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Gute Nacht, New York
Gute Nacht, New York
Ich kann das nicht tun. Das denke ich jetzt schon zum hundersten Mal. Aber eigentlich habe ich kaum eine Wahl. Manchmal denke ich, es würde ausreichen, wenn ich es verdränge. Wenn ich einfach mit aller Kraft an etwas anderes denke. Wenn ich so tu, als ob. Wie ein Kind. Und da ist der Gedanke wieder. Da ist er und lässt mich nicht los. Zwecklos. Ich muss etwas unternehmen. Muss handeln, bevor es mich auffrisst.
Steve stand lässig gegen die Mauer gelehnt und sah die Straße entlang. Sein Gesichtsausdruck war selbstzufrieden und siegessicher. Er war auf der Zielgeraden. Bald hatte er es geschafft. Die Ähnlichkeit war frappierend. Und das war alles, worauf es ankam.
Er war nicht einmal dreißig Jahre alt und hatte das Leben seiner Träume beinahe erreicht. Von Tag zu Tag weitete er seine Freiheit aus. Eroberte die Kontrolle über sein eigenes Leben.
Seinem Vater mochte das nicht gefallen. Aber nach einer unbeschwerten Jugend, in der ihm alles gelang und jedes Abenteuer ein Kinderspiel war