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Gurkenschießen des Grauens
„Kleinen Moment“, sage ich, lehne mich zurück aufs Sofa, nehme einen tiefen Zug und mustere ihn ungläubig. „Sie hat was?!“
„Sie hat mich angegriffen!“ wiederholt Stefan, und er spricht laut und schrill. Seine Augen glänzen. Ich bin mir nicht sicher, alles verstanden zu haben.
„Deine Pornokassette?“ Als ich mich sprechen höre, muss ich ein Lachen unterdrücken. „Bleib mal geschmeidig, Alter!“
„Natürlich die Kassette!“, brüllt Stefan, beinahe außer sich. Er stampft einmal im Kreis, pflückt dann entschlossen die Flasche Rotwein vom Tisch, füllt mein Glas, mustert mich und setzt die Pulle an. Ein dünnes rotes Rinnsal fließt sein Kinn herab und versickert im Kragen.
„Natürlich die gottverdammte Kassette, Alter! Sieh doch nach und schau´s dir an!“
Ein paranoider Blick in Richtung Tür, dann wieder der Griff zur Flasche.
„Stefan, du gießt Wein in den Jogurtbecher!“
„Sag du mir nicht, was ich zu tun habe!“ brüllt er.
Ich nehme ihm die Flasche weg – leer – und begutachte den Schokojogurt-Rotwein-Cocktail. Stefan mustert aufmerksam die Tür, als wäre er sich nicht sicher, was sie aushalten kann.
Ich stelle angewidert den Becher weg.
„Also noch mal langsam. Du hast dir ´Das verfickte siebte Schuljahr´ angeschaut?“
Nicken.
„Stefan, das an sich ist schon unfassbar!“
Er starrt die leere Weinflasche an, als wären Meditationsspiralen auf dem Etikett abgebildet.
„Und dann? Wo warst du? Beim ungelenkigen Robert? Nein? Bei der Stelle wo der fette Oberlehrer sein Hirn durch den Zapfhahn rauslässt? Nein? Ah...“, zufrieden lehne ich mich zurück. „Beim Gurkenschießen. Und als die Ostbraut die erste Zucchini einschieben will, springt die Kassette aus dem Videorekorder?“
Stefan fuchtelt mit den Armen. Er scheint sich verstanden zu fühlen. Ich kann mich nicht mehr halten vor Lachen.
„Und zerspringt!“ ruft Stefan, wild gestikulierend. „Neben meinem Kopf. In tausend Teile.“
Hätte ich an ihrer Stelle auch getan. Der Spinner.
„Und das ist nicht das Einzige, Mann. Wir sitzen voll in der Scheiße.“
Erst langsam komme ich wieder zu Atem. Als ich Stefan anschaue, starrt er mich an, seine Stirn ist schweißnass, und mit der Rechten umklammert er die leere Flasche wie eine Keule.
„Was denn noch?“
„Der Videorekorder ist mir gefolgt.“
„Der Videorekorder?“
„Du weißt doch, die Vorläufer der DVD... V_H_S!“ Stefan fuchtelt wieder wild umher, und das „VHS“ betont er so wie... naja... irgendwas Wichtiges.
Ehrlich gesagt, ich bin sprachlos. Normalerweise bin ich nie um einen guten Spruch verlegen, aber jetzt komme ich wirklich nicht mehr mit. Stefan fixiert mich, als erwarte er jeden Moment, dass ich ihm zustimme. Weil ich nichts anderes weiß, greife ich noch mal zu meinem Weinglas. Meine madagaskische Chillmusik setzt aus, und in diesem Moment klopft es an die Tür.
Stefan gerät vollends in Panik. Er zuckt zusammen, fährt zur Tür herum, duckt sich, hebt die Flasche, stammelt: „Da ist er.“
„Dein Rekorder, hm?“
„Ja Mann, ja... Moment... was...?“
Ich bin aufgestanden, drücke ihn zur Seite und entriegele die Tür. Zeit, dieser Posse ein Ende zu setzen.
<Werbepause>
Es ist Markus.
„Hey Alter, was machst du noch auf den Beinen?“ frage ich, und er drängt sich an mir vorbei, mustert Stefan, der ihn entgeistert anstarrt und sagt:
„Das Telefon ist kaputt.“
„Was?“ fragen Stefan und ich gleichzeitig.
„Na, unser Telefon im Flur.“ Markus setzt sich auf mein Bett, entdeckt den Jogurtbecher und nimmt einen Schluck. „Gutes Zeug.“
Mir wird schlecht.
„Hast du den Videorekorder gesehen?“ fragt Stefan vorsichtig, als er die Tür wieder verriegelt hat.
„Nö, warum?“
„Stefan schiebt Paras. Ignorier ihn einfach. Wieso ist das Telefon kaputt?“
Markus schaut Stefan an, schüttelt den Kopf, nimmt noch einen Schluck und zuckt die Schultern. „Naja, es hat geklingelt, und ich bin ran. Aber da war nur das Besetztzeichen. Und in dem Moment schnürt´s mir die Luft ab!“
Stefan und ich starren ihn entgeistert an.
„Die Luft?“
„Ja Mann“, Markus macht eine entschuldigende Handbewegung, „irgendwie muss ich mich mit der Schnur eingewickelt haben, keine Ahnung... hätt´ mich beinahe mit dem eigenen Telefon stranguliert, das darfste auch keinem erzählen, hm?“
Stefan und ich schweigen.
