, vermute ich. Wie Sie sehen und ahnen können, hat der Widemaker-Organismus so ziemlich alles auf den Kopf gestellt."
"Weizen...", flüsterte Benton und schüttelte leicht den Kopf. Die Sache wurde immer unheimlicher für ihn. Und je mehr er darüber nachdachte, um so unwohler fühlte er sich. Er war es nicht gewohnt, mit einer Atemschutzmaske auf der Rückbank eines Militärjeeps durch eine Sperrzone zu rasen, auf ein Ding zu, was womöglich außerirdisch war und eine enorme Gefahr darstellte... 'Moment mal!' Er sprang fast gegen die Decke des Wagens. "Lebt das Ding etwa noch?" Grünes Gas, das austrat, war schon schlimm genug. Der Gedanke, zu einem Etwas zu fahren, was eventuell bei einer einzigen falschen Bewegung mit tödlichen Giftdrüsen übersäte Tentakel ausfahren, und ihn und Colonel Brock und Colonel Brody und ungefähr eintausend andere Soldaten in willenlose Zombies verwandeln könnte, ließ ihn kreidebleich werden. "Verdammt! Lebt es?"
Abrupt hielt Brody an. Der Wagen schlingerte etwas, blieb aber dann normal stehen. "Wir sind gleich da, okay?"
'Er klingt gereizt', dachte Brock. 'Als ob Benton einen wunden Punkt getroffen hat.' Als der Bürokrat aus Washington plötzlich einfach so, wie aus dem Nichts, die Frage gestellt hatte, ob der Organismus denn noch am Leben sei, da hatte es ihn kurz gefröstelt. Ein Gefühl von Übelkeit war aufgekommen, aber Brock war Soldat genug, um dieses Gefühl schnell wieder verschwinden zu lassen. Jahrelang hatte er in Europa Missionen koordiniert, die manchmal sogar beinhalteten, dass er im Angesicht einer entsicherten Pistole Kopf und Kragen riskieren mußte, um zu überleben. Und trotzdem: 'Lebt es? Das hat Arthur bis jetzt überhaupt nicht erwähnt! Das geht auch aus den Memos nicht hervor!'
"Hören Sie." Brody trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad. "Wir gehen davon aus, dass der Austoss reflexbestimmt ist."
"Was soll das heißen?", fragte Benton.
"Der Organismus ist tot."
"Tot?"
"Ja, tot."
"Das ist sicher?"
"Ja, verdammt nochmal!"
Brock kniff die Augen zusammen. "Aber wenn es..."
"Ich weiß es nicht, okay? Wir können darüber mit Sheila Harding sprechen." Mürrisch schaute Brody zur Seite. "Okay? Können wir dann weiterfahren?" Er bekam keine Antwort. 'Ach, leckt mich doch am Arsch!' "Sehr schön!" Seufzend legte er den Gang ein und setzte den Jeep in Bewegung.
"Nichts ist hier sicher!", flüsterte Benton zu Brock.
Der winkte ab und sagte nichts.
'Typisch Militär', dachte Benton und sah frustriert aus dem Fenster. 'Ich habe doch nur eine Frage gestellt. Nicht mehr. Nicht weniger...'
08
Ground Zero
17. Januar 2015
Die restlichen Meilen Fahrt schwiegen sich die drei Männer im Jeep an. Brody konzentrierte sich auf die Straße, die, obwohl provisorisch ausgebessert, einen solchen Begriff nicht verdiente, Brock blätterte in den Unterlagen und Benton wurde immer fahler im Gesicht, je näher sie Ground Zero kamen. Links und rechts am Straßenrand lagen tote Vögel, verbrannte Kadaver von Kühen oder Pferden, so genau konnte man das nicht mehr unterscheiden. Soldaten, deren Gesichter hinter futuristisch aussehenden Atemschutzmasken unsichtbar blieben, hoben Gräben aus, tätigten Messungen an toten Tieren oder abgebrannten Baumstümpften, standen zu zweit da und gestikulierten mit ihren Händen miteinander, oder taten auch nichts und hockten einfach nur so da. Es wirkte wie ein kleiner Teil eines großen Ameisenbaus, der jedoch keineswegs organisiert und struktuiert war. Alles wirkte chaotisch, planlos.
Dann sah Benton den Stacheldrahtzaun. "Was ist das?", brach er das Schweigen.
Brody sah weiter stur gerade aus, während Brock interessiert sich etwas nach vorn beugte und anschließend zu Benton sagte: "Das ist die Absperrung. Dahinter ist höchste Sicherheitsstufe. Wer da einmal Gast sein darf, kommt so schnell nicht wieder raus."
Benton murmelte ein verunsichertes "Aha" und lehnte sich wieder zurück.
"Halten Sie Ihre Papiere bereit, Gentlemen.", sagte Brody und zeigte geradeaus auf die Straße. Zweihundert Meter vor ihnen war ein Tor zu erkennen, dass von zahlreichen Soldaten abgesichert war. Hubschrauber zogen hoch über ihnen ihre Kreise, bereit, jeden unerwünschten Eindringling sofort in seine Schranken zu weisen.
Fragend sah Benton zu Brock und formte stumm mit den Lippen: "Papiere?"
Seufzend tippte der Colonel auf seinen in Plastikfolie geschweißten Berechtigungsschein, den er an die Brusttasche befestigt hatte.
Benton verstand und lächelte verlegen. Dann holte er aus seiner Jacke den Schein hervor, der an den Ecken schon leicht verbeult war. 'Den hast du ja glatt vergessen!', dachte er über sich selbst verärgert. Den Berechtigungsschein hatte er direkt nach der Ankunft in Tallington von Master-Seargent Riley erhalten.
"Normalerweise erledigen wir solche Sachen mit der Routineüberprüfung", sagte Brody, während er den Jeep langsam abbremste. "Sie wissen schon, Augenscann. Aber das geht durch die Masken nicht. Deshalb diese vereinfachte Methode." Der Wagen kam zum Stillstand. Drei Soldaten kamen auf sie zu. Brody zeigte seinen Schein und nickte kurz.
"Colonel Arthur Brody", sagte einer der Soldaten. Ein anderer tippte etwas unbeholfen mit seinen Händen auf einer kleinen Tastatur den Namen ein. Der dritte Soldat sicherte den Wagen ab. Der erste Soldat sah zu Brock. "Sir?"
"Colonel Conrad Brock."
Der Soldat nickte. "Okay. Colonel Conrad Brock."
"Mit C oder mit K?"
"C."
"Wo? Vorname? Conrad? Mit C?"
"Ja. Und Brock mit C und K!"
"Okay."
Benton war furchtbar nervös. Solche Sachen kannte er aus dem Weißen Haus nicht. Dort reichte es, wenn er sein Gesicht zeigte. Jeder wußte dann, wer er war. Was er war. Wie wichtig er war. Mit zittrigen Händen hielt er seinen Schein an die Fensterscheibe. "Hallo", flüsterte er mit trockener Kehle und wußte den Bruchteil einer Sekunde später selbst nicht, warum er das eben gesagt hatte.
Teilnahmslos las der Soldat vom Schein ab. "Calleb Benton. Zwei L!"
"Hab ich", sagte der zweite Soldat und brauchte dennoch lange, um den Namen einzugeben. Dann hob er den Daumen. "Passt!"
'Na, Gott sei Dank', dachte Benton erleichtert. Vor ihnen fuhr das Tor geräuschlos zur Seite. Die drei Soldaten salutierten und gingen einen Schritt zurück.
"Das hätten wir also." Brody nickte den Soldaten wieder kurz zu und beschleunigte. "Gentlemen, Willkommen in Ground Zero!"
Sie fuhren durch ein Waldstück. Zumindest war es vor wenigen Tagen noch ein echter Wald gewesen. Nun standen abgestorbene Baumstämme nebeneinander und bildeten ein trostlos wirkendes Spalier für den Jeep und dessen drei Insaßen. Merkwürdigerweise war kein einziger Baum umgerissen worden. Die Straße wurde etwas breiter und stieg an. Schlaglöcher schüttelten die Männer gehörig durcheinander. Dann hatten sie die Spitze des Anstiegs erreicht, das Waldstück endete urplötzlich, und Brock und Benton bot sich ein Anblick, mit dem sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätten.
Als ob Brody durch die Masken hindurch sehen konnte, nickte er zur Bestätigung mit dem Kopf. "Ja, meine Herren. Furchteinflößend, nicht wahr?"
"Sie untertreiben da wohl etwas, Colonel...", murmelte Benton.
Vor ihnen erstreckte sich eine absolut plane Ebene, die mindestens zwei Meilen breit war. Der Schnee machte es unmöglich, die genauen Ausmaße einzuschätzen. Der Boden war mit einer grauen Masse bedeckt, welche wie die Schleimmischung aussah, die sie schon vorher gesehen hatten, jede schmutzige Schneeflocke absorbierte und sich dabei wellenartig hin und her bewegte. Gut einhundert Meter vor ihnen stand im völligen Kontrast ein Gebäudekomplex. Zahlreiche Röhren, Bunker und größere Containereinheiten. Links daneben befand sich ein riesiges Zeltgebilde. Es war gespenstisch, wie auf einem fremden Planeten. Als ob die NASA hier ihre Besiedlungspläne des Mars erprobte. Die Container und das Zelt waren durch einen Glastunnel verbunden, in dem sich Menschen in luftundurchlässigen Anzügen bewegten. Über dem Tunnel verliefen dünne und dicke Rohre. Ein Rohr führte zu einem riesigen Behälter, der mit großen Kreuzen versehen war.
"Eine Meile entfernt stand das Widemaker-Anwesen", erklärte Brody.
Brock nickte. "Das hier ist die Einschlagstelle, nicht wahr?" Wie, um sich selbst zu bestätigen, blätterte er in der Mappe, bis er das entsprechende Satellitenfoto gefunden hatte.
'Scheint wohl eine Marotte von ihm zu sein, dieses ständige Überprüfen von Dokumenten und Fotos', dachte Benton. Wenn es nach ihm ginge, würden sie auf der Stelle umkehren und die ganze Angelegenheit aus sicherer Entfernung abhandeln. Aber leider stand er in der Befehlskette hinter diesen beiden Colonels, die, wie er fand, viel zu ruhig mit der Sache umgingen. "Wie ist das mit dem Zelt da, Colonel Brody?", fragte er und blinzelte. Schweiß war in seine Augen geraten, die nun unangenehm brannten. "Ist das luftdicht?"
"Selbstverständlich!" Sie erreichten den Gebäudekomplex. Soldaten gingen zur Seite, ein Tor öffnete sich, und sie fuhren in den Komplex hinein.
"Und wie funktioniert das?", wollte Benton wissen. "Luftdicht bedeutet doch, dass rundum eine geschlossene Schicht..."
"Vertrauen Sie mir, Calleb!" Brody hielt den Wagen an und drehte sich um. "Es ist luftdicht! Da kommt nichts raus, nur durch die Rohre. Okay?" Er deutete zu einer Anzeige, die rot aufleuchtete. "Wenn das Licht auf Grün umschaltet, können wir die Masken abnehmen. Der Filter hat dann den Raum gesäubert." Er lachte. "Na gut, säubern klingt ein wenig albern."
Brock stimmte in das Lachen mit ein. "Erinnert mich an Paris vor drei Jahren."
"Was war in Paris, Colonel?", fragte Benton. Er empfand das Wort 'Säubern' keineswegs als albern. Im Gegenteil, ihn beruhigte es, hatte es doch etwas endgültiges. 'Säubern. Etwas auslöschen!' "Colonel?"
Brock winkte ab. "Später vielleicht, Calleb."
"Okay!", sagte Brody und nahm die Maske ab. "Die Anzeige steht auf Grün. Alles in Ordnung. Sie können die Masken nun abnehmen."
"Wurde auch Zeit. Ich hab die Dinger noch nie gemocht." Colonel Brock schob seine Daumen unter das Gummi und streifte die Maske in einer fast anmutigen Art und Weise von seinem Gesicht. An einigen Stellen der Haut waren rötliche Streifen, die von den Rändern der Maske stammten. Er atmete tief durch. "Okay."
Benton zögerte. Zwar sah er es mit eigenen Augen, wie Brock und Brody die Luft gierig einsogen, aber trotzdem traute er der Sache nicht ganz. Als er die erwartungsvollen Gesichter der beiden anderen bemerkte, das Zucken ihrer Münder, was sich unweigerlich in ein hämisches Grinsen verwandeln würde, nickte er kurz und hob den Daumen. "Okay!" Er schluckte ein paar mal, holte tief Luft, hielt den Atem an und streifte sich umständlich von unten nach oben die Atemschutzmaske vom Gesicht.
"Ganz ruhig, Calleb", sagte Brody beschwichtigend. "Wirklich! Hier kann Ihnen nichts passieren!" Dabei sah er zu Brock, der etwas hilflos mit den Schultern zuckte. 'Schätze, dieser Wicht von einem Bürokrat kann höchstens zehn Sekunden die Luft anhalten', dachte er und begann innerlich einen Countdown von Zehn abwärts zu zählen.
Seine Kleidung war durchgeschwitzt. Abwechselnd sah Calleb zu Brock und Brody, die ihn anlächelten. Dann konnte er nicht mehr. Er öffnete den Mund, verdrehte die Augen und schnappte wie ein Fisch, der in einen ausgetrocknetem Tümpel hin und her zappelte, nach Luft. Er rechnete damit, dass jeden Moment eitrige Blasen an seinen Armen zu sehen waren, oder dass ihm büschelweise die Haare ausfielen. Jedoch... nichts von alledem trat ein. Calleb stöhnte und hob resignierend die Arme. "Das ist alles zuviel für mich. Wie können..." Er hustete. "Wie können Sie nur so stoisch das alles verarbeiten, verdammt?"
Brock haute Benton kräftig auf den Rücken. "Jahrelange Erfahrung." Interessiert sah er sich um, während der junge Mann neben ihm sich nach vorn beugte und die Hände gegen den Bauch presste. "Was nun, Arthur?" Sie saßen immer noch im Jeep, in einer großen Halle, an deren Decke gewaltige Filtervorrichtungen angebracht waren.
"Eigentlich...", murmelte Brody etwas mürrisch und sah auf seine Armbanduhr. "Dauert wohl länger dieses Mal." Dann öffnete sich vor ihnen eine Tür, durch die eine Frau die Halle betrat. "Ah..." Er grinste und flüsterte: "Da ist sie ja."
"Und wer ist das?", keuchte Benton, dem es schon etwas besser ging.
Brock zuckte mit den Schultern. "Ich schätze, es handelt sich um Sheila Harding."
"Da liegen Sie verdammt nochmal goldrichtig, Conrad." Brody stieg aus dem Wagen aus.
"Ist Ihnen das nicht alles irgendwie... unheimlich?" Benton grub seine Finger in die Maske. "Etwas stimmt nicht, ich weiß nicht was... Aber..."
"Jetzt werden Sie nicht albern, Calleb!" Brock öffnete die Tür. "Na los, kommen Sie!" Er selbst wartete kurz ab, bevor er aus dem Wagen stieg. 'Da ist immer noch die Sache, die Calleb vorhin wie aus heiterem Himmel erwähnt hatte, alter Junge!' Kopfschüttelnd stieg er aus. 'Und wenn es wirklich wahr wäre? Wenn das Ding noch am... Leben ist?' Er streckte und dehnte sich. Die Fahrt war anstrengend gewesen. Er machte keine Anstalten, zu Brody und Harding zu gehen, die sich die Hand gaben und miteinander diskutierten, dabei ab und zu Richtung Jeep sahen. 'Sie sehen zu dir! Und zu Benton!' Lächelnd hob er die Hand zum Gruß.
Die Frau, Doktor Sheila Harding, nickte kurz. "Sie sind Conrad Brock?", rief sie.
"Ja", antwortete er und sah zu Benton, der immer noch im Jeep saß, als ob er auf irgendwas warten würde. "Nun steigen Sie schon endlich aus!"
"Folgen Sie mir, meine Herren!" Harding drehte sich um und ging wieder durch die Tür, durch die sie gekommen war.
"Na los!", sagte Brody verärgert und folgte ihr.
Benton machte keine Anstalten, sich zu bewegen. "Kann nicht. Geht einfach nicht."
Brock seufzte. "Also gut. Was ist los, Calleb?"
Unendlich langsam drehte sich Benton zu Brock um, der die Wagentür aufhielt. "Angst! Ich habe ganz einfach fürchterliche Angst!"
"Großer Gott! Sie kippen mir ja gleich um!" Besorgt sah sich Brock um. Harding und Brody hatten die Halle verlassen. 'Verdammt!' Er nickte Benton aufmunternd zu. "Also gut. Kommen Sie, Calleb. Ich werde Sie stützen, einverstanden?" Er streckte seinen Arm aus. "Greifen Sie nach meiner Hand!"
"Nein!", schrie Benton und rutschte etwas zurück. "Ich habe einfach ein... ein Scheißgefühl bei der ganzen Sache!"
"Kommen Sie, na los!"
"Nein!", kreischte Benton panisch.
"Ich kann Sie verstehen. Der ganze Stress der Anreise, zu wenig Schlaf, die Fahrt, all das..." Brock redete sanft auf Calleb ein, der schwitzend im Jeep saß und am ganzen Körper zitterte. Dann machte er eine schnelle Bewegung vorwärts, erwischte den panisch um sich schlagenden Benton am Jackenärmel, zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich und hielt ihn fest.
