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Groupies
Aber wenn ich es dir doch sage. Niemand wusste den Namen dieser Band, doch sie rockte mehr als der Hauptact es je gekonnt hätte. Es war wohl eine Mischung aus Soul und Rockabilly, das Ganze erinnerte an Elvis, auch wenn der einzige fette Kerl auf der Bühne wohl der Typ am Mischpult war.
Ja, Frauen. Lauter Frauen. Heiße, glaubte ich. Aber ich saß so weit hinten, es hätten auch Rentnerinnen mit greller Schminke sein können.
Ich muss zugeben, am Anfang, als die Mädels auf die Bühne kamen, war die Stimmung ziemlich gedrückt. Man wusste nicht, was auf einen zukam und die ersten Töne, die langsamen Schläge auf dem Bass und die E-Gitarre, die nur alle paar Minuten einzusetzen schien … da war auch mein erster Gedanke: Wasn jetzt, Scheiße.
Aber nach den ersten Minuten – da wurde man richtig warm. Mehr als das. Irgendwie … da vibrierte das Blut in den Adern.
Mann, zieh die Luft nicht so ein, du weißt ja nicht, wie das war. Sie sangen wenig am Anfang, hin und wieder nur ein Hey, zu dritt in ein einziges Mikrophon. Und bei diesem Wort, da blieb mein Herz stehen. Sie wurden schneller, die Schläge auf der E-Gitarre häuften sich und irgendwo schändete jemand ein Schlagzeug. Es war laut und hätte man sich nicht von selbst zur Musik bewegt, die Stärke des Bass hätte das für einen übernommen.
Irgendwann fingen sie an zu flüstern. Kein Singen, nur Flüstern. Das Publikum, es mussten an die zehntausend Leute gewesen sein, stand auf und einige hundert fingen an, die Stufen hinab zu steigen. Nach vorne. Du weißt schon, dort, wo alle wie Zuchtvieh aneinander gedrängt rum stehen. Oder hüpfen. Was weiß ich.
Der Song lief erst seit wenigen Minuten und er wurde immer heftiger. Immer mehr Leute stürmten nach vorn, irgendwann auch ich.
Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann es war, plötzlich stand ich dort, an die brusthohe Absperrung gedrängt. Die Gitterstäbe kämpften mit meinen Rippen, immer mehr Leute kamen, drückten von hinten, um die vorderen dazu zu bringen, weiterzugehen. Man sah zwischen der Menschenmenge immer wieder Securityleute aufblitzen, die selbst mit den breitesten Schultern in der Menge untergingen.
An meinem Hals spürte ich die Stacheln eines Nietenhalsbandes, das einer pinkhaarigen Tussi hinter mir gehörte. Ihre Brüste drückten sich an meinen Rücken, und, das sag ich dir, die Nippel waren so hart und spitz wie Bleistifte. Ich hatte das Gefühl, sie durchstachen meine Haut.
Mein Rücken war feucht, nein, nass, triefend. Der ganze Körper war das. Mein Haar war so schwer, dass ich dachte, es würde meinen Kopf zu Boden ziehen. Und immer noch diese Nippel. Meine Haut kochte, und es war keine, das betone ich nur, weil du schon wieder das Kichern unterdrückst, keine Erregung. Ich bin zu alt für diese sechzehnjährigen Mädchen, die sich für Punks halten.
Das Drücken wurde immer stärker, und dann … dann fingen sie an zu singen. So leise und so ruhig, dass man meinen müsste, ihr Gesang wäre allein im Schlagzeug untergegangen. Doch nein. Es war, als würde man nur ihre Stimmen hören. Die Stimmen dieser drei Frauen, deren Gesichter ich noch immer nicht erkennen konnte.
Die Menge hinter mir, vor mir, neben mir drehte durch. Ich wurde an die Gitterstäbe gequetscht, drückte zurück. Tausende von Menschen, die mich nach vorne schieben wollten – auch wenn sie von der Absperrung gewusst hätten, es wäre ihnen egal gewesen.
Langsam bekam ich keinen Luft mehr. Es war heiß, kochend heiß, überall diese Menschenmassen und dann dieser Schmerz in meiner Brust. Es wurde immer stärker gedrückt, du kannst dir das gar nicht vorstellen. Irgendwann versuchte ich, über die Absperrung zu klettern. Security war keine in der Nähe, die mich davon hätte abhalten können.
Und noch immer ihr erster Song.
Ich schaffte es trotz der Masse hinter mir meinen rechten Fuß irgendwo gegen zu stemmen. Sehen konnte ich nichts – überall waren Menschen, jeder Millimeter des Saals war ausgenützt. Ich krallte mich in die Eisenstäbe und, du wirst es dir schon denken, meine Fingernägel brachen. Sie splitterten und ich fühlte, wie sie von meiner Haut absprangen und sah sie durch die Menge fliegen wie Heuschrecken.
Bis heute kann ich die Handschuhe nicht abnehmen.
Ich schrie nicht auf, niemand hätte mich gehört. Wie auch? Alle waren außer sich.
Jetzt sangen sie richtig, zu dritt, in verschiedenen Stimmlagen, in ein Mikrophon und so laut, dass ich dabei beinah ohnmächtig wurde. Nicht, weil es in meinen Ohren schmerzte, sondern weil es so unglaublich klang. Noch nie, das schwöre ich dir, noch nie habe ich so etwas gehört. Und ich weiß, nie mehr werde ich es hören dürfen.