„Was denn?“
„Mein Videorekorder hat mich angegriffen“, sagt Stefan. Ich verdrehe die Augen.
Markus´ Gesichtsausdruck jedoch wird starr; er fixiert Stefan, rückt auf die Bettkante, lüftet seinen Kragen und fragt: „Was?“
„Die Kassette... sprang raus und knallte mir beinahe ins Gesicht.“
Was zur Hölle hätte ich sonst tun sollen? Ich greife zum Döschen und rolle mir ne Tüte. Aber ich weiß ganz genau, Markus und Stefan werde ich nichts abgeben. Medizinische Gründe.
„Weißt du, was das heißt?“ fragt Markus entgeistert.
„Farin Urlaub hatte Recht?“
„Nein, Mann, kein bisschen. Das heißt, wir haben einen Well im Haus.“
„Einen Well?“ frage ich laut. Vielleicht kommen sie wieder klar, wenn man bescheuerte Passagen wiederholt.
„Sag bloß, ihr kennt die Geschichte nicht?“ fragt Markus.
Stefan und ich schauen uns an. „Nö.“
„Well ist der Name eines ehemaligen Billigherstellers für Haushaltselektronik. Er drückte die Kosten, indem er seine Fabrikgebäude auf ehemaligen Indianerbegräbnisstätten errichten ließ... von geheimnisvollen, dressierten Affen.“
„Aha“, macht Stefan, aber ich bin in diesem Moment zu der Überzeugung gelangt, dass Informatikstudenten nur in einer Stadt studieren sollten. In einer Stadt mit Zaun drum.
„Und dann?“ fragt Stefan vorsichtig.
„Dann schmissen sie die Affen raus und nahmen Roboter.“
„Roboter“, wiederholt Stefan bedächtig.
„Und die wurden mit Windows gesteuert.“
„Windows“, murmelt Stefan.
„Und Silvester 1999 gingen sie alle kaputt und griffen die Indianer an.“
„Der Millenium-Bug“, Stefan nickt.
Ich zünde die Tüte an, nehme einen tiefen Zug und mache eine wegwerfende Handbewegung.
„Jungs, ihr seid total bescheuert. Was für Indianer denn jetzt?“
„Die Voodoo-Indianer“, klärt mich Markus auf.
„Voodoo“, flüstert Stefan.
Ich will hier weg.
„Schwarzafrikanische Kannibalen. Aus den Sklaven-Plantagen von Haiti geflohen, beschlossen sie sich mitten in Texas eine neue Existenz als Indianer aufzubauen, wurden im Bürgerkrieg von ´Stonewall´ Jackson besiegt und verdingen sich seitdem für die schmutzigsten und schlechtbezahltesten Arbeiten. Genauer gesagt, fetteten sie die Robotergelenke ein.“
„Mit Menschenfett?“ frage ich und schlucke den Rauch runter.
„Bist du bescheuert?“ Markus verdreht die Augen. „Dafür brauchste synthetisches Fett, so Robotergelenke werden doch zu stark beansprucht.“
„Genau. Industriefette“, beteuert Stefan.
Ich verschlucke mich, huste. Schließlich frage ich: „Und dann?“
„Na, ist doch klar“, referiert Markus. „Heraus kamen wirklich gefährliche Elektrogeräte, die jedes Mal an Freitag, dem Dreizehnten zuschlagen und beginnen, ihre Besitzer zu massakrieren:“
„Freitag der Dreizehnte?“ Ich bin mir plötzlich ziemlich sicher, dass wir den ersten April haben, aber selbst mein FHM-Kalender fällt mir in den Rücken. In meiner Verzweiflung versuche ich es mit Logik. „Aber die Roboter liefen doch zum Jahreswechsel Amok?“
„Oh Mann“, Markus verdreht die Augen. „Sie versuchten das Problem zuerst durch Updates in den Griff zu bekommen, bis die Fabrik schließlich an einem Freitag, den Dreizehnten spurlos verschwand. Und glaube mir, die Elektronikbranche schert sich nicht um die Seelen ihrer Kunden. Sie haben alle Geräte, die in der Zwischenzeit gefertigt wurden, noch verkauft, und bis heute verbreiten einige von ihnen Angst und Schrecken.“
„Angst“, zischt Stefan und starrt mich an. „Angst und Schrecken.“
Ich mache die Tüte wieder aus. Breit würde einen dieses Gewäsch fertig machen.
„Aber Jungs“, ich rücke vor, fasse ihnen beide auf die Schultern und lächle spöttisch, „wir haben gar keine Haushaltsgeräte von Well. Nicht mal eins.“
„Eines würde schon reichen“, Markus lehnt sich nach hinten, von mir weg. „Es gibt inzwischen Internet aus der Steckdose, und genauso infiziert ein böses Haushaltsgerät alle anderen.“
„Was ist mit deinem neuen Radiowecker?“ Stefans Stimme zittert.
„Hab´ ich von Ebay“, sage ich, werfe dem Gerät einen Blick zu und erstarre. Auch die anderen sind wie gelähmt. Es ist Sechs Uhr fünfundsechzig. Der Wecker beginnt, höhnisch zu klingeln, und in diesem Moment sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ich hätte es in dem Moment wissen sollen, als die Stereoanlage ausging, aber jetzt ist es zu spät, viel zu spät. Wie ein silberglänzender Diskus schießt die CD auf mein Gesicht zu.