"Lassen Sie mich los!" Benton bäumte sich auf und versuchte verzweifelt, sich aus dem kräftigen Griff des Colonels zu befreien.
Brock schüttelte den Kopf. "Das geht nicht! Und das wissen Sie auch!" Suchend sah er sich um. 'Verdammt! Keine Kameras?' Als ob jemand seine Gedanken gelesen hatte, ging die Tür auf und zwei kräftig wirkende Soldaten rannten auf sie zu. "Bringen Sie ihn zum Arzt. Das alles hat ihn ziemlich mitgenommen!" Benton hing schlaff in seinen Armen und ließ sich teilnahmslos von den Soldaten fortbringen. Plötzlich stand Brock allein in der großen Halle. Er kam sich verloren vor, wie in einer anderen, fremdartigen Welt. Täuschte er sich, oder war es kälter geworden? Eine Durchsage kam aus einem der Lautsprecher, die an der Decke angebracht waren: "Colonel Brock, kommen Sie bitte in den Besprechungsraum. Ebene Alpha Neun." Die Stimme war etwas verzerrt, erinnerte aber an Brody. Seufzend schloss Brock die Wagentür und verließ die Halle. Bevor er die Tür hinter sich zumachte, sah er noch einmal zurück. Der Jeep war über und über mit Staub bedeckt. 'Merkwürdig', dachte er. 'Der Staub scheint zu leuchten, und...' Er hielt inne. 'Was ist das?' Am Kühler des Jeeps hing etwas. Interessiert ging Brock zum Wagen zurück. Erstaunt zog er eine verkohlte Ähre aus dem Gitter des Kühlers. "Sachen gibts..." Ihm fiel ein, dass er unbedingt Brody auf die mangelnde Kontrolle am Tor aufmerksam machen mußte. Er verstand nicht, warum hier nicht die Methode des Daumenabdrucks gehandhabt wurde, wenn der Augenscann durch die Masken unmöglich war. Nur anhand von Papieren, die auch Fälschungen hätten sein können, wurde ihnen der Zugang zu Ground Zero gestattet. Brock lächelte und dachte grimmig: 'Wir hätten sonstwer sein können!'
09
Besprechungsraum
17. Januar 2015
Der Besprechungsraum bestand aus drei aneinander gerückten Esstischen, acht Holzstühlen und kitschigen Bildern mit Tieren an den dunklen Plastikwänden. Der gesamte Komplex, so erklärte Doktor Sheila Harding, war aus hochwertigen Plastik. Billig in der Herstellung, und nicht mehr so leicht zerstörbar wie noch vor einigen Jahren.
"Was ist mit Benton?", fragte Brock und sah dabei zu Brody, der genervt abwinkte.
"Mister Benton hat ein medizinischen Cocktail bekommen, Colonel Brock", antwortete Harding. "Er ruht sich gerade etwas aus. Zum Abendessen dürfte er wieder fit sein." Grinsend fügte sie hinzu: "Für einen Bürohengst hat er sich wacker geschlagen, wie ich finde."
"Hm..." Brock runzelte die Stirn. Irgendwie tat ihm Benton leid, auch wenn wegen Leuten, die der unsäglichen Bürokratie verfallen waren, so ein Schlamassel überhaupt passieren konnte. In seiner Hand hielt er die Ähre und ließ sie um die Achse kreiseln. "Ich denke, er hat ganz einfach Angst vor dem Ding da draußen." Räuspernd setzte er sich gerade hin. "Wann kann ich den Organismus sehen?"
Brody stand auf und ging zu einem Wasserspender, wo er sich einen kleinen Becher füllte, und diesen mit einem einzigen Schluck austrank. "Wir sollten das nicht überstürzen, Conrad."
"Warum nicht?", fragte Brock erstaunt. "Meine Anreise untertreibt die Bedeutung des Wortes 'überstürzen' bei weitem..."
Doktor Harding setzte sich zu ihm an den Tisch. "Morgen früh um Punkt Acht Uhr werden wir rüber in das Zelt gehen, einverstanden?"
Er zuckte mit der Schulter. "Wenn Sie das sagen, Miss Harding."
"Nennen Sie mich Sheila, Colonel", sagte sie mit einem leichten Zwinkern.
Brock betete, dass er nicht rot angelaufen war. "Ja, okay... Sheila also. Angenehm." Er reichte ihr die Hand. "Conrad."
Inzwischen hatte Brody mindestens den vierten mit Wasser gefüllten Becher ausgetrunken. "Pah!", brummte er mürrisch, zerdrückte den Becher und warf diesen in den Mülleimer. "Warum ist es hier so warm?" Kleine Schweißperlen liefen über seine Stirn.
"Jetzt, wo Sie es sagen..." Unsicher sah sich Harding um. Schließlich blieb ihr Blick an dem kleinen, weißen Plastikkasten hängen, der einige Zentimeter über der Tür angebracht war. "Vermutlich ist diese Einheit des Kühlsystems defekt."
"Vermutlich, was?" Brody wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. "Wenn man nicht alles selber macht..." Er lehnte sich gegen die Wand und nickte den beiden gequält zu.
"Na schön", sagte Brock und holte aus der Mappe die Memo hervor, die er in Brodys Büro gelesen hatte. "Hier steht... 'Komplexer, uns bisher unbekannter Organismus'." Er legte das Stück Papier auf den Tisch. "Wie kann ich das verstehen? Hat E.T. Tallington in Schutt und Asche gelegt?"
"Vereinfacht ausgedrückt..." Harding machte eine wichtigtuerische Geste. "Ja, kann man so sagen."
"Wie bitte?"
"Außerirdisch...", flüsterte Harding. Ein breites Grinsen zierte ihr schmales Gesicht. "Nun, die meisten Elemente kommen auch bei uns vor. Bis auf eines!" Sie stand auf und ging zu einem Tableau, auf dem verschiedenfarbige Knöpfe angebracht waren. Kurz sah sie zu Colonel Brody. "Sir?"
Der winkte ab. "Nur zu."
"Okay." Sie drehte einen Knopf und das Licht im Raum verdunkelte sich etwas. Eine Leinwand fuhr von der Decke hinab. Harding drückte ein paar Knöpfe. "Okay, passen Sie auf, Colonel!"
Was er sah, verwirrte ihn. Auf der Leinwand war eine Flüssigkeit zu sehen, die ihm bekannt vorkam. Dann zoomte das Bild aufwärts, und die Flüssigkeit entpuppte sich als... "Das ist ja eine Zelle!", rief Brock erstaunt. "Zellkern, Membran..." Er runzelte die Stirn. "Nur... Was ist das?" Er stand auf und ging zur Leinwand. Eine Substanz wirkte absolut fremdartig in der Zelle. Stöhnend ging Brock einen Schritt zurück. "Ist es das, was ich denke?"
"Ja, Conrad." Harding lächelte, berührte eine Taste am Tableau, und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht wurde wieder heller, die Projektion hielt an. "Das ist das Element, was wirklich fremdartig ist. Das Gas, was aus dem Organismus strömt..."
"Sagen Sie es mir, Sheila! Ist das Ding noch am Leben?"
"Nein, Colonel. Es ist definitiv tot. Das hat Ihnen bestimmt Colonel Brody gesagt, der Ausstoss ist..."
Brock unterbrach sie. "Reflexbestimmt?"
Sie atmetete tief durch. "So ist es."
"Hm..." Als ob er mit der Antwort unzufrieden war, setzte sich Brock wieder an den Tisch. Er blätterte in den Unterlagen, sah dann zu dem Memo, nahm es und sagte: "Und was ist mit Stuff-Seargent Grisham?"
"Er steht immer noch unter Beobachtung. Es geht ihm blendend. Die letzte Untersuchung ergab sogar hervorragende Werte. Wir wollen noch eine Woche abwarten..."
"Das Gas scheint also ungefährlich zu sein?"
"Ich persönlich würde sogar soweit gehen und behaupten: Das Gas ist ungefährlich."
Brody räusperte sich und sah auf seine Armbanduhr. "Es wird Zeit."
"Wofür?"
"Abendessen, Conrad. Oder haben sie etwa keinen Hunger?"
10
Abendessen
17. Januar 2015
Während die niederen Ränge und zivilien Angestellten in einer großen Halle, einem kleineren Flugzeughangar nicht unähnlich, an langen Tischreihen ihre Mahlzeiten einnahmen, saßen die Offiziere auf drei wohnlich ausgestattete Container verteilt an Vierertischen, wo sie von Ordonanzen das Essen gereicht bekamen. Brock hatte sich für Hühnchen mit Curryreis entschieden und faltete die Serviette ungeduldig auf- und zusammen. Doktor Harding, Brody und er befanden sich allein in einem der Container. An einer Wand hing ein großer Flachbildschirm, der Höhepunkte der bereits abgelaufenen Footballsaison zeigte. Bei besonders gelungenen Spielzügen, pfiff Brody anerkennend durch die Zähne und nickte leicht. Manchmal ging sein Körper mit, wenn beispielsweise ein Quarterback beim Passversuch unsanft gestoppt wurde. Doktor Harding sah zwar auch zum Bildschirm, jedoch verriet ihr leerer Blick, dass sie sich für Football nicht im geringsten interessierte.
"Um noch einmal auf den Organismus zurückzukommen, Sheila.", sagte Brock leise und sah zu ihr.
Sie lächelte ihn an und sagte: "Es gibt hier eine Regel, Conrad. Beim Essen reden wir ausnahmsweise einmal nicht über den Grund, warum wir alle hier sind." Sie zeigte zu einem der Fenster. "Wenn Sie genau hinhören, dann können Sie lautes Lachen hören. Die Männer und Frauen leisten Schwerstarbeit, sind rund um die Uhr im Einsatz. Wenigstens eine Stunde am Tag sollten sie sich wie normale Menschen fühlen dürfen. Und bevor Sie fragen..." Verschmitzt warf sie einen Blick zu Brody, der ihre Ansprache offenbar nicht mitbekommen hatte. "Das war Colonel Brodys Idee."
Brock hob die Hände etwas nach oben. "Okay." Die Tür ging auf. In Erwartung der warmen Mahlzeit richtete er sich gerade auf, legte die Serviette zur Seite und leckte sich mit Zungenspitze über den Mund. Jedoch betrat keine Ordonnanz den Container, sondern... "Calleb!", rief Brock sichtlich erfreut. Er sprang vom Stuhl, lief zu Benton und reichte ihm die Hand. "Wie geht es Ihnen?"
Unsicher sah Benton zu Doktor Harding. Dann legte er eine Hand auf Brocks Arm und flüsterte: "Ich weiß nicht, was die mir da gegeben haben, aber eines sage ich Ihnen, Colonel..." Er blinzelte kurz mit den Augen und fuhr sich durchs Haar. "Das war das beste Aufputschmittel, was ich jemals genommen habe! Naja, im Grunde genommen diente es zur Beruhigung... Wie auch immer!"
"Freut mich, Sie begrüßen zu dürfen, Mister Benton." Harding nickte dem dicklichen Mann kurz zu.
"Na, Calleb?", fragte Brody grinsend. "Gutes Timing! Sie haben die Auswahl zwischen Hühnchen mit Curryreis, oder Salzkartoffeln mit Spinat." Er krümmte Daumen und Zeigefinger zu einem O und legte die Fingerspitzen an die Lippen, die er zu einem Kussmund zusammengeszogen hatte.
"Ah...", murmelte Benton und sah zu Brock. "Was haben Sie?"
"Das Hühnchen."
"Ja, das klingt gut. Auf Popeye habe ich nicht gerade Lust, wissen Sie?" Keiner lachte über seinen Scherz. "Schon gut!", winkte Benton ab und setzte sich an den Tisch. Brock beorderte eine Ordonnanz heran und bestellte für ihn das Abendessen. "Na, dann erzählen Sie mal, was der Präsident der Vereinigten Staaten bisher noch nicht weiß." Harding und Brody schüttelten seufzend die Köpfe. "Was?", fragte Benton und sah hilflos zu Brock, der mit den Schultern zuckte und sich ebenfalls an den Tisch setzte. Verwundert starrte Calleb zu den anderen. 'Was zum Teufel hast du nun schon wieder falsch gemacht?'
Beim Essen redeten die beiden Colonels über Belanglosigkeiten, wie Benton empfand. Wen interessierten schon Trefferquoten in der Baseball-League, oder Torschützenkönige irgendwo in Europa. Obwohl er großen Hunger hatte, stocherte er mit der Gabel lustlos im Reis herum. Ab und zu warf er verstohlen einen Blick zu Sheila Harding, die so tat, als ob die Diskussion zwischen Brock und Brody, wer denn nun der beste Werfer der Yankees in den letzten einhundert Jahren gewesen war, sie tatsächlich interessieren würde. 'Verdammt, sie sieht schon gut aus", dachte Calleb, presste die Lippen zusammen und trennte etwas Fleisch vom Knochen. Anschließend stieß er die Zinken der Gabel hinein, tunkte es ein wenig in die gelbliche Currysauce und schob es sich in den Mund. Das Hühnchen schmeckte trocken. Schnell spülte er mit etwas Wasser nach. Er kam sich minderwärtig vor, neben diesen beiden Soldaten ('Sie sehen wie Elitekämpfer aus, verdammt!'), die scheinbar völlig unbeeindruckt waren, dass sie in guter Schlagweite von einem Ding, dass sonstwas sein konnte, über Sport redeten. Er war schon wieder durchgeschwitzt. "Entschuldigung..."
Harding blinzelte mit den Augen. "Mister Benton?"
"Ist die Klimaanlage außer Betrieb?", fragte Calleb.
Brock runzelte die Stirn und sah zu dem kleinen Plastikasten oberhalb der Tür. "Also mir ist es fast schon zu kalt, würde ich sagen."
"Oh..." Benton kratzte sich am Kinn. Inzwischen waren an einigen Stellen helle Barthaare zu spüren. Er hasste es, ungepflegt zu sein. "Ich habe mich wohl getäuscht."
"Das liegt an der Medizin, die Sie bekommen haben, Mister Benton." Harding schob ihren halb aufgegessenen Teller zur Seite. "Nebenwirkungen, verstehen Sie? Die Umgebung kommt einem viel zu warm vor. Teilweise bis zu sechs Grad Unterschied."
"Und sowas wird verkauft?", fragte Brock. "Das sind Nebenwirkungen, die nicht gerade vertrauenserweckend sind."
Brody trank einen Schluck Wasser. "Das ist intern, Conrad."
"Intern?", fragte Benton nach. Ihm wurde unwohl. "Wie meinen Sie das?"
"Das sind Aufputschmittel, die nicht für die zivile Bevölkerung bestimmt sind."
"Und?"
"Nun, Ihnen geht es doch soweit gut, oder? Abgesehen davon, dass Ihnen etwas warm ist."
"Aha?"
"Beruhigen Sie sich, Calleb!", sagte Harding. "Das sind die einzigen Nebenwirkungen."
Mit verzweifeltem Blick sah Benton zu Brock. "Was..."
"Nun machen Sie sich mal keine Sorgen, Calleb, okay?" Freundlich lächelte Brock den jungen Mann vor sich an, der aussah, als ob er jeden Moment wieder in Panik ausbrechen würde. 'Mein Gott, was muß der arme Kerl leiden.'
"Na gut, okay." Benton lehnte sich zurück und atmete tief durch. "Und wann können wir nun über den Organismus reden? Nach dem Essen vielleicht? Ich wollte eigentlich längst den Bericht schreiben, aber..." Fast sah es aus, als ob er jeden Moment anfangen würde, zu weinen. Doch er schaffte es, sich zu beherrschen. "Also?"
"Ich hatte vorgeschlagen, dass wir uns morgen früh um Acht Uhr den Organismus ansehen", sagte Harding.
"Und warum nicht gleich?"
Der Flachbildschirm an der Wand ging aus. Colonel Brody legte augenzwinkernd eine kleine Fernbedeinung auf den Tisch. "Es war ein anstrengender Tag für uns alle. Wir sollten..."
"Ich fühle mich hervorragend!", log Benton. "Von meiner Seite aus, von der Seite des Präsidenten, den ich vertrete, spricht nichts dagegen, dass wir uns heute noch das Ding im Zelt ansehen."
"Ach, Calleb." Brody schüttelte den Kopf. "Und wenn ich Ihnen nun sage, dass ich das nicht zulassen kann und will? Wir brauchen Schlaf! Vor allem Sie!"
"Unsinn!" Benton runzelte die Stirn. Dann lehnte er sich zurück und grinste. "Ach, Colonel. Und wenn ich Ihnen nun sage, dass ein einziger Anruf reicht, um Ihnen das Kommando zu entziehen?" Dabei schielte er zu Brock.
Der lachte laut auf. "Jetzt hören Sie mit dem Unsinn auf, Calleb!" In seinen Fingern hielt er die Ähre, die er vom Kühler des Jeeps abgenommen hatte. "Das Ding läuft uns nicht weg. Und so wie es scheint, ist es ungefährlich."
"Das ist mir egal! Ich will es jetzt sehen!", bellte Benton und stand auf. "Warum begreift das keiner? Ich repräsentiere den Präsidenten!"