Die Hölle brach los. Das klingt übertrieben, aber hättest du sehen können, was dann passierte, würdest du mir zustimmen.
Das Punkmädchen krallte ihre schwarzen Fingernägel in meine Schultern, durch meine Haut, in mein Fleisch und ich fühlte Blut fließen. Es wurde immer mehr, sie hielt sich mit ihrem ganzen Gewicht an mir fest, in mir fest und zog sich über die Absperrung. Mein Bein hing noch immer zwischen den Eisenstäben fest. Ich wartete auf das Knacken, das ich nur fühlen und nicht hören würde. Aber es kam nicht.
Sie trug Highheels – ich spürte sie wenige Sekunden später in meinem Nacken. Ich musste mittlerweile aus unzähligen Wunden bluten, sie schabte mit ihren Fingernägeln über meine Haut, mein T-Shirt war völlig durchlöchert und blutgetränkt.
Aber der Schmerz war mir egal. Solange ich sie nur weiter singen hören konnte.
Das Mädchen ließ mich los und nun war ich an der Reihe. Ich hielt mich an fremden Leuten neben und vor mir fest, sie hielten sich an mir fest und irgendwann bildeten wir eine menschliche Kette aus hunderten von Personen, die sich gegenseitig davon abzuhalten versuchten, den drei Frauen näher zu kommen. Jeder wollte der erste sein. Ich wollte der erste sein.
Ich warf keinen Blick mehr auf die Bühne, ich merkte nicht, wie die Securitys von den geifernden Menschen regelrecht zerfetzt wurden. Die Gesichter wurden ihnen ohne Absicht zerkratzt. Die Brustwarzen abgerissen ohne einen Hauch von Böswilligkeit. Mittlerweile war mir völlig egal, wer dort auf der Bühne stand, wie sie aussahen, ob sie scharf waren. Ich wollte nur zu ihnen. Was ich tun würde, wenn ich mein Ziel erreicht hätte, wusste ich nicht.
Ich hatte die Absperrung überquert, zog mein Bein hinter mir nach, das mittlerweile geschwollen war und die Jeans komplett ausfüllte. Einige meiner Rippen waren gebrochen, das wurde mir später gesagt, und glaub mir, ich spürte den Schmerz, aber er interessierte mich nicht.
Ich riss an Haarschöpfen, an meinem wurde gerissen. Mein T-Shirt hatte ich mittlerweile komplett verloren, ich drückte mich an blutende Menschen, vermischte ihr Blut mit meinem und vermutlich hab ich es mir dabei eingefangen. Du weißt schon.
Es war nicht mehr weit. Fünfzig Meter vor mir lag ein Berg aus menschlichen Überresten, der immer höher wurde. Die Menge wurde dichter, auch wenn man nicht geglaubt hätte, dass es noch dichter ginge.
Ich schlug auf Schädel ein, riss an Schultern und kugelte dabei Arme aus. Überall schrieen Menschen – aber nicht aus Schmerz, das darfst du mir glauben.
Dann stand ich vor ihm. Nur noch dieser Haufen Fleisch trennte mich von ihnen. Von diesen Göttinnen. Der Gesang war unglaublich. Sie mussten es gewesen sein, die Odysseus gehört hatte. Dieser wahnsinnig machende Gesang.
Mein rechtes Bein schleifte hinter mir her, während ich mich mit einer Hand in ein rotes Haarbüschel krallte und mit der anderen in den Saum einer Jeans. Ich zog mich hoch, wie ein Bergsteiger, an meinen Händen klebten blutige Strähnen, Kopfhaut baumelte von den Wurzeln. Es war schwer, sich mit nur zwei Händen, die rutschig von Blut waren, das aus den Wunden der abgesprungenen Fingernägel floss, und einem Bein hinaufzuhangeln.
Doch ich schaffte es.
Ich erreichte den Gipfel und wurde von diesem Gefühl überflutet.
Die Scheinwerfer waren grell, blendeten mich, so dass ich mir die Augen mit einer Hand schützen musste. Ich war erregt. Keine sexuelle Erregung, kein Ständer in meiner Jeans – nein, es war etwas anderes. Aber ich konnte sie sehen. Nur Umrisse, fast nur Schatten, aber das war genug, um es zu wissen. Es waren Engel.
Nein, Mann, ich kann es dir nicht beschreiben. Du musst es erlebt haben.
Ich weiß nicht mehr, was dann geschah. Ich wurde vielleicht ohnmächtig, zumindest sagten das die Sanitäter. Ich erinnere mich nicht an den Weg ins Krankenhaus, nicht an das Krankenhaus selbst, ich weiß nicht, wie genau ich nachhause gekommen bin. Nur Stimmen waren da, keine Bilder.
Ich redete mit diesen Stimmen. Versuchte ihnen zu beschreiben, was ich gesehen hatte. Was ich gehört hatte. Was ich erlebt hatte. Aber ich konnte es nicht.
Es ist jetzt ein Jahr her. Mein Augenlicht habe ich nicht wiedererlangt. Aber diese Hoffnung hatte ich nie.
Sie waren das letzte, was ich gesehen habe. Und bis zu meinem Tod soll das so bleiben.
© Barbara H.