"Der ist aber nicht hier, Mister Benton", sagte Harding ruhig.
Langsam reichte es Brody. "Jetzt hören Sie mir mal zu, Mister Wichtig! Hier gibt es Regeln, an die sich gehalten wird. Sie unterstehen Colonel Brock und mir. Das wußten Sie auch!
"Hören Sie lieber auf ihn, Calleb", flüsterte Conrad leise und machte ein sorgenvolles Gesicht. 'Was ist nur los mit ihm? Hat er das Beruhigungsmittel nicht vertragen?'
Benton kam sich vor, als ob die drei ihn umzingelt, ihn in eine Ecke gezwungen hatten, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Er dachte kurz nach, kniff die Augen zusammen und sagte leise: "Na schön, von mir aus. Wenn Sie es unbedingt so wollen. Dann eben morgen früh um Acht."
"Gut, dann hätten wir das also geklärt", sagte Harding zufrieden.
Brody sah grimmig zu Benton, der wie ein Häufchen Elend vor ihnen stand. "Sieben Uhr Frühstück!" Mehr sagte er nicht und verließ grußlos den Container. Harding senkte den Kopf etwas und folgte ihm.
Nur noch Benton und Brock waren da. Dieser bemerkte, dass Bentons Teller kaum leer war. "Sie haben ja fast nichts gegessen, Calleb!" Kopfschüttelnd ging er zu dem jungen Mann und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"
"Ja!", stieß Benton hervor, schlug Brocks Arm zur Seite und rannte aus dem Container.
"He, Benton!", rief er ihm hinterher. Zwecklos. 'Eine tickende Zeitbombe', dachte Conrad scherzhaft. Sekundenbruchteile später nahm dieser Gedanke mehr und mehr Gestalt an, verwandelte sich in ein katastrophales Szenario, mit Benton in der Hauptrolle. 'Und wenn er tatsächlich ausrastet, der Situation nicht gewachsen ist?' Seufzend schaltete Conrad den Flachbildschirm wieder ein. Dann entdeckte er den Kühlschrank, versteckt neben einer kleinen Kommode, auf der Topfpflanzen standen. "Bitte, lieber Gott! Lass mich drei Wünsche frei haben!", murmelte er leise, ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und grinste wie ein kleiner Junge, der gerade den größten Schulstreich aller Zeiten erfolgreich beendet hatte. "Jackpot!" Zufrieden holte er eine Flasche Bier heraus, schraubte den Verschluss ab und trank einen großzügigen Schluck. "Ein Hoch auf den Offiziersstatus!" Er setzte sich an den Tisch, verfolgte einige Spielzüge eines Footballmatchs und nippte ab und zu an der Flasche.
Eine Stunde später verließ er den Container und machte sich auf die Suche nach seiner Unterkunft, die er ohne Umwege fand. Dort lockerte er nur den Knoten der Krawatte, ließ sich dann auf das harte Feldbett fallen, und wenige Minuten später war Brock schließlich eingeschlafen.
Im Container, wo sie zu Abend gegessen hatten, räumten zwei Ordonnanzen das Geschirr ab. "Der wird gut schlafen können", sagte einer der beiden und schob mit einer einzigen Armbewegung die sechs leeren Bierflaschen vom Tisch in den Plastikkorb zum restlichen Geschirr.
Calleb Benton lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. 'Sie haben dich wie ein... wie ein Kind behandelt. Verdammt nochmal! Du bist nach dem Präsidenten der wichtigste Mensch auf diesem verfluchten Planeten!' Von irgendwoher kam ein gleichmäßiges, sanftes Hämmern. Sehr schwach, kaum hörbar. Er drehte sich auf die Seite und legte das harte Kopfkissen über sein Gesicht. Doch dadurch wurde das sanfte Hämmern nur noch verstärkt, als ob es sich unbewußt Zugang zu ihm verschaffen wollte, je mehr er versuchte, das Geräusch zu verdrängen. Nachdem er von Brock aus dem Wagen gezerrt und von den Soldaten zur medizinischen Ebene ('All die vielen Stufen! Die unendlich langen Gänge! Gott, hier im Inneren ist es viel größer, als es von außen betrachtet den Anschein erwecken mag!') gebracht worden war, lag er in einem weichen Bett, in einem großen Raum. Er war der einzige gewesen. Ein junger Mann hatte ihm drei Tabletten und ein großes Glas Wasser gegeben. Zugegeben, er hatte sich schnell wieder beruhigt. Doch die Angst war geblieben. Vielleicht wollte er es deshalb so schnell den Organismus sehen, damit sich die Angst legte. Er hörte durch die dünne Wand hindurch, wie sich nebenan jemand auf das Bett fallen ließ. Kurz darauf gesellte sich zu dem inzwischen fast unerträglich gewordenem Hämmern ein lautes Schnarchen. 'Brock!' Er hämmerte mit der Faust schwach gegen die Plastikverkleidung, darauf bedacht, nichts kaputtzumachen. 'Und wenn schon, verdammt!' Im Nebenraum wälzte sich der Colonel im Bett auf die Seite, das Schnarchen verschwand nach wenigen Atemzügen. 'Wenigstens etwas!' Er konnte einfach nicht einschlafen. Calleb stand auf und ging zum Fenster. Als er nach draußen sah, schreckte er ein wenig zurück. Die Szenerie war gespenstig. Es war vielleicht kurz nach Mitternacht. Alles war still. "Bis auf dieses beschissene Hämmern!" Soweit er es überblicken konnte, patroullierten einige Soldaten entlang des Komplexes, große Scheinwerfer schwenkten über die Ebene, und das Zelt, in dem sich der Organismus befand, war gänzlich beleuchtet. "Verflucht, was bist du nur?", fragte er leise. Haarsträhnen klebten an seiner nassen Stirn. Plötzlich bekam er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er stützte sich an der Wand ab und keuchte schwer. 'Was tue ich hier? Warum ich? Warum bin ausgerechnet ich hier?' Das Hämmern hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Calleb Benton schleppte sich zu dem schmalen Feldbett und setzte sich auf dessen Kante. Schweißperlen liefen über seine starren Augen, es brannte, doch es störte ihn nicht. Auf einmal zuckte er zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und begann leise zu kichern. Mit der dünnen Decke wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er entspannte sich, öffnete die Hände und bemerkte, dass er an den Handflächen blutete. "Wow!", murmelte er von sich selbst beeindruckt. Dann holte er tief Luft, ging zur Tür, öffnete sie, trat raus auf den schmalen Gang und lehnte die Tür nur an, gerade so, dass es aussah, als ob sie verschlossen wäre.
11
Der Widemaker-Organismus
18. Januar 2015
Ganz langsam drehte sich der kleine Zeiger und pendelte sich schließlich bei 39 Grad Celsius ein. Optimale Bedingungen im Zelt. "Okay", murmelte Sheila Harding und trat durch die erste Schleuse. Vier weitere würden folgen, bis sie in der eigentlichen Halle war, die sich über den inzwischen auf wenige hundert Meter eingeschränkten Krater des Einschlaggebietes erstreckte. Dazwischen lagen drei Pufferzonen, von außen nicht einsehbar, jedoch für den Betrachter eine bemerkenswerte Erfahrung, angesichts der Größe, welche die äußeres Ummantelung des Zeltes besaß. "Zeit: Drei Minuten nach Eins, 18. Januar 2015." Nach dem Abendessen hatte sie sich nur kurz hingelegt, um etwas zu entspannen. Ein paar Minuten lang die Augen zu schließen. Nicht mehr an Tallington und die Umstände denken, warum sie hier war. In den seltenen Ruhephasen kreisten ihre Gedanken um George und Sandy, denen es in New Orleans hoffentlich gut ging. Sie passierte die letzte Schleuse, ein hohes Pfeifen war zu hören, was bedeutete, dass ihr Anzug dicht, und somit sicher war. Seufzend ging sie die Treppe des schmalen Gerüsts hinab. Zehn wissenschaftliche Laborcontainer standen um den inneren Krater herum. Einer der Container stand etwas abseits. Zielstrebig ging Harding auf diesen zu, dabei passierte sie die Grube, in der der Organismus lag und immer noch gewaltige Mengen Gas freisetzte, die nach oben in spezielle Öffnungen gesaugt wurden. Der Conatiner hatte eine giftgrüne Plakette an der Tür. Betreten durfte diesen Raum nur Doktor Harding und einige zivilie Mediziner. Soldaten war der Zutritt strengstens untersagt, bis auf Brody natürlich. Sie hatte den Container erreicht und tippte einen mehrstelligen Code in das Zahlenschloss. Leise zischend öffnete sich die Tür.
"Guten... Morgen... Sheila... Harding...", sagte eine metallisch klingende Stimme.
"Guten Morgen, MA." Die letzten zwei Ziffern der zehnstelligen Reihe verrieten, um wen es sich handelte. Die Konstrukteure von MA waren fähige Leute. Sie lächelte und betrat den Container. Die Tür glitt wieder zurück. Sofort wurde die kontaminierte Luft nach draußen abgepumpt. Was sich in diesem Container befand, war viel zu wichtig, um Risiken einzugehen. Harding wartete geduldig, bis der Medizinische Assistent mit seinen Überprüfungen fertig war. Dann öffnete sich eine kleine Schleuse. Sie mußte sich etwas ducken, um in den dahinterliegenden Teil des Containers zu gelangen. Dutzende Minimonitore hingen an der Decke, unzählige Kabel und Schläuche führten aus einem Kabelschacht eines viereckigen Kastens hin zu einem Bett, schlängelten sich hoch endeten an Anschlüssen, die an Beine, Arme, Nase und Mund eines Mannes angeschlossen waren, der nackt im Bett lag, schlief und flach atmete. Harding beugte sich über den Mann, strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und flüsterte: "Guten Morgen, Mister Grisham." Sie sah zu einem der Monitore und runzelte die Stirn. "MA? Hat sich der Puls in den letzten zwölf Stunden verlangsamt?"
Die monotone Stimme kam direkt aus dem viereckigen Kasten hinter hier. An dessen Seite klebte ein Markenschild: MA, Bonn. " Veränderung... Innerhalb... Der... Normwerte... Sheila... Harding..."
"Merkwürdig..." Behutsam schob sie den Arm des Mannes von dessen Brust und betrachtete aufmerksam die kleinen rötlichen Punkte, die sich eine Stunde nach dem Vorfall gebildet hatten, als Grisham bewußt oder unbewußt in Kontakt mit dem Gas gekommen war. In dieser Hinsicht hatte sie gelogen. Die Punkte, das hatten schnelle Nachforschungen ergeben, waren vorher definitv nicht vorhanden gewesen. 'Ob er der einzige ist? Ob da draußen schon viele solche Punkte haben?' Noch waren es einfach nur Punkte, scheinbar harmlos. Aber das Gas des Organismus hatte sie verursacht. In ihrem Ohr knackte es. "Ja?"
"Sheila? Matthew hier. Hier draußen..."
Sie hörte Getuschel. "Was ist denn los?"
"Sie sollten sich das besser selbst ansehen!"
"Schon unterwegs!" Schnell tippte sie auf einer Konsole oberhalb des Bettes ein paar Befehle ein. "MA! Intervalle der Routineprüfung verkürzt. Sofortige Meldung bei Abweichung innerhalb der bisherigen Normwerte!"
"Habe... Verstanden... Sheila... Harding..."
"Sehr schön!" Sie stieg wieder durch die enge Schleuse, wartete ungeduldig die Prozedur der Dekontaminierung ab und eilte nach draußen.
"Sheila?"
'Großer Gott, wenn selbst Simmons ungeduldig klingt, dann...' "Ja, gleich!", sagte sie gereizt.
Matthew Simmons wippte schwerfällig hin und her. Er war noch nie mit den Anzügen zurecht gekommen, die nötig waren, wenn Hardings Team Einsätze wie diesen hatte. Links neben ihm stand die Biologin Toni Larssen, eine junge, schüchterne Frau, auf deren Kosten Simmons so manches Mal einen mehr als dummen Scherz fabriziert hatte. "Sheila?"
"Ja, gleich!"
Er grinste und drückte einen kleinen Knopf an seinem Helm. "He Toni, wenn Harding das sieht, wird sie sicherlich ausrasten!"
"Also ich weiß nicht, was ich davon halten soll." Larssen ging um den Organismus herum und schüttelte den Kopf. "Das ist doch absurd!"
"Warum?", fragte Simmons und kicherte gehässig. "Es ist schließlich außerirdischen Ursprungs. Wir haben es hier mit der billiardenfach vergrößerten Eizelle von E.T. zu tun."
"Hör auf damit, Matthew!", sagte die junge Frau verärgert.
"Vielleicht ist es sogar deine, Toni!", schwadronierte Simmons, untermalt mit wichtigtuerischen Gesten. "Woher willst du wissen, dass du nicht von glatzköpfigen Aliens gegen deinen Willen entführt worden bist, und diese dich in anschließenden ausschweifenden Weltraumorgien mit fünf riesigen, bunt angemalten Doppelpenisen befruchtet haben?"
"Du bist ein Arschloch, weißt du das?", giftete Larrsen zurück und versuchte dabei, nicht ihre Fassung zu verlieren.
"Oh! Sie nennt mich ein Arschloch! Das muß der Nachwelt erhalten bleiben!"
"Schluß jetzt, verdammt!" Harding war die Leiter hinuntergestiegen und stand nun hinter den beiden. Sie warf Toni einen tröstenden Blick zu. "Matthew, manchmal können Sie echt zum Kotzen sein, wirklich!" Harding betrachtete den Organismus. "Okay, was ist passiert?" Kaum hatte sie die Frage gestellt, sah sie es auch schon. "Großer Gott!"
"Der hat damit nichts zu tun", murmelte Simmons und beugte sich etwas nach vorn, Richtung Organismus. "Schon toll, wie alles perfekt läuft, was?"
Wütend winkte Harding ab. "Das konnte doch keiner ahnen."
"Aber rechnen konnte man damit, Sheila."
"Ach..." Ratlos sah sie zu der neuen Öffnung, die sich gebildet hatte. "Vielleicht liegt es am inneren Druck?" Plötzlich, einfach so, bewegte sich der Organismus. Es war nur eine kurze Bewegung gewesen, eine leichte Verschiebung um höchstens ein Grad nach links. "Habt ihr das eben auch gesehen?", fragte sie entsetzt. Simmons und Larssen sagten nichts, standen mit offenen Mündern da und zuckten hilflos mit den Schultern. 'Du mußt ruhig bleiben!', befahl sich Harding. "Okay, ich werde Brody in Kenntnis setzen."
Müde trank Brody einen großen Schluck Kaffee. Unglücklich sah er abwechselnd zu Harding und auf die Digitalausdrücke der Kameras. "Und wann ist es passiert?" Harding sagte nichts, lächelte ihn nur verlegen an. "Verstehe..." Das schrille Klingeln des Telefons hatte ihn aus einem unruhigen Schlaf geweckt. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er die Orientierung wieder gefunden hatte und registrierte, wo er sich befand. Und vor allem: Warum er sich hier befand. Tallington. Irgendwo an der Grenze zu Kanada. Hellwach wurde er, als ihm Harding mit kurzen, präzisen Sätzen mitteilte, was geschehen war. "Fünf Minuten!", hatte er in den Hörer gebrüllt. Nun saß er Harding gegenüber. "Gut, lassen Sie mich zusammenfassen, Sheila." Brody stellte die Tasse auf den Tisch, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Also, E.T. knallt auf die Erde und schrumpft dabei von der Größe eines Einfamilienhauses zu einer runden Kugel, die einen Durchmesser von knapp drei Metern hat, richtig?"
"Richtig", sagte Harding leise.
"Die Oberfläche war anfangs glatt, kräuselte sich jedoch nach relativ kurzer Zeit. Dadurch kam es zu einer Oberflächenspannung, deren Folge es war, dass die Kugel an einigen Stellen aufbrach und Gas ausströmte, richtig?" Süffisant grinsend wartete er Hardings Antwort ab.
Verbitterte nickte sie. "Richtig...", antwortete sie kaum hörbar.
Brody seufzte. "Dann entnahm ihr Team Proben, sowohl von der Oberfläche, als auch aus dem Inneren. Es stellte sich heraus, dass der Meteorit in Wahrheit ein Organismus war..." Er tippte auf eines der Fotos auf dem Tisch. "Und ist!" Brody zündete sich eine Zigarette an. "Dann kommt ein Stuff-Seargent auf die hirnrissige Idee, sich das Ding höchst persönlich anzusehen, ohne entsprechenden Schutzanzug. Unsere Sicherheitsmaßnahmen waren zu diesem Zeitpunkt also mehr als katastrophal, richtig?"
"Hören Sie auf, Arthur!"
"Ich denke nicht daran!" Geradezu provozierend lässig aschte der Colonel in die Tasse ab. "Glücklicherweise stellt sich heraus, dass das Gas offensichtlich ungefährlich ist. Grisham geht es gut, und aus der Umgebung ist auch nichts bekannt, denn immerhin ist nach den Schätzungen vor unserer Ankunft eine beachtliche Menge Gas aus dem Organismus ausgetreten."
Harding schluckte und versuchte, gute Miene zum schlechten Spiel zu machen, was Brody mit ihr betrieb. 'Das Arschloch tut so, als ob ich allein an allem Schuld wäre!' Sie griff nach der Packung Zigaretten, die der Colonel auf den Tisch gelegt hatte, und nestelte umständlich eine heraus. "Bitte, Arthur! Können wir uns das nicht ersparen?"
"Nein!" Er schob ihr das Feuerzeug rüber. "Was denken Sie? Was soll ich Trigger erzählen? Was diesem Benton? Hm? Das Ding hat sich bewegt, Sheila! Verdammt nochmal! Es ist nicht tot!"
Zitternd zog sie an der Zigarette. "Ob es noch lebt, können wir so schnell nicht sagen. Vielleicht ist es wie mit dem Gasaustritt."
"Sie meinen reflexbestimmt?" Brody lachte laut auf. "Ich bitte Sie!"
"Warum denn nicht?"
"Ich werde jetzt Colonel Brock wecken lassen und ihn über die neuen Geschehnisse unterrichten. Bis dahin wird das Zelt geräumt und dicht gemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine." Fragend sah er sie an.
Harding nahm einen letzten Zug und warf die Zigarette in die Tasse von Brody. "Schon klar, Colonel. Was ist mit Grisham?"
"Na, Sie können ja Fragen stellen!", brummte Brody genervt. "Was glauben Sie wohl, hm?"
Nervös betrachtete Harding ihre gelblichen Fingerkuppen. "Ja, ich weiß..."
Ziellos war er durch die menschenleeren Gänge gelaufen, die ihn, obwohl sie hoch waren, eher an ein U-Boot, als ein Gebäude erinnerten. Sie waren schmal, Benton hatte Mühe, keinen klaustrophobischen Anfall zu bekommen, wie es manchmal in Fahrstühlen passierte, wenn mehr als vier Menschen um ihn herum waren. Es wunderte ihn, dass er keinen Menschen traf. 'Egal, wo sich die Soldaten, Medizinier und sonstwer aufhalten, sie sind leise. Oder schlafen sie schon? Alle?' Irgendwann war ihm klar geworden, dass er nach der Quelle des Hämmerns suchte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, rötliches Licht tauchte die endlos scheinenden Gänge in eine unangenehme Atmosphäre, jeder Schritt hallte laut, metallisch, obwohl doch der gesamte Komplex aus einem neuartigen Plastikgemisch konzipiert war. Callebs Hände zitterten. Er gähnte ununterbrochen und bei jedem vierten Schritt, den er ängstlich tätigte, überkam ihn ein Würgegefühl. Er keuchte, japste nach Luft, versuchte, sich nicht zu übergeben. Mit jedem Schritt wurde das Hämmern lauter und lauter, die Angst größer und größer. Sein gesunder Menschenverstand und die damit vorhandene Fähigkeit, Situationen abschätzen zu können, waren draußen, außerhalb von Ground Zero, völlig normale Eigenschaften für ihn. Doch hier, in diesem Geschlängel aus Gängen, Abschnitten und unheimlicher Verlassenheit, fehlten sie ihm, konnte er sie nicht einsetzen. Seit sie Ground Zero und den Gebäudekomplex betreten hatten, fühlte sich Benton hilflos, wie ein wenige Wochen altes Baby, welches laut nach seiner Mutter schrie, aber keine Zuwendung bekam. Plötzlich war der Gang zuende. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, und er war sicher, sich hoffnunglos verlaufen zu haben. Eine kleine Tür lag vor ihm. Zögernd legte er die Hand auf die Türklinke. "Das ist doch alles Scheiße!", fluchte er leise. Er rechnete nicht damit, dass die Tür offen war. Behutsam drückte er die Klinke etwas nach unten, ließ los und ging einen Schritt zurück. Lautlos öffnete sich die Tür. Im selben Moment hörte das Hämmern auf. Benton legte den Kopf etwas quer und sah ratlos zu der Tür, die knarrend stehenblieb. Dann holte er tief Luft, seufzte kurz und ging in den Raum, der sich hinter der Tür befand. Es war kein Raum, wie er schnell feststellte. Eher noch ein weiterer, geringfügig geschwungener Gang. 'Lauter Gänge! Großer Gott! Das alles hier besteht aus unendlich vielen Gängen!' Er malte sich aus, wie irgendwann der Gang eine komplette Runde absolviert hatte, und wieder hier, wo er jetzt stand, endete. "Und neu anfängt. Runde um Runde... Es muß riesig sein!" Und dann sah er eine kleine Spinne, die an der grauen Plastikwand herunterkrabbelte und in einer winzigen Ritze verschwand. Es war das erste lebende Tier, was er seit seiner Ankunft in Tallington gesehen hatte. Zehn Meter von seinem Standpunkt entfernt, rechts gelegen, entdeckte Calleb eine weitere Tür. 'Was ist das hier?' Er erinnerte sich daran, wie sie mit dem Jeep zum Gebäude gefahren waren. Und da war dieses... 'Sollte es wirklich wahr sein?' Er hatte die Tür erreicht und es wunderte ihn nicht, dass auch diese nicht verschlossen war. Dieses Mal mußte er sich etwas anstrengen, um die Tür zu öffnen, da sie ein wenig klemmte. Und dahinter? Ein weiterer Gang. Benton bemerkte Staubschichten auf dem Boden. Wieder ein geschwungener Gang, der sich kaum merkbar krümmte. Und eine weitere Tür. Dreißig Meter entfernt, links gelegen. 'Dahinter ist es!', dachte Benton grimmig. 'Der Organismus! Nur noch diese eine Tür!' Wie aus heiterem Himmel war seine Angst verschwunden. Ihn trieb nur noch das Verlangen voran, endlich das Ding zu sehen, das verantwortlich für sein Dasein hier in Tallington war. Es zischte, als er die dritte Tür öffnete. Er spürte einen äußerst starken Luftsog, dachte sich aber nichts weiter dabei.
Brock vermied es, Brody direkt anzureden. Die beiden gingen zügig durch die schmalen Gänge. "Ich weiß nicht, wo Benton ist", murmelte er.
"Schon klar." Brody zeigte keinerlei Anzeichen von Unzufriedenheit. "Tat das Bier wenigstens gut?", wollte er wissen.
"Jetzt hören Sie um Himmelswillen schon auf damit, Arthur!" Brock blieb stehen. "Jetzt hören Sie mal zu, okay?"
Mit funkelnden Augen starrte Brody Brock an. "Ja? Was denn?"
"Wo ist Harding?"
"Bei Grisham."
"Wissen Sie schon, was Sie Trigger mitteilen wollen?"
Lächelnd schüttelte Brody den Kopf. "Alle, die nicht in das Zelt gehören, sind draußen. Nur noch Personal, was wirklich gebraucht wird. Rings um den Komplex gilt höchste Alarmbereitschaft. Conrad, das Ding lebt! Da kann Harding sagen, was sie will."
"Sie haben meine Frage nicht beantwortet!", sagte Brock und runzelte die Stirn.
"Und Sie haben zuviel getrunken, Conrad!" Brody verzog das Gesicht. "Man kann es riechen. Sie sollten wissen, wann man aufhören sollte."
Brock winkte ab. "Ersparen Sie sich das, okay? Was ist nun mit Trigger?"
"War das wirklich nötig?"
"Bitte! Ersparen wir uns das!"
Brody zuckte mit den Schultern. "Von mir aus." Und dann, als ob nichts passiert wäre: "Ich habe entschieden, dass erst einmal nichts nach draußen gelangt."
Das war vernünftig. Solang man nicht einhundert Prozent Klarheit besaß, brachte es nicht viel, Meldung zu machen, um so möglicherweise für noch mehr Chaos zu sorgen.
"Alle haben sich erst einmal im großen Speiseraum versammelt", fuhr Brody fort. Sie erreichten eine kleine Schleuse. Er beugte sich etwas runter und sah zu einem Sensorenfeld. Eine orangefarbene Linie glitt stumm über die Anzeige. Es piepste, und die Schleuse öffnete sich. "Die Zehn-Meilen-Zone ist abgeriegelt. Den Luftraum über und um Tallington kontrollieren meine Einheiten." Er ging als erster durch die Schleuse, dann folgte ihm Brock.
"Was genau ist eigentlich passiert?", wollte Conrad wissen. Sie befanden sich nun in einer schmalen Kammer.
"Holen Sie tief Luft!", befahl Brody. "Das Filtersystem hier ist sehr streng. Gleich werden wir eine zweite Kammer betreten, ähnlich wie diese. Dort liegen Schutzanzüge für uns bereit."
"Heißt das, wir sind auf dem Weg zum Organismus?"
"Selbstverständlich!" Brody lächelte nervös. "Was dachten Sie denn?" Er deutete auf einen kleinen Knopf neben sich. "Okay, auf Drei, Colonel!"
Brock nickte und holte tief Luft.
"Eins... Zwei... Drei!", rief Brody und drückte den Knopf.
Aus versteckten Düsen in den Plastikwänden strömte Gas, das wie schmutziger Nebel aussah.
Brock schloss die Augen. Die ganze Zeit, während sie auf dem Weg zum Zelt waren, überlegte er schon: 'Wo, verdammt, steckt Calleb Benton?'
Die Erde rings um den Organismus war schwarz und veränderte ihre Farbe, je weiter man sich entfernte. Unmittelbar dort, wo die Wand sich in die Erde gebohrt hatte, waren kleine Kieselsteine zu sehen, die grünlich leuchteten, die feine Erde war hier beinahe hellgrau. Am äußersten Rande des Zeltes, am Kraterende, war sie fast schneeweiß. Der Organismus lag vollkommen frei und wurde von acht Stahlträgern abgestützt. Feine Risse, die bei genauem Betrachten fast geometrische Züge aufwiesen, zogen sich über die gekräuselte Oberfläche, aus denen unablässig Gas strömte und von der knapp drei Meter oberhalb gelegenen Saugvorrichtung in die mit eindeutigen Markierungen entsprechenden Tanks und Behälter geleitet wurde. Während die Oberfläche dunkel und schmutzig aussah, waren die Risse hell und leuchteten. Im Durchmesser war der kugelförmige Organismus drei Meter und wog gut zehn Tonnen, wie Messungen ergeben hatten. An den Stützen hingen unzählige Sensoren, deren dünne Kabel zu zwei Containern führten, die zwanzig Meter entfernt aufgestellt waren. Es handelte sich dabei um die Forschungslabore, die ununterbrochen Meßdaten auswerteten. Die neue Öffnung, die sich gebildet hatte, unterschied sich wesentlich zu den bisherigen Rissen. Sie wirkte grob, war viel länger und gab mehr vom Inneren preis. Sie wirkte auch nicht mehr so geometrisch, fast willkürlich. Man konnte mit bloßem Auge erkennen, was Mikrokameras auf Computermonitoren längst gezeigt hatten. Eine starre, zähe Masse, die Gas nach außen pumpte. Der Organismus bewegte sich erneut, eine der Stützen brach zusammen, und verschreckt wiechen die Menschen, die sich noch im inneren Zelt befanden, zurück.
12
Erklärungsversuche
18. Januar 2015
So etwas hatte er noch nie gesehen. "Darf man es berühren?" Er wartete die Antwort nicht ab und legte behutsam eine Hand auf die Oberfläche des Organismus. Er glaubte, durch den Schutzanzug hindurch, eine gewisse Wärme zu spüren. Grinsend sah Brock zu den anderen. "Es fühlt sich... merkwürdig an", murmelte er und sah gespannt dem Gas nach, wie es nach oben strömte, direkt in die dünnen Rohre der Saugvorrichtung hinein. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte. Interessiert beugte er sich etwas nach vorn, um den großen Riss genauer zu betrachten. "Und der hier hat sich erst vorhin geöffnet?"
"Sir, ich..." Simmons lächelte gequält. "Vielleicht sollten Sie nicht zu nahe rangehen."
'Wozu trage ich denn diesen unbequemen Anzug?', dachte Brock. "Der Anzug schützt mich doch!", rief er laut. "Oder etwa nicht?"
"Natürlich!" Harding war aus dem Container, in dem Grisham lag, zurückgekehrt. "Trotzdem möchte ich Sie bitten, einen gewissen Abstand zu halten." Sie nickte Brody zu. "Es ist offiziell..."
"Was?", schrie dieser. "Weiß man, was passiert ist?"
Harding hob die Hände etwas nach oben. "Nein, das meinte ich nicht. Das Gas, was austrat, bevor wir kamen. Es gibt keine Meldungen über plötzliche Seuchen oder sonstiges."
"Ach..." Seufzend ging Brody in die Hocke und fuhr mit der Hand über die dunkle Erde. "Das kann man doch noch gar nicht abschätzen." Er blieb in der Hocke und starrte zu dem Organismus. "Was, wenn die roten Punkte auf Grishams Haut plötzlich eine Reaktion verursachen? Sich ausbreiten. Wissen Sie, ich denke da an Pestbeulen..."
Schallend lachend fiel ihm Harding ins Wort: "Pest? Ich bitte Sie!"
"Was für Punkte? Ist Grisham bei Bewußtsein?", fragte Brock. Er war sich nicht sicher, ob er die Frage schon einmal gestellt hatte. "Kann man mit ihm reden?"
"Koma", murmelte Larssen leise und sah zögernd zu Simmons und Harding.
"Hm..." Brock beugte sich zu Brody herab. "Arthur?"
Wie aus einem Tagtraum erwacht, zuckte der Colonel zusammen und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ächzend richtete er sich auf. "Diese Anzüge sind der reinste Horror! Sie drücken in den Kniekehlen! Conrad, haben Sie eine Frage?"
'Ja, verdammt, die habe ich. Wo ist Benton!' Brock räusperte sich und ballte ein paar mal seine Hände zu Fäusten. "Ich habe den Eindruck, dass hier niemand so richtig weiß, was eigentlich geschehen ist und geschehen wird, bei allem Respekt der bisher erbrachten Leistungen." Es war ihm nicht leicht gefallen, das zu sagen, aber der Blick Brodys, dessen Augen, die vor langer Zeit einmal vor Tatendrang gefunkelt hatten, sagten alles. 'Er hat sich schlichtweg übernommen', dachte Brock traurig. Larssen und Simmons drehten sich betreten um und tuschelten miteinander, so leise, dass man es trotz der hochwertigen Mikrofone nicht verstehen konnte. Gut möglich, dass sie aber auch einfach nur einen entsprechenden Knopf gedrückt hatten. "Arthur?"
"Also gut!" Brody streckte sich und holte tief Luft. "Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?"
"He, einen Moment mal!", rief Harding mißtrauisch. "Was soll das?"
Brock nickte. "Sofortige Evakuierung von Ground Zero. Die Stealths könnten in weniger als einer Stunde einsatzbereit sein, vorausgesetzt, man folgt meiner Empfehlung."
"Stealths?" Harding stapfte auf Brody zu und packte diesen am Arm. "Wovon redet der Mann?" Der sagte kein Wort und scharrte unschlüssig mit dem Fuß auf dem Boden herum. "Das gibts doch nicht!", begriff Harding und schüttelte ungläubig den Kopf. "Das können Sie doch nicht tun, verdammt!"
"Sheila!"
"Nein, das können Sie nicht tun!"
"Sheila!" Conrad berührte sie sanft am Arm, zumindest bildete er es sich ein, sie in dem klobigen Anzug so zu berühren. "Wir wissen doch absolut nichts. Begreifen Sie das denn nicht? Niemand kommt hier weiter. Niemand weiß, ob das Gas wirklich ungefährlich ist." Er tippte sich auf die Brust. "Sehen Sie uns doch an. Wir tragen Schutzanzüge, obwohl gesagt wird, dass nichts passieren kann. In einem der Container liegt ein Mann im Koma, der unkontrolliert aus eigenem Verschulden mit dem Gas in Berührung kam. Großer Gott, ich will nicht wissen, wieviele Menschen jetzt bereits außerhalb von Ground Zero in Krankenhäusern behandelt werden, wo die Ärzte keinen blassen Schimmer über das Warum haben." Er deutete auf den Organismus. "Es ist nicht von hier! Es gehört nicht hierher!" Dann zeigte er auf Larrsen, Simmons, Brody, Harding und auf sich selbst. "Aber wir gehören hierher, Sheila. Ich bin der Meinung, dass die einfachste, unkomplizierteste Vorgehensweise die beste Entscheidung für diese Angelegenheit ist. Die bisherigen Erklärungen sind einfach zu dürftig, um die Operation weiterzuführen." Wieder sah er zu dem Organismus. "Es ist faszinierend, ohne Zweifel! Dennoch steht mein Entschluß. Colonel Brody muß nur noch sein Einverständnis geben und General Trigger benachrichtigen."
Brody nickte. "Von meiner Seite spricht nichts dagegen."
"Gut", sagte Brock zufrieden.
Sheila Harding war den Tränen nahe. "Hören Sie! Bitte hören Sie mir zu..." Weiter kam sie nicht.
"Ach du Scheiße!", schrie Simmons aufgeregt. Er zeigte mit dem Arm nach oben. "Das Gas!" Anstatt kontrolliert in die vorgesehenen Rohre zu strömen, schoss das Gas seitlich an den Rohren vorbei, glitt unheilvoll in einem steten Strom einem Punkt an der Wand des inneren Zeltes entgegen und verschwand in einer Öffnung, die sie noch nicht erkennen konnten.
Brock folgte dem Weg des Gases und erstarrte. "Benton...", flüsterte er und begann noch mehr zu schwitzen, als er es ohnehin schon tat.
Und plötzlich wechselte das auströmende Gas die Farbe. Aus einem sanften Grün wurde ein kaltes Blau.
13
Die Katastrophe
18. Januar 2015
Zuerst hatte er gebannt zu dem Organismus gesehen und war, so seltsam ihm das auch vorkam, ein wenig enttäuscht gewesen. Nichts weiter als eine Kugel mit Rissen, aus denen eine gasförmige Substanz entwiech, wie es auch in den Memos und Akten gestanden hatte. Die Menschen in den Schutzanzügen rings um den Organismus, ebenso die Container und die vielen Gerüste, Rohre und Kabel, nahm er erst nach und nach wahr. Als das Gas dann seine Richtung änderte, direkt auf ihn zukam, dabei seine Farbe wechselte, warf sich Benton auf den Boden, legte sich die Hände schützend über den Kopf und betete zu irgendeinem Gott, der sich gerade in der Nähe von Tallington befand. Das einzige Geräusch, das er hörte, war ein Pfeifen, wie, wenn man Türen und Fenster aufgelassen hatte und es dadurch zog. Dann wurde das Geräusch leiser. Benton hob seinen Kopf und blinzelte ein paar mal. Mit jedem Blinzeln wurde das blaue Etwas, was auf ihn zuschoss, größer, furchteinflößender. Er machte den Mund auf, um zu schreien, doch er verschluckte sich an dem Gas, was er hustend inhallierte. Panisch sprang er auf und klopfte mit den Fäusten gegen seine Brust, versuchte, das Gas aus sich hinauszupressen. Zwecklos. Ihm wurde schwarz vor Augen. Bevor er mit dem Kopf unsanft auf den harten Plastikboden des Gerüsts aufschlug und bewußtlos wurde, glaubte er, das leise und sanfte Hämmern erneut zu hören.
"Benton?" Brody riss Brock zu sich herum. "Es ist Benton?" Sein Gesicht spiegelte Entsetzen, Wut und Ratlosigkeit zugleich.
Brock schlug den Arm des Colonels weg. "Los jetzt!" Er deutete nach oben. "Wir müssen da hoch, zu Calleb!"
"Was ist mit dem Scheißgas?" Verzweifelt bemühte sich Brody, nicht völlig durchzudrehen. "Was ist eigentlich passiert? Wohin entweicht es?"
Es war Simmons der heftig keuchte, dennoch auch diesen Augenblick nicht ausließ, um möglichst witzig zu klingen. "E.T. flieht durch die Zwischentüren! Wenn der Spinner die Türen offen gelassen hat, dann verteilt sich das Gas im gesamten Komplex."
"Das Filtersystem!", wandte Brody ein.
"Vergessen Sie doch endlich das blöde Filtersystem, Colonel", sagte Harding verbittert. Auf dem kleinen Display an ihrem linken Arm begann es zu blinken. "Ich muß zu Grisham!" Wortlos stapfte sie zu der Leiter und kletterte aus dem inneren Krater heraus. Oben stand bereits Brock, der ihr hochhalf. "Danke, Conrad."
Brock schüttelte wütend den Kopf. "Was ist jetzt? Soll ich alleine dort hoch zu Benton klettern?" Bei dem Gedanken, eine gut dreißig Meter hohe Plastikleiter hinaufzuklettern, wurde es ihm etwas unwohl. 'Es ist Plastik, verdammt! Kein Eisen, kein Holz! Gottverdammtes Plastik!' "Brody, verdammt! Kommen Sie schon!" Erleichtert stellte er fest, dass sich der Colonel langsam in Richtung Leiter bewegte. Harding war im Container verschwunden, war bei Grisham. 'Das hat Zeit. Wichtig ist, dass diese Tür dort oben geschlossen wird!' Noch verschwendete er keinen Gedanken daran, warum es Türen gab, die sich einfach so öffnen ließen, durch die man einfach so direkt in einen eigentlich durch viele Maßnahmen streng gesicherten Quarantänebereich gelangen konnte. 'Später! Hat Zeit! Denk nicht jetzt, sondern später daran!'
"Conrad!" Schwerfällig kletterte Brody die Leiter nach oben.
"Warten Sie." Mit einem kräftigen Ruck half Brock dem Colonel, die letzten Sprossen zu meistern. Dabei sah er zu Simmons und Larssen. "Was ist mit Ihnen?" Und dann sah er, wie der Organismus sich bewegte, kaum merklich, nur, wenn man genau hinsah. Die Stützen begannen zu wackeln. "Los! Weg da, verdammt!" Alles was er sah, waren verständnislose Gesichter. "Verdammt! Die Stützen brechen auseinander!" Aber es war zu spät. Hilflos mußten er und Brody mit ansehen, wie die Stützen wie Streichhölzer zusammenknickten. Die schwere Kugel rollte vibrierend auf Simmons und Larssen zu, die einfach nur mit offenen Mündern und großen Augen ihr Ende erwarteten. "Verfluchte Scheiße!", brüllte Brock. Der Organismus rollte bis zum Rand des inneren Kraters und kam dort zum Stillstand. Rötliche Streifen, Reste von Schutzanzügen, sowie Fleisch- und Knochenstückchen schimmerten eigenartig zwischen den vielen Rissen. "Scheiße!"
"Oh Gott!" Brody deutete auf die Stelle, wo vor wenigen Augenblicken noch Larssen und Simmons gestanden hatten. "Sie sind tot... Sie sind tot!"
"Los jetzt!" Was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht mehr rückgängig machen. "Wir müssen diese Tür da oben schließen!" 'Du hast es mit Dilletanten zu tun! Eindeutig! Trigger hatte Recht gehabt!' Brock schleifte Brody zu der Leiter, die dreißig Meter nach oben führte, zu der Ebene, wo Benton bewußtlos auf dem Boden lag, und durch die offne Tür hindurch unkontrolliert Gas entwiech, in den restlichen Komplex, zu den anderen Menschen. 'Scheiße! Das ist nicht dein Tag!', dachte er grimmig. Und irgendwie auch verzweifelt.
MA hatte Meldung erstattet, wie sie es der Maschine befohlen hatte. Kaum hatte sich die Tür des Containers hinter ihr geschlossen, hörte sie, wie Brock panisch zu Larssen und Simmons schrie. Sie kämpfte, um nicht weinen zu müssen. Mit viel Anstrengung gelang es ihr, das elende Gefühl in ihr noch weiter hinabzuwürgen. 'Nicht jetzt! Nicht jetzt!' Harding hörte, wie die Luft abgesaugt wurde. "Was ist passiert, MA?"
"Normabweichende... Werte... Sheila... Harding..."
Vielleicht war ihr das vorher noch nie aufgefallen. Vielleicht war erst eine extreme Situation wie diese nötig. Die monotone Stimme des MA klang beängstigend. Kalt und unmenschlich. 'Es ist eine Maschine, verdammt!' Die kleine Schleuse öffnete sich. Schnell stieg sie in den anderen Raum. "Normabweichende Werte?", fragte sie unsicher. Dann stand sie auch schon an Grishams Bett. Sie versuchte zu schreien. Es gelang nicht. Grisham, urplötzlich aus dem Koma erwacht, versuchte es ebenfalls. Auch er hatte keinen Erfolg. Beide starrten sich an. "Großer Gott!", murmelte Harding und sah zu den kleinen Monitoren, deren Werte sämtliche Skalen sprengten. Sie mußte sich zwingen, den Mann zu berühren, der bewegungslos im Bett lag, nur mit seinen Augen rollte und verzweifelt versuchte, irgendeinen Laut zustande zu bringen. "Grisham, ich..." Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sowas hatte sie noch nie gesehen. 'Sowas hat bisher noch keiner gesehen!' Die kleinen roten Punkte auf Grishams Brust hatten sich verändert. Große, gelbliche Blasen, in deren Inneren eine wässrige Substanz zu erkennen war, drängten sich dicht an dicht und wurden alle zehn Sekunden größer. Aus Grishams Nasenlöchern und Ohren quoll in kleinen, stoßartigen Schwällen Blut. Die Fingernägel hatten sich schwarz verfärbt, er schwitzte aus allen Poren, und aus den Mundwinkeln glitt Speichel langsam um das Kinn herum zu seinem Hals herab. Plötzlich platzte lautlos eine der Blasen auf. Die Substanz, Harding stufte es sofort als Eiter ein, verschwand unter den anderen Blasen. Jedoch schwebte eine kleine Gaswolke Richtung Containerdecke. Das Gas sah genau so aus wie... "Oh Gott, nein!" Wie aus heiterem Himmel gingen nacheinander sämtliche Monitore aus. Harding drückte verschiedene Tasten. "MA! Analyse!" Die Maschine blieb stumm. "Scheiße! Scheiß Technik!" Sie sah zu Grisham. "Miles? Miles! Können Sie mich hören? Miles!" Keine Antwort, nur ein gequälter Gesichtsausdruck, der um Erlösung bat. "Ich..." Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Eine weitere Blase platzte auf. Dann noch eine. Und noch eine. Nach und nach platzten sie alle auf, verteilten grünlichen Eiter auf Grishams Körper und stießen kleine Gaswolken nach oben. Harding bemerkte, wie an den Stellen, wo die Blasen aufgeplatzt waren, sofort neue heranwuchsen. Und als ihr Schutzanzug mit dem Gas aus Grishams Körper in Berührung kam, als das Gas langsam den Stoff wegätzte, zu ihr drang, da gestand sie sich ein, den Widemaker-Organismus einhundertprozentig unterschätzt zu haben. Das elende Gefühl tief in ihr drinnen kam unaufhaltsam hoch. Harding beugte sich nach vorn und erbrach sich. Eine undefinierbare Masse glitt langsam an ihrem Visir hinab, klebte an ihrem Gesicht, stank. 'Oh Gott! Oh Gott!' Obwohl sie wußte, wie irrsinnig es war, löste sie mit zittrigen Händen den Verschluß und riss sich die Kopfbedeckung ab. Sie hustete schwer, bekam kaum Luft. Zufällig berührten ihre Finger Grishams Hand. Und in diesem Moment griff der Mann nach ihr, umschloss mit seiner Hand die ihre. "Miles...", flüsterte Harding. "Es tut mir so leid." Langsam kullerten Tränen über ihr schmales Gesicht. "Ich..."
"Harding! Was ist los bei Ihnen? Was geht da vor?"
Erschrocken zuckte sie zusammen. 'War das Brock?' Ihre Funkverbindung mit den anderen war immer noch aktiv. Hustend setzte sie sich zu Grisham und legte behutsam eine Hand auf dessen Schulter. Angeekelt sah sie zu dem Erbrochenen, was von innen am Visir hing, abtropfte, und einfach widerwärtig aussah. "Brock? Niemand darf diesen Container betreten!" Inzwischen war die Decke nicht mehr zu sehen. Eine hin und her wabernde Masse aus Gas schwebte über den beiden. 'Gas...', dachte Harding verbittert. 'Alles, nur nicht das! Du kannst es sehen, verdammt!'
"Sheila! Was ist da los!?"
Lächelnd schloss sie ihre Augen und sagte erneut mit fester Stimme, so gut sie es konnte: "Niemand darf diesen Container betreten!"
"Was soll das werden? Wollen Sie, dass er zerstört wird? Mit Ihnen?"
"Ja, Conrad. Das wäre eine gute Lösung." Sie schaltete die Verbindung zu den anderen ab, öffnete wieder die Augen und sah erst nach oben, und dann zu Grisham. Dessen Atmung war flacher geworden. Der Mann hatte Mühe, überhaupt richtig atmen zu können. Ihr kam die erschreckende Erkenntnis, dass auch sie so wie Grisham enden konnte. Womöglich auch würde. Harding war nicht mehr ein fremder, abgeschotteter Organismus in einem Raum, sie hatte sich selbst diesem kleinen Universum geöffnet. Sie atmete die selbe Luft wie Grisham ein. 'Oder wird es noch schlimmer werden? Gott, ich kann seinen Schmerz fühlen!' Müdigkeit überkam sie. "Miles? Wenn Sie wollen, tue ich es." Kaum merklich bewegte sich Grishams Kopf. "Gut." Sie nickte ihm zu. "Ich werte das als ein Ja." Langsam stand sie auf und wankte zu einem Glasschrank. "Diese Müdigkeit, Miles... Warum nur bin ich plötzlich so müde?" Nach vier Versuchen hatte sie es geschafft, die Tür des Schranks zu öffnen. In Augenhöhe lagen mehrere Verpackungen, die Spritzen mit einem tödlichen, schmerzfreien Gemisch enthielten. "Also gut, Miles." Sie nahm eine Verpackung, öffnete sie und hielt eine Spritze in der Hand. "Bringen wir es hinter uns." Sie begann zu torkeln, als ob sie zuviel getrunken hatte. "Ich... Miles? MA?" Die Wolke aus fremdartiger Substanz über ihr hatte sich verändert. Kein Grün mehr, sondern bedrohliches Rot. "Wie... Wie Blut!" 'Merkwürdig, da draußen war es eher bläulich...' Dann hatte sie endlich wieder das Bett von Grisham erreicht. Der Mann atmete nicht mehr. Mit der Spritze in der Hand versuchte Harding, wenigstens einigermaßen rationell zu handeln. Sie spürte mehrere Stiche auf dem Rücken und zwischen ihren Brüsten. 'Es geht los. So schnell..." Grisham war tot, dennoch quollen mehr und mehr Blasen aus seinem Körper hervor, platzten auf und verströmten eine ('Hab ich mich so täuschen können?') mehr als schädigende Substanz. Es bereitete ihr Mühe, die richtige Taste zu drücken, um den Funkkontakt mir Brock wieder herzustellen. "Conrad?" Es knisterte.
"Ja?"
"Wo sind Sie?"
"Noch fünf Meter. Dann sind wir bei Benton."
"Ja..." Sie hörte, wie die beiden Männer vor Anstrengung keuchten.
"Sheila? Was ist passiert?"
Was sollte sie sagen? "Ich hoffe, Sie schaffen es, Conrad. Aber vermutlich ist schon zuviel Gas... Substanz, oder was auch immer, nach draußen entwiechen. Alles zu spät." Ein heftiger Schmerz ließ sie zusammenzucken und aufschreien. Harding fiel vom Bett und stieß dabei mit dem Kopf gegen die eckigen Kanten der MA-Apparatur.
"Sheila? Sheila!"
Bewußtlos lag Sheila Harding auf dem Boden und träumte davon, mit ihren Hunden George und Sandy im Park herumzutollen. Über ihr brodelte eine Substanz, die mehr und mehr den Raum für sich vereinnahmte.
Mit letzter Kraft zog sich Brock auf die Ebene. "Sheila, verdammt!", keuchte er und schüttelte den Arm. Möglich, dass das Funkgerät kaputt war. Aber dann würde er nicht Brody hören, der fluchend die letzten Sprossen der Treppe absolvierte. Hatte sie es etwa wieder abgeschaltet? Aber woher kam dann das flache Atemgeräusch? "Sheila!"
Brody fiel neben ihm erschöpft auf die Knie. "Verfluchte Scheiße! Das war die reinste Hölle, Conrad!" Dann deutete er nach vorn. "Okay, ich werd die Scheißtür zumachen. Schauen Sie nach Benton!"
"Sie antwortet nicht", sagte Brock leise.
"Ja." Brody seufzte. "Darum kümmern wir uns später, okay?"
Aufmerksam betrachtete Conrad den Colonel. 'Hat er auf den letzten Metern wieder zu alter Stärke gefunden?' Er nickte und stand auf. "Okay." Während Brody zur Tür lief, schleppte er seinen müden Körper zu Benton. Plötzlich fiel ihm ein, dass heute der 18. Januar war. "Bullshit!", murmelte er.
"Was?", fragte Brody, der kurz entschlossen durch den Gasstrom sprang und die Tür unter großer Kraftanstrengung schloss. Augenblick verpuffte die blaue Substanz. "Wow!" Dann bemerkte er, wie der Stoff seines Anzuges sich aufzulösen begann. Langsam, kaum merklich, dennoch er sah es. "Oh Gott! Nein! Nicht doch!"
Brock hatte bei Benton den Puls gefühlt und die Atmung kontrolliert. Alles sehr langsam, sehr flach. Aber der Mann lebte noch. Er sah zu Brody, der die Arme ausgestreckt hatte und den Kopf schüttelte. Schnell sah er, was passiert war. "Ziehen Sie ihn aus, Arthur!"
"Sind Sie verrückt!"
"Calleb ist auch nichts passiert", sagte Brock ruhig und betete, dass er mit dieser Vermutung nicht gänzlich falsch lag.
Das Argument zog. Hastig öffnete Brody die vielen Verschlüsse und beeilte sich, den Anzug auszuziehen. Dabei vermied er, so gut es ging, die Oberfläche des Stoffes zu berühren. "Es reagiert also mit den Anzügen", sagte er, stieß den Anzug mit der Fußspitze weg und ging von der Tür zum Rand der Ebene und sah zu dem Organismus. "E.T. entpuppt sich als ein teuflischer Gegner, Conrad."
"Nicht nur teuflisch, sondern auch unberechenbar." Brock wußte nicht so recht, was er mit Benton tun sollte. Ihn liegenlassen und Hilfe holen? Versuchen, ihn aus seiner Ohnmacht zu wecken? "Die letzten Minuten haben gezeigt, dass wir völlig ahnungslos waren und sind. Harding erwähnte das Wort Substanz. Sie sprach nicht mehr von Gas."
"Ja, habe ich mitbekommen." Brody hockte sich zu Conrad. "Das Problem ist, dass wir hier abgeschottet sind. Die anderen da draußen sind allesamt im kleinen Hangar, im Speiseraum."
"Wie?"
"Keiner da, Conrad. Evakuierungsstufe Zwei bedeutet, dass sich jeder von seinem Posten zurückzieht, in den großen Speiseraum. Platz ist da reichlich vorhanden." Er lächelte gequält. "Im Nachhinein war das natürlich eine mehr als blöde Anweisung."
Brock nickte und sah zu Benton. "Das können Sie laut sagen. Abgesehen von Harding im Container und uns beiden sind alle anderen also im Speiseraum?"
"So ist es, ja."
Er konnte nicht anders, obwohl ihm nicht danach zumute war. Brock begann zu lachen. "Großartig!", prustete er. Etwas berührte seine Hand. Bentons Finger tasteten sich über seinen Handrücken. Erstaunt sah er mit an, wie Calleb Benton langsam die Augen aufschlug und nach Luft schnappte. "He, Calleb!", sagte er sichtlich erleichtert. "Da sind Sie ja wieder."
"Gott, was ist passiert?" Mühsam richtete sich Benton mit Hilfe von Brock auf. Er sah abwechselnd zu den beiden Männern. "Warum sind Sie in einem Schutzanzug, und Sie nicht?"
"Später!", sagte Brody gereizt. "Sie, Sir, sind uns eine Menge Antworten schuldig!"
Stöhnend hielt sich Benton den Kopf. "In mir dröhnt und hämmert es. Ich habe schlimme Kopfschmerzen."
"Das ist ja auch kein Wunder!", blaffte Brody ihn an. "Haben Sie eigentlich Ihren bürokratischen Verstand verloren?"
"Ganz ruhig, Arthur." Brock half Benton aufzustehen. Kopfschüttelnd sah er ihn an. "Menschenskind, Calleb! Wissen Sie eigentlich, was Sie angerichtet haben?"
"Ich? Was... Wovon zum Teufel reden Sie?" Bentons Gesichtsausdruck verriet, dass er wirklich nicht wußte, was er getan hatte. "Ich lag im Bett und hörte Sie nebenan schnarchen. Die dünnen Plastikwände taugen nichts. Und nun..." Er sah sich um. "Großer Gott, ich bin ja im Zelt!" Er riss sich von Brock los und ging leicht torkelnd zum Rand der Ebene. "Wahnsinn!", flüsterte er, als er den Organismus sah. "Ist das der außerirdische Organismus?"
Brody machte eine eindeutige Geste zu Brock, die besagte, dass er sich gefälligst um den offenbar übergeschnappten Calleb Benton kümmern sollte. Dieser nickte. "Okay." Dann ging der Colonel zu Benton, stellte sich neben ihn und sagte leise: "Glauben Sie mir, Calleb, Sie möchten nicht wirklich wissen, was Sie getan haben." Dabei sah er wie Benton zum Organismus. Und stutzte, krallte seine Finger fest um das dünne Geländer. "Arthur!"
"Was?"
"Kommen Sie her und sehen Sie sich das an!"
Brody stellte sich zu den beiden. "Und?"
"Sehen Sie es denn nicht?", fragte Conrad erstaunt und deutete auf den Organismus. "Es hat aufgehört!"
"Sie haben Recht." Aus dem Organismus strömte kein Gas mehr.
"Und es schrumpft", bemerkte Benton trocken.
"Was?" Angestrengt musterte Brody die Kugel. Tatsächlich, sie wurde kleiner. "Was geht hier vor?"
Brock zuckte mit den Schultern. "Ich würde sagen, wir sind Zeuge, wie es stirbt."
Benton räusperte sich. "Würde mir jetzt bitte jemand sagen, was passiert ist!" Er schloss die Augen. "Da fällt mir ein... Was Sie über Tunguska gesagt haben, Colonel."
"Von was reden Sie, Benton?"
"Ein Vulkan, wissen Sie?" Lächelnd starrte Benton nach unten. "Es war wohl ein Vulkan, und nicht ein Objekt aus dem Weltall."
"Wissen Sie was?", knurrte Brody zähneknirschend und kratzte an seinen Händen. "Wenn wir hier jemals lebend rauskommen, trete ich Ihnen solange in Ihren fetten Arsch, bis ich keine Lust mehr habe, in Ihren fetten Arsch zu treten!"
14
Ausnahmezustand
18. Januar 2015
Etwa fünf Minuten später, nachdem er von Brock und Brody alles erfahren und sich dabei mehrmals übergeben hatte, kratzte sich Benton nachdenklich am Kopf, sah die dreißig Meter hinab, dann zu der dünnen Plastikleiter, und anschließend zu den beiden Männern. "Okay, nur eine Sache, Gentlemen. Warum gehen wir nicht durch diese Tür da?" Er zeigte auf die Tür, durch die er das innere Zelt betreten und somit die Katastrophe ausgelöst hatte.
"Sie läßt sich von innen nicht öffnen", antwortete Brody und sah dabei verunsichert auf seine Hände.
"Was ist los?", fragte Brock und ging zu ihm.
Brody schüttelte den Kopf. "Ich... Ich weiß nicht." Kleine, rote Punkte waren zu sehen. Und sekündlich wurden es mehr. "Wie bei Grisham", murmelte er leise.
Das überraschte Brock. "Was haben diese roten Punkte zu bedeuten? Sind sie für das Koma verantwortlich?" Er bekam keine Antwort. "Arthur!"
"Ich weiß es nicht, okay?"
"Gott..." Brock winkte ab und sah zu Benton. "Gut, wir müssen jetzt erst einmal von dieser Ebene runter. Warum gibt es hier eigentlich keinen Lastenaufzug? Ach... Vergessen Sie einfach diese Frage. Wenn wir unten sind, schauen wir nach Harding. Arthur?"
Brody nickte. "Ja, okay."
"Kommen wir in den Container rein, in dem sich Harding und Grisham befinden?"
"Was ist denn nun mit Harding eigentlich geschehen?", fragte Benton.
Brock mußte sich zwingen, ruhig zu bleiben. 'Liegt es daran, dass die beiden der Luft hier drinnen ungeschützt ausgesetzt sind? Es muß, kann nur daran liegen.' "Eines nach dem anderen!" Und dann hörte er plötzlich eine fremde Stimme.
"Hallo? Kann mich irgendjemand hören? Doktor Harding? Colonel Brody?"
Brock zuckte zusammen und deutete den beiden anderen an, ruhig zu sein. "Hier spricht Colonel Conrad Brock. Wer ist da?" Es gab ein kurzes Knacken.
"Oh, Colonel Brock. Wo sind Sie?"
"Ich bin mit Calleb Benton und Colonel Brody im inneren Zelt. Wer spricht da!"
"Private David Lean, Sir."
"Lean, okay. Wo sind Sie?"
"Sir, hier herrscht Chaos!"
"Wo sind Sie!"
"In einem Nebenraum, gleich am großen Speisesaal, Sir. Sir, ich weiß nicht, was..."
Brody und Benton sahen ihn fragend an, aber Brock schüttelte den Kopf. "Lean, was ist los bei Ihnen?"
"Ich weiß es nicht, kann es nicht genau beschreiben, Sir. Aber einige sind schon am Durchdrehen, andere sitzen apathisch da... An der Decke hat sich eine Substanz gebildet, es sieht aus wie... wie lebendes Blut. Sir, ich..."
Plötzlich war der Empfang weg. "Lean! Lean!" Er schlug gegen die Stelle des Helmes, wo das Funkgerät eingelassen war. "Scheiße!"
Gerade noch rechtzeitig konnte sich Private David Lean ducken, um der Eisenstange zu entgehen. Palmer, einer aus seinem Zug, sah ihn grinsend an. 'Gott! Er sieht aus wie Jack Nicholsen in Shining...' Panisch kroch Lean von der Tür weg, nach hinten, bis die Wand des Nebenraumes ihn stoppte. Hinter ihm kam Palmer torkelnd näher. Die Eisenstange schleifte am Boden.
"David, mein Freund!", schrie Palmer und blieb stehen. "Wow! Was ist das hier für ein Raum?" Staunend sah er sich um und fing an zu lachen, als er kitschige Gemälde mit Motiven aus der griechischen Sagenwelt entdeckte. "So... ein... Bullshit!" Dann sah er wieder zu Lean. "He, David. Keine Ahnung, was für eine Scheiße hier abläuft, aber eines weiß ich mit Sicherheit..." Er zielte mit der Eisenstange auf den jungen, vor Angst zitternden Mann. "Du wirst nun sterben. Möglich, dass wir alle draufgehen in diesem verfluchten Ground Zero Krater, aber du solltest wenigstens als einer der ersten krepieren!" Mit wackligen Beinen ging er auf David zu.
Als Palmer beeindruckt sich den Raum angesehen hatte, wäre David beinahe "Das sind die Offiziersunterkünfte" herausgerutscht. 'Denk nach! Denk nach!" Palmer, ein bulliger Typ, der bereits in der Grundausbildung mehr durch Schlägereien, als durch Leistungen aufgefallen war, befand sich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Die Eisenstange in seiner klobigen Hand wirkte mehr als bedrohlich. Sie wirkte, wie von Palmer angekündigt, tödlich. 'Denk schneller nach! Schneller! Lass dir was einfallen!' Verzweifelt sah er sich um, auf der Suche nach irgendeinem Gegenstand, der stark genug war, der Stange Stand zu halten.
Dann war Palmer da und holte zum finalen Schlag aus. "Jetzt mach ich dich fertig, du Drecksau!" Brüllend ließ er die Stange niedersausen, in der Hoffnung, Blut und Gehirnmasse durch die Luft fliegen zu sehen.
Lean sah die Stange auf sich zukommen, rollte sich blitzschnell zur Seite, trat Palmer gegen das Schienbein und versuchte, schnell auf die Beine zu kommen.
"Mistkerl!" Wütend rüttelte Palmer an der Eisenstange, die sich fest in der Plastikwand verkeilt hatte. "Verflucht!"
"Arschloch!" Lean hatte sich einen Stuhl geschnappt und drosch damit auf Palmer ein. Es dauerte nicht lange, bis dieser zusammensackte und reglos liegen blieb. Eine Blutlache bildete sich an seinem Hinterkopf und wuchs schnell zu einer großen Pfütze. "Scheiße..." Keuchend warf er die blutverschmierten Reste des Stuhls weg und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Draußen hörte er Schreie, hörte, wie Sachen zu Bruch gingen. Die rote Substanz war nun auch an der Decke dieses Raumes. Geduckt schlich sich Lean zurück zu dem kleinen Funkgerät, das gleich neben der Tür auf einem kleinen Plastikschränkchen stand. Zitternd setzte er sich den Kopfhörer auf, richtete das Mikrofon und drückte eine Taste. "Colonel Brock? Lean hier. Können Sie mich hören? Bitte bestätigen!" Er lugte durch den Spalt der angelehnten Tür in den großen Speiseraum.
"Lean! Verdammt, was ist passiert?"
Erleichtert atmete David auf. Er sah zu dem toten Palmer, an dessen Händen sich kleine Blasen gebildet hatten. "Ich... Ich war verhindert, Sir." Im Speiseraum stand kein Mensch mehr. Alle lagen auf dem Boden, oder saßen ungelenk und aneinandergelehnt auf den Bänken und Tischen. Viele Soldaten brüllten vor Schmerzen. An einigen Stellen schlängelten sich rote Fäden von der Decke zum Boden hinab, gruben sich in die entsetzten, offenen Münder der Männer, die dadurch vermutlich unvorstellbare Qualen erleiden mußten, so sehr verkrampften sich die Körper. "Die Substanz an der Decke, Sir. Ich..."
"Lean, hören Sie mir zu! Versuchen Sie Kontakt nach draußen herzustellen. Wenn die nicht schon auf dem Weg sind, dann soll N.O.R.A.D. auf der Stelle die Stealths schicken!"
"Sir?", fragte David verunsichert. Das bedeutet..."
"Es geht nicht anders. Das Codewort lautet 'Zero Seven'. Haben Sie alles verstanden?"
"Ja, habe ich. Was ist mit Ihnen?"
"Wir sitzen fest. Tun Sie, was ich gesagt habe! Brock, Ende!"
Kurz dachte Lean an Jenna, seine Verlobte, an ihre Zukunftspläne, an ihr gemeinsames Leben... "Ja, Sir", antwortete er leise und beendete das Gespräch mit Colonel Brock. Über ihm bildete sich in der Substanz ein kleiner Strudel. Er fühlte kleine Stiche an seinen Händen, blickte ungläubig auf die ersten roten Punkte, die schnell mehr und mehr wurden, unangenehm juckten und bei ihm puren Angstschweiß auslösten. "Einen Moment mal! Moment mal..." Er hielt die Luft an und horchte. Nichts. Nur sein pochendes Herz. Im Speiseraum war es absolut still. Erneut sah er kurz durch den Spalt. "Oh Gott..." Niemand rührte sich mehr. Die Substanz hatte die Farbe gewechselt. Aus dem blutigen Rot war nun ein grelles Blau geworden. Lean mußte sich zwingen, sich nicht übergeben zu müssen. Vom Boden, aus den Körpern der ("Sie sind tot! Sie sind alle tot!") Menschen stiegen millionen kleine Blasen nach oben, zerplatzten oder verschmolzen mit der abstrakt fließenden Substanz. "Gott, was geht hier nur vor?" Er zog die Beine an, schloss die Augen, und begann sämtliche militärische Frequenzen abzusuchen. "Private David Lean an Kommandozentrale. Erbitte Stealths-Einsatz auf Ground Zero. Code 'Zero Seven'. Bitte bestätigen. Private David Lean an Kommandozentrale. Erbitte..."
Automatisch waren die Schutztore hochgefahren, die im Gegensatz zum Gebäudekomplex nicht aus Plastik, sondern aus zwei Meter dicken Stahlplatten bestanden. Alarmsirenen und grell blinkende Warnlichter an den Außenwänden gaben unmissverständlich jedem, der sich nicht innerhalb des Komplexes befand, klar zu verstehen, sich so schnell wie möglich zum Tallington-Stützpunkt zu begeben. Dazu waren an die fünfzig Transporthubschrauber innerhalb der Zone rings um Ground Zero verteilt worden, die nun aufstiegen und die Soldaten einsammelten, die Patroille liefen oder Aufräumarbeiten tätigten. Der Ausnahmezustand, der nun eingetreten war, wurde zuvor dutzende Male simuliert, so dass die Evakuierung schnell und ohne Probleme verlief. Auch die Angst vor den Stealths trug dazu bei, dass jeder sich an die Vorschriften hielt. Und obwohl manch einer Panikattacken bekam, so konnte dieser sich doch sicher sein, dass in der Nähe jemand war, der die Situation besser im Griff hatte. Kaum zwanzig Minuten dauerte es, um die Zehn-Meilen-Zone komplett zu räumen. Gespannt wartete man im Stützpunkt ab, was nun passieren würde. Dabei sah man immer wieder ängstlich zum Himmel, denn nicht nur die Stealths waren zum Fürchten. Etwas innerhalb des Gebäudekomplexes war passiert. Etwas, über das man noch nichts wußte, vielleicht auch nie in Erfahrung bringen konnte, wenn die Stealths erst einmal ihre Arbeit getan hatten. Und dann gab es plötzlich das vertraute Donnern, das die Stealths von sich gaben, wenn sie aus der vierfachen Schallgeschwindigkeit zurück in den Normalflug abbremsten. Dutzende Priester verschiedenster Religionen gingen eifrig im Stützpunkt umher, um denen Trost zu geben, die zu irgendeinem Gott beteten, die Tallington-Sache doch noch irgendwie gut ausgehen zu lassen.
Der Abstieg war mühselig gewesen, besonders für Benton, der sich als nicht schwindelfrei erwies. Gemeinsam mit Brody hatte Brock ihn mit viel Geduld und noch mehr Flüchen die Plastiktreppe hinabgelotst. Nun standen die drei Männer am Rand des inneren Kraters und sahen schweigend dem Organismus zu, wie dieser mehr und mehr schrumpfte. Als die Kugel nur noch knapp einen halben Meter Durchmesser hatte, brach sie auseinander. Erstmals konnten Benton, Brody und Brock das Innere des Objekts mit ihren eigenen Augen sehen. Dünne, wie Adern aussehende Gebilde schlängelten sich um eine feste Kugel, die sich direkt in der Mitte befand. Die Kugel selbst war starr, das helle Gewebe und die unzähligen Röhren und Fäden dagegen wirkten äußerst lebhaft, stießen ständig an den inneren Kern, krümmten sich, bildeten geometrische Figuren und schossen dann zur durchsichtigen, membranen Oberfläche, nur um dort abzuprallen, und langsam wieder Richtung Kern zu fallen. Es war absolut faszienierend.
"Faszinierend." Benton beendete das Schweigen.
"Das dachte ich auch gerade." Lächelnd sah Brock zu dem jungen, dicken Mann, der stirnrunzelnd das sterbende Ding da unten im Krater betrachtete.
Colonel Brody räusperte sich. "Conrad?"
"Ja?"
"Der 18. Januar..."
"Ja? Und?"
"Sie erwähnten es vorhin, oben auf der Plattform."
Brock lächelte niedergeschlagen. "Ja, richtig... Der 18. Januar. Nun..." Er schloss die Augen und dachte an Jamie. "An diesem Tag bin ich das erste Mal meiner Frau begegnet. Ein schöner Tag."
"Tut mir leid", flüsterte Brody.
"Sie können nichts dafür, Arthur." Brock ging in die Knie. "Und es gibt wirklich keinen Ausweg?"
"Nein", sagte Brody leise. "Wissen Sie, da wurden keine Kompromisse gemacht..."
Benton sah zu den beiden. "Und wenn es ein Irrtum ist?"
"Was?" Ärgerlich zeigte ihm Brody seine Arme. "Sehen Sie das? Sehen Sie die Punkte?"
"Aber ich habe nichts von dem..." Benton fuhr mit den Fingerspitzen über seine Haut. "Und Brock auch nicht. Wie kann das sein?" Sein Blick schweifte umher, zu den beiden Colonels, hoch zur Ebene ('Gott, war der Abstieg grausam...'), zurück zu den Resten des Widemaker-Organismus, und schließlich blieb er am medizinischen Container haften. "Wie kann das denn sein, Gentlemen? Vielleicht finden wir dort drinnen eine Antwort. Wir könnten..."
"Das habe ich vorhin schon gefragt!", schnitt Brock Benton das Wort ab. "Kommen wir da rein? Zu Grisham und Harding?" Dabei sah er erwartungsvoll zu Brody.
Dieser zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Der Code hat sich bestimmt längst geändert. Bei Ausnahmefällen reagiert der Computer sofort."
"Sie wissen es also nicht?"
"Nein."
"Wirklich nicht?"
"Nein!"
Brock nickte. "Gut, gehen wir!" Ein letztes Mal sah er runter in den Krater, zu dem Objekt. "Ich glaube, es ist nun endgültig tot." Die beiden anderen sagten nichts, nickten nur stumm mit den Köpfen. Die vielen Röhren und Fäden um dem inneren Kern hatten aufgehört, sich zu bewegen. Die Kugel selbst wirkte Millionen Jahre alt, wie ein Fossil, das man unter irdischen, meterdicken Gesteinsschichten ausgegraben hatte. "Kaum zu glauben, dass so ein kleines Ding soviel Schaden anrichten konnte", murmelte Brock bedächtig.
"Klein?" Benton konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Wir sollten und beeilen!", sagte Colonel Brody. "Ich fühle mich hundeelend!"
"Arthur?"
"Nichts, schon gut! Schon gut!"
"Okay."
Die drei Männer drehten sich um und gingen schnell zum Container, in dem sich Harding und Grisham befanden. Jeder hoffte, dass Harding noch am Leben war, um wenigstens ein paar offene Fragen beantworten zu können.
"Eines würde mich wirklich interessieren, Benton", sagte Brody.
"So? Was denn?"
"Ich meine, Sie haben da oben verflucht viel Zeug geschluckt... Und trotzdem stehen Sie hier, als ob überhaupt nichts passiert wäre. Wissen Sie, ich bin mit dem Schutzanzug durch das Scheißgas gesprungen, und sofort hat es angefangen, das Material wegzuätzen, meinen Körper anzugreifen. Aber Sie... Großer Gott, hätte ich damals bloß Ja zu diesem Job im Weißen Haus gesagt..."
Benton stolperte, konnte aber mit Geschick verhindern, unglücklich zu stürzen. "Wie meinen Sie das?"
"Vergessen Sie es einfach, Calleb!" Brock grinste zu Brody. "Ein Insider, okay?"
"Idioten!", murmelte Benton verärgert. Er hatte Mühe, mit den beiden anderen Schritt zu halten.
Im großen Speiseraum füllte die Substanz nun ein gutes Drittel des Raumes. Wie ein Ozean auf den Kopf gestellt, schwappte die Substanz an der Decke hin und her, bildete Strudel, kleine Fäden, große Trichter, und ab und zu dunkle, undurchdringlich wirkende Flecken. Bedächtig schritt Lean über die toten Körper seiner Kameraden. Mit einigen hatte er erst Stunden zuvor technische Geräte aufgebaut. Geräte, die nun verwaist in Räumen und Gängen standen, und darauf warteten, eingeschaltet zu werden. So erstaunt und verängstigt Lean auch war, er hatte N.O.R.A.D. erreichen können, hatte die Situation geschildert, Brocks Worte wiedergegeben. Und er hatte die Bestätigung bekommen. ("Wir trauern alle um Sie. Wir beten für Sie. Mögen die Stealths ein schnelles Ende herbeiführen.") Kichernd stupste er eine der millionen Blasen an, die um ihn herum stetig nach oben stiegen, um mit der Substanz zu verschmelzen, ihr ('Du hättest Schriftsteller werden sollen, David!') zu noch mehr Substanz zu verhelfen. "Old McDonalds hat ´ne Farm..." Die Tür zu einem weiteren Raum, dessen Zutritt nur Offizieren gestattet war, stand offen. "Old McDonalds..." Lean blieb stehen und sah auf seine Hände. Noch mehr Punkte hatten sich gebildet. "Oh Mann...", flüsterte er leise und war erstaunt, warum es bei ihm so lange gedauert hatte. Kurzerhand ging er zu dem Container. 'Wenn schon sterben, dann wenigstens auf einem bequemen Stuhl!' Die Möglichkeit, den Komplex zu verlassen, sein Glück draußen zu versuchen, hatte er kurz in Erwägung gezogen. Aber dann war ihm eingefallen, was man ihnen vor der Ankunft in Tallington gesagt hatte, wofür sie auch unterschreiben mußten, um eventuelle Klagen seitens Familienangehörigen von vornherein entgegenzuwirken. Bei Alarm war alles dicht. Die Türen und Tore, die Zugang nach draußen bildeten, wurden automatisch luftdicht verriegelt. Ebenso die Fenster und sonstige Sache. Nichts kam nach draußen. Eigens unterhalb der riesigen Plastikkonstruktion angelegte Behälter waren nun für die Luftzufuhr zuständig. Eine logistische Meisterleistung, wie Lean anerkennend zugeben mußte. Innerhalb von wenigen Stunden so einen Komplex aus den Boden zu stampfen, war schon beachtlich, wenn nicht sogar kaum zu übertreffen. Er sah hoch zur Decke. "Wir kommen hier nicht raus. Und bald wird so oder so nichts mehr von uns übrig bleiben. Die Stealths brauchen weniger als eine Stunde." Die Substanz zeigte eine Reaktion, als ob sie eine Antwort geben wollte: Die wellenförmige Bewegung kam ins Stocken, und für wenige Sekunden konnte Lean Zickzackmuster erkennen. "Nicht schlecht!" Dann hatte er den Container erreicht. Im Inneren sah es so aus, wie er es erwartet hatte. "Das gibts doch nicht!", fluchte er. Ein Flachbildschirm an der Wand, gepolsterte Stühle, Blumen, kitschige Bilder... Alles in allem ein Wohlfühlatmosphäre, die ihn wütend werden ließ. Lean trat gegen einen der Stühl und gab einen lauten Schrei von sich. "Blöde Arschlöcher!" Er entdeckte einen Kühlschrank, gleich neben der Tür. Die roten Punkte hatten inzwischen auch die Arme befallen. "Verdammt!" Er hockte sich vor den Kühlschrank. "Lieber Gott, was auch immer du sein magst... Bitte! Bitte!" Wie in Zeitlupe sah er seiner Hand zu, wie diese den schmalen Griff des Kühlschranks umschloß, eine Sekunde abwartete, und dann mit einem kräftigen Ruck die Tür öffnete. "Nicht schlecht!" Zufrieden holte er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und hielt sich diese gegen die Stirn. 'So kühl... So wunderbar kühl...' Schnell schraubte er den Verschluss ab und trank die Flasche in vier großen Zügen leer. Rülpsend wischte er sich den Mund ab. Er setzte sich in den Schneidersitz direkt vor den Kühlschrank, genoss die Kälte, die ihm entgegenkam, und beschloss, die acht Flaschen, die noch da waren, zu trinken, bevor die Stealths ihre tödliche Fracht über Tallington abwerfen konnten. "Du hast noch gut vierzig Minuten, alter Knabe..." David Lean nahm eine weitere Flasche, öffnete sie und setzte an. Dabei fiel sein Blick auf die Punkte auf seiner Hand. Ihm kam es vor, als ob sie plötzlich aufgehört hatten, sich weiter über die Haut zu verteilen. Schulterzuckend trank er einen Schluck. Setzte erneut an. Trank. Rülpste. Trank aus. Griff nach einer weiteren Flasche. Öffnete sie. Trank. Die Punkte begannen sich zu verändern, wurden kleiner, manche verschwanden sogar. David Lean bemerkte dies nicht. Er versuchte, so schnell wie möglich ein Rauschgefühl zu erreichen, dass es ihm ermöglichte, den bevorstehenden Tod etwas gelassener hinzunehmen.
"Unglaublich!" Brody schüttelte verwundert den Kopf. "Eigentlich dürfte das gar nicht funktionieren." Er kratzte sich an den Händen und Unterarmen. Seine linke Hand war übersät mit kleinen, roten Punkten. Der von ihm eingegebene Code war ohne Probleme vom Computer angenommen wurden.
Angewidert wandte Benton den Blick von Brodys Hand ab. Verzweifelt versuchte er die schmerzhaften Stiche auf den inneren Handflächen zu ignorieren. Auf dem Weg zum medizinischen Container war es bei ihm losgegangen. Wie aus dem Nichts waren zuerst Punkte an den Fingerkuppen erschienen und hatten sich schnell die Finger entlang ausgebreitet. "Hoffentlich lebt sie noch", sagte er leise und schielte zu Brock, dem einzigen, dem das Gas ('Substanz, verdammt! Eine außerirdische Substanz, verfluchte Scheiße!') offensichtlich nicht das geringste anzuhaben schien. "Ich beneide Sie, Colonel." Lächelnd nickte er Brock zu, der in dem unförmigen Anzug seiner Meinung nach zwar etwas lächerlich, dennoch irgendwie erhaben aussah. Zuversichtlich. Der Mann, der alles unter Kontrolle hatte.
"Warum?", fragte Brock, der Brody stützen mußte. "Was meinen Sie?"
Benton winkte ab. "Nichts, schon gut."
"Arthur, geht es noch?" Brock sah sorgenvoll zu dem Colonel, zu den kleinen Blasen an dessen Hals. "Wie fühlen Sie sich?"
"Beschissen!" Brody beugte sich vor und übergab sich. "Es brennt... Von innen heraus. Als ob Millionen Stecknadeln mich von innen stechen würden." Er packte Brock am Ärmel. "Conrad!"
"Wir gehen jetzt da rein!", sagte Brock grimmig und öffnete die Tür. "Wir haben vielleicht noch dreißig, fünfunddreißig Minuten."
"Wie meinen Sie das?", wollte Benton wissen.
"Wenn Lean Erfolg gehabt hat, dann legen in einer halben Stunde die Stealths Ground Zero in Schutt und Asche."
"Ist dieser Lean die einzige Möglichkeit, Kontakt nach draußen zu haben?"
"Ja."
Calleb holte tief Luft und schüttelte den Kopf. "Er ist also der einzige Mensch hier, der den Anflug der Stealths auch wieder stoppen kann?" Er bekam keine Antwort. "Hier im Zelt, direkt an der Ursache haben wir keine Chance, jemanden zu erreichen, der die Sache abblasen kann?" Keine Antwort. "Das ist ein Scherz, oder? Sie nutzen den momentanen Zustand, um mir eins reinzuwürgen, richtig?" Keine Antwort. "Ich bin... sprachlos!"
Brock hatte die Tür geöffnet. "Los jetzt!", sagte er barsch und schleppte sich mit Colonel Brody in den Container.
"Das ist Scheiße!" Verärgert trat Benton gegen die Plastikwand des Containers. Seufzend sah er zu der Substanz an der Decke des riesigen Zeltes, dann zu dem leblosen Organismus. "Du bist Scheiße!" Er folgte den beiden anderen in den Container.
Drinnen wartete Brock auf ihn. "Wo bleiben Sie denn?"
"Schon gut!" Suchend sah er sich um. "Wo ist Brody?" Es war ziemlich dunkel, ab und zu gab es kleine Funkenregen, die von den kaputten Manschinen und Bildschirmen stammten. Alles war verwüstet, zerstört... Colonel Arthur Brody saß zitternd auf dem Boden, die Beine angezogen und starrte hinauf zur Decke. Obwohl das Licht nicht ausreichend war, konnte Benton genau den Blick des Colonels erkennen und einordnen. 'Er hat sehr große Angst', dachte er und sah ebenfalls zur Decke. Was er sah, ließ seine Beine weich werden, so dass er auf die Knie fiel.
"Dieser Scheißanzug!", fluchte Brock und zupfte an den Ärmeln. "Das sieht ziemlich furchteinflößend aus, nicht wahr, Calleb?"
Ganz langsam drehte Benton den Kopf ein wenig. "Da untertreiben Sie wohl ein wenig." Aus den Augenwinkeln bekam er mit, wir Brock begann, sich aus dem Schutzanzug zu schälen. "Was machen Sie da?"
"Mich ausziehen..."
"Sie tun was?"
"Der Anzug ist zum Kotzen!", bemerkte Brock und löste die Verschlüsse an den Handschuhen. "Wer das Ding konzipiert hat, gehört erschossen oder hierher versetzt, auf der Stelle!"
Wo früher alles steril, aufgeräumt und unnatürlich kalt wirkte, herrschte nun Chaos. Als ob ein Irrwisch hier gewütet hatte. Erschwerend zu den Lichtverhältnissen kam hinzu, dass abertausende kleine Bläschen durch die Luft schwebten, langsam zwar, aber unweigerlich nach oben. Das Oben bestand aus eine sich wild bewegenden, wie Blut aussehende Masse, die an einigen Stellen dünne Trichter gebildet hatte, die sich bis zum Boden schlängelten, scheinbar verschwanden, nur um Augenblicke später wieder zu erscheinen, noch bedrohlicher, noch intensiver. Und über allem war ein lautes Geräusch zu hören. Es klang, als ob jemand mit einem großen Hammer auf Eisen schlug.
Benton zuckte zusammen. "Ich kenne das Geräusch."
Achtlos warf er den Anzug in eine Ecke und streckte sich. "Was? Das Hämmern?", fragte Brock. Er ging zu Brody und berührte ihn. "Arthur?"
"Ja, das Hämmern", fuhr Benton fort. Stirnrunzelnd betrachtete er die Blasen, die an seinem Körper nach oben glitten, vereinzelt hängen blieben und aufplatzten. Orangefarbene Rauchwolken waren dann kurz zu sehen, verpufften aber nach kurzer Zeit wieder. "Vorhin, als ich... Ich weiß nicht, habe ich schlafgewandelt? Mir kam das alles wie ein Traum vor." Er stupste mit dem Zeigefinger eine Blase an. Diese taumelte etwas, setzte jedoch ihren Kurs unaufhaltsam fort. "Das hatte mich doch die ganze Zeit wachgehalten. Deswegen bin ich auch im Zelt gelandet, wissen Sie? Ich war auf der Suche nach dem Ursprung des Hämmerns, Colonel. Jetzt fällt es mir wieder ein." Er bekam keine Antwort. "Was ist los?"
"Seien Sie ruhig und beten Sie, Calleb", flüsterte Brock. "Brody liegt im Sterben."
"Großer Gott..." Er war so sehr vertieft in seine kurze Ansprache, so sehr fasziniert von diesen kleinen Blasen gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie Brody nach einem krampfartigen Aufbäumen auf die Seite gekippt war. Brock hatte ihn auf den Rücken gelegt. Aus Brodys Nase und Ohren floß Blut, an den sichtbaren Stellen der Haut platzten Blasen auf, die statt orangefarbenen Rauchwolken dickflüssigen Eiter beinhalteten. "Großer Gott...", murmelte Benton erneut, ging einen Schritt zurück uns stolperte über einen auf dem Boden liegenden Medizinkoffer. Leicht benommen rappelte er sich auf und sah mit an, wie Brodys Hand die von Colonel Brock ergriff. Brock beugte ('Nicht doch, um Himmelswillen!') sich zu Brody herab, hielt inne, richtete sich auf und nickte. Brody bekam wieder einen Krampf, spuckte Unmengen Blut und dann hatte er es endlich geschafft. Seine Hand fiel schlaff auf den Boden, die Finger ballten sich zusammen und bewegten sich nicht mehr. Arthur Brody war gestorben.
Brock schloss dem Colonel die offenen, toten Augen und stand auf. "Jetzt lassen Sie uns Harding suchen." Er ging zu Benton und half ihm aufzustehen. "Vielleicht lebt sie noch."
"Was hat er Ihnen gesagt, Conrad?"
"Haben Sie eine Waffe bei sich?"
Erschrocken hob Benton die Hände. "Nein, an sowas habe ich nie gedacht."
Brock nickte kurz, ging zurück zu Brodys Leichnam und zog die Pistole aus dem Gürtelhalfter. Er kam zurück und drückte die Pistole Benton in die Hand. "Entsichern. Den Lauf in den Mund stecken. Abdrücken. Das ist alles."
Fast ehrfurchtsvoll betrachtete Calleb die Waffe in seiner Hand. Sie fühlte sich schwer an, unhandlich. Aber vermutlich war das auch nur eine Sache der Gewohnheit. "Ich soll was?"
"Er hat gesagt, dass wir uns lieber umbringen sollen, als so eine Scheiße durchmachen zu müssen. Und wissen Sie was?" Wütend trat Brock gegen den Medizinkoffer. "Ich glaube ihm."
"Das ist doch verrückt!", hörte sich Benton sagen, obwohl er genau wußte, was Brock meinte. Bei ihm selbst war es bereits losgegangen, nicht so schnell wie bei den anderen ('Und den vielen Soldaten im Komplex'), oder bei Brock, der entweder irgendwie imun zu sein schien, oder es selbst verheimlichte.
"Und wenn schon", sagte Brock grimmig. "Harding muß hier irgendwo sein. So groß ist das Ding nun auch wieder nicht." Er packte Benton am Ärmel und zog ihn mit in den Hauptraum des Containers. Kurze Zeit später, vorbei an umgeworfenen Schränken, dem kaputten MA, standen sie vor dem großen Bett, in dem der Leichnam von Miles Grisham lag.
"Sieht Scheiße aus!", murmelte Benton und hatte Mühe, einen Brechreiz zu unterdrücken.
"Das also war Miles Grisham." Brock kratzte sich am Kinn und schüttelte nachdenklich den Kopf. "Sie war so überzeugt, dass das Gas ungefährlich ist. Aber sehen Sie sich das an, Calleb."
Er wollte diesen Leichnam nicht sehen. Diesen ausgetrockneten Körper mit den unzähligen Narben und offenen Wunden, den vielen schlaffen Blasen, das seltsame Glitzern in den toten Augen, die in das Bettlaken gekrallten Finger. Benton wollte es nicht sehen. "Furchtbar...", stammelte er mühsam und erbrach sich schließlich. Dabei entdeckte er hinter einem umgeworfenen Glasschrank zwei Füße. "Da ist Harding", sagte er leise und spuckte auf den Boden.
"Wo?", fragte Brock und drehte sich um.
"Hinter dem Glasschrank." Benton hob schwach den Arm und zeigte in die Richtung. "Da!"
Brock hatte die Ärztin entdeckt und rannte zu ihr. "Großer Gott, Sheila!" Entsetzt sah er zu der Frau, die vor seinen Füßen lag. Sie lebte noch, atmete schwach. An einigen Stellen war der Anzug aufgerissen und Eiterblasen drängten sich nach draußen, platzten auf, schafften Platz für andere. Hardings Gesicht war über und über mit roten Punkten bedeckt. Ihre Augen bewegten sich. Brock fiel auf die Knie. "Sheila", flüsterte er. "Können Sie mich hören?" Er hörte Benton hinter sich, wie dieser keuchend nach Luft schnappte. "Sheila?" Der Zeigefinger ihrer linken Hand krümmte sich gerade, zeigte auf irgendwas. Er sah sich um. "Was? Was meinen Sie?" Harding öffnete den Mund, als ob sie was sagen wollte. Brock sah zu Benton. "Was kann sie nur meinen?"
"Vielleicht das da?" Benton ging in die Hocke und hob eine Spritze auf. Er kniff die Augen zusammen und bemühte sich, die kleinen Druckbuchstaben erkennen zu können. "Irgendein toxisches Gemisch, Colonel", sagte er schließlich und reichte Brock die Spritze.
"Gift?" Mit einem unguten Gefühl nahm Brock die Spritze entgegen und hielt diese Harding hin. "Ist es das, Sheila? Ist es die Spritze?" Sheila Harding rollte mit den Augen. Sanft berührte Brock ihre Stirn. "Okay, ich werde es tun."
"Was werden Sie?", fragte Benton.
"Sie erlösen, Calleb." Behutsam setzte Brock die Spitze der Spritze an die schwach pulsierende Halsschlagader Hardings. "Sie haben einen guten Job getan, Sheila. Keiner konnte wissen, dass es so enden wird. Sie haben keinen Fehler gemacht." Er war sich nicht sicher, ob es richtig war, die Frau mit einer Lüge in den Tod zu schicken. "Gleich ist es vorbei..." Er stieß die Nadelspitze durch die Haut und pumpte mit sanftem Druck die Flüssigkeit in Hardings Hals hinein. "Gleich..." Hardings Körper bäumte sich auf. Blut schoss aus den Ohren und der Nase. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Dann sackte sie zusammen, zuckte noch einige Male und blieb schließlich bewegungslos liegen. Brock schloss ihre Augen. "Wir haben vielleicht noch zehn Minuten", sagte er leise.
Benton nickte. "Die Stealths, nicht wahr?"
"Ja", antwortete der Colonel und stand auf. "Raus kommen wir hier nicht. Kontakt nach draußen haben wir auch keinen. Und Sie müssen bedenken, wir können nur annehmen, dass Lean Erfolg gehabt hat. Endgültige Klarheit werden wir erst bekommen, wenn wir das Donnern der Stealths hören."
"Das Donnern?", fragte Benton und betrachtete seine rechte Hand. Aus einigen roten Punkten waren bereits kleine Wölbungen entstanden. "Donnern?"
"Wenn sie aus dem Überschall in den normalen Flug wechseln, Calleb", erklärte Brock. "Dann gibt es ein Donnern. Nicht wie bei einem Gewitter. Eher, als wenn man mit einer Metallstange gegen ein Stück Blech schlägt, nur tausend mal stärker."
"Ah..." Benton nickte. "Verstehe." Dann zeigte er auf Harding und Grisham. "Ich möchte nicht so enden, auch wenn ich weiß, dass zehn Minuten nicht ausreichend sind."
Brock lächelte. "Kein Problem, Calleb."
Das überraschte Benton. "Sie sagen das, als ob Sie längt abgeschlossen hätten. Sie sind doch verheiratet, nicht wahr? Und Sie tun so, als ob Sie die ganze Scheiße überhaupt nichts angehen würde."
"Das geht Sie nichts an!", zischte Brock wütend. "Das ist meine Sache!"
"Die ganze Zeit frage ich mich schon, warum Sie als einziger bisher überhaupt keine Anzeichen vorweisen, dass auch Sie betroffen sind. Die roten Punkte an den Händen. Die Blasen... Irgendwas!"
Fast kam es Brock vor, als ob Benton zu weinen anfangen würde. Er zuckte mit den Schultern und sah nach oben zu der Substanz. "Ich weiß es doch auch nicht, Calleb. Verdammt nochmal, ich habe keine Ahnung." Er betrachtete Hardings Leichnam. "Vielleicht hätte sie uns weiterhelfen können. Aber nun..."
"Was haben Sie eigentlich gestern noch gemacht? Im Offiziersraum? Ich habe Sie hören können, als Sie in Ihr Zimmer kamen."
"Ich habe den Kühlschrank geplündert und mir noch ein paar Footballszenen angesehen. Warum fragen Sie?"
Benton runzelte die Stirn. "Und was haben Sie getrunken?"
"Bier...", murmelte Brock und sah Benton fragend an. "Was soll das?"
"Also Alkohol, ja?"
Jetzt zuckte Brock zusammen. "Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass... Ich bin längst wieder nüchtern!"
"Gibt es hier Alkohol?" Ängstlich stellte Benton fest, dass eine Wölbung sich verstärkt hatte. Es tat nicht weh, war aber dennoch ein unangenehmes Gefühl. Kleine Risse waren zu erkennen. "Conrad?"
Der sah sich suchend um. "Möglich. Das hier ist eine ärztliche Einrichtung." Dann entdeckte er einen Schrank, dessen Türen zersplittert waren. "Dort! Sehen Sie?"
"Ja", antworte Benton und stürmte auf den Schrank zu. Fast wäre er über Harding gestolpert, konnte aber das Gleichgewicht halten. Keuchend stand er vor dem Schrank mit den vielen Regalen, den vielen Spritzen, Salben und Fläschchen. "Und nun? Was nun?"
Brock, der ihm gefolgt war, schob ihn zur Seite. "Mal sehen..." Er nahm Spritzen zur Hand, las die Aufschriften, warf die Packungen weg. "Nein... Nein... Nein... Hier!"
"Haben Sie was?"
"Ethyl! Siebzig Prozent Alkoholanteil. Das ist wahrscheinlich für Elefanten gedacht." Er grinste. "Oder für die S.E.A.L.S." Er zeigte Benton zwei Spritzen. "Wenn Sie richtig liegen sollten, dann ist das unsere Chance."
"Einen Moment mal!", wehrte Benton ab und ging einen Schritt zurück. "Ich sprach von Alkohol. Und nicht von einer tödlichen Infusion." Er schüttelte den Kopf. "Das kann nicht ihr Ernst sein!"
Brock wollte etwas sagen ("Wir sind doch so oder so tot!"), hielt aber inne. Verwundert sah er seine linke Hand an. "Es geht los..." Vereinzelt erschienen rote Punkte an den Fingerkuppen und auf dem Handrücken. "Sehen Sie das? Wir müssen es einfach versuchen!" Kurz entschlossen riss er eine der zwei Verpackungen auf, entnahm vorsichtig die Spritze und setzte die Spitze der Nadel auf eine Vene auf seinem Handrücken.
Benton schluckte schwer. Er bemerkte, wie einer der Risse auf seiner Hand größer wurde und eine kleine Blase zum Vorschein kam. "Oh Gott!"
"Der ist nicht hier!", murmelte Brock verächtlich, stieß die Nadel in die Vene und pumpte die Flüssigkeit in seine Blutlaufbahn. Tief Luft holend zog er die Nadel wieder heraus und warf die Spritze weg. Er hielt die Hand vor sein Gesicht, drehte sie hin und her. "Also ich weiß nicht..." Plötzlich schrie er auf und ging in die Knie. "Oh Gott, der Schmerz!"
"Was ist passiert?" Besorgt beugte sich Benton zum Colonel hinab und berührte in an der Schulter. "Brock? Brock!" Aus heiterem Himmel krümmte sich Brocks Körper schlagartig zusammen. "Oh Scheiße!", murmelte Benton. "Brock!"
Der Colonel fiel auf die Seite, die Knie unters Kinn gezogen, am ganzen Körper zitternd. Seine Augen waren weit aufgerissen, aus dem offenem Mund lief eine Mischung aus Speichel und Blut über die brüchigen Lippen am Kinn herab. "Es... Es... Der Schmerz..." Und von einem Augenblick zum nächsten entspannte er sich, rollte auf den Rücken und breitete seine Arme aus. Brock sah nach oben zu der Substanz und lächelte. "Es wirkt, Calleb. Es ist am Anfang ein übler Schmerz, aber es wirkt. Sie hatten Recht." Er betrachtete seine Hand. "Sehen Sie sich das an!" Nach und nach verschwanden die roten Punkte. "Das ist... Oh..." Er würgte und spie eine kleine, dunkelblaue Wolke aus, die sich schnell in Luft auflöste. "Es ist... Es ist jetzt wohl alles raus." Brock begann zu kichern. "Verstehen Sie? Alles... Alles raus... Alles aus... Aus die Maus..."
Zögernd nahm Benton die Spritze in die Hand, riss die Verpackung auf, sah zu Brock, der wie ein kleiner Schuljunge kichernd auf dem Boden saß und Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. 'Er ist betrunken. Kein Wunder. Aber es hilft! Wir müssen nur alles rauskotzen, verdammt!' Er fragte sich, wo genau er die Spitze der Nadel ansetzen sollte, als plötzlich ein gewaltiges Donnern zu hören war. "Oh nein!", schrie Benton entsetzt. "Die Stealths! Die Stealths sind da!" 'Jetzt ist alles so oder so vorbei!' Er legte die Spritze auf den Boden und stand auf. "Colonel?"
"Das, mein lieber Calleb, war... war das charakteristische Donnern eines Stealth-Bombers der jüngeren Generation, müssen..." Brock räusperte sich und spuckte aus. "Bah! Ekliges Gefühl, besoffen zu sein, mein lieber Calleb." Er winkte Benton zu sich ran. Dieser zögerte, beugte sich dann jedoch erneut zu Brock herunter. "Calleb! Sie..." Die Motorik des Colonels hatte stark nachgelassen. Er versuchte, Bentons Arm zu packen, griff aber immer wieder daneben. "Cal... Calleb. Sie müssen... Versuchen Sie, eine Nachricht zu hinterlassen... Nachricht... Okay?"
"Wie?", fragte Benton.
Brock deutete irgendwo in den Container hinein. "Safe..." Er machte unbeholfen eine Geste. "So ein Ding... Kasten... Absolut sicher!"
"Und wo finde ich das?" Benton bemerkte, wie einige Risse auf seiner Hand größer wurden, und Blasen, ähnlich denen, die sie umgaben, hervorquollen. "Conrad! Wo! Wo, verdammt!"
"Irgendwo hier...", flüsterte Brock und schluckte schwer. "Definitiv hat es den..." Seufzend drehte er sich auf den Bauch und schloss die Augen.
"Definitiv was?", brüllte Benton, der fieberhaft nach einem Safe im Container suchte.
"Es hilft... Hält... Hält es auf... Jamie! Oh Gott... Jamie..."
Endlich stand Benton vor dem Safe. Ein kleiner Kasten, gerade mal zwanzig Zentimeter breit und dreißig Zentimeter hoch, stand zu seinen Füßen. "Aufhalten tut es die Scheiße, das haben wir ja gesehen..." Er ging in die Knie. "Da ist eine Tastatur mit einem Display. Brock, ich brauche einen Code!" Er bekam keine Antwort. "Brock!"
Colonel Conrad Brock lag auf dem Rücken und schnarchte. Die roten Punkte an seinen Händen waren vollständig verschwunden.
"Brock!", schrie Benton verzweifelt. "Brock!" Dann hörte er ein leises Pfeifen, was lauter und lauter wurde. "Ach Scheiße!" Er schlug mit der Faust gegen den Safe. Es war schmerzhaft. Es war in diesem Moment unwichtig. Geräuschlos sprang die Safetür auf. 'Sie war gar nicht zu!', dachte Benton fassungslos. Das Funkgerät wirkte geradezu obzön deplaziert. 'Unfair!' Benton schloss die Augen. Drei Sekunden später gab es einen ohrenbetäubenden Knall, er spürte einen enormen Hitzeschub. Dann war es vorbei. Die Stealths hatten ihre Aufgabe getan. Ground Zero existierte nicht mehr.
***
Das Telefon klingelte. Trigger saß mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt an seinem Schreibtisch und ignorierte das schrille Geräusch. Gedankenverloren beobachtete er eine kleine Fliege, die ihre Kreise um die Lampe zog, Runde um Runde, exakt die gleiche Bahn beibehaltend. An der Tür klopfte es. Das Telefon verstummte. Er schniefte kurz und zog den Schleim in seiner Nase hinunter. "Ja?"
Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür. Ein junger Seargent betrat den Raum. "Sir? Die Nachricht kam eben durch." In seinen Händen hielt er ein Blatt Papier, dass er dem General auf den Schreibtisch legte.
Trigger beugte sich nach vorn und las das Papier. ('Operation 'Zero Seven' erfolgreich durchgeführt. Berechnete Werte wurden eingehalten.') "Vielen Dank, Seargent", sagte er leise und nickte Richtung Tür.
"Sir", sagte der Seargent, salutierte und verließ Triggers Büro.
Er lehnte sich wieder zurück und sah zu der Fliege, die beständig um die Lampe flog. Trigger fragte sich, was so ein Insekt wohl dazu bewegte, im Kreis zu fliegen, anstatt kreuz und quer durch den großen Raum. "Verrückte Welt...", murmelte er, knüllte das Papier zusammen und warf es in den Metallpapierkorb. Anschließend zündete er sich eine Zigarette an. Er nahm ein paar Züge und warf die Zigarette in den Papierkorb. Es dauerte nicht lange, bis feine Rauchwolken aufstiegen. Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Papier und andere Sachen in dem Papierkorb loderten hell und erzeugten dunklen, in den Augen brennenden Qualm. "Hier ist Trigger. Verbinden Sie mich mit Carlye!" Nun war es an der Zeit, die Konsequenzen aus der Tallington-Angelegenheit zu ziehen, abzuwägen, was noch auf sie zukam, oder ob die ganze Sache endgültig vorbei war. Trigger hoffte es. Doch innerlich war er überzeugt davon, dass die Zerstörung von Ground Zero erst der Anfang war. Auf dem Display seines Laptops blinkte es. Mit dem Hörer am Ohr beugte sich Trigger etwas runter und drückte die schmale Entertaste auf der Tastatur. Ein Fenster öffnete sich, drei kurze Zeilen waren sichtbar. Trigger nickte kurz und klickte dann das Fenster weg. Die verbliebenen Einheiten um Tallington waren auf dem Rückmarsch.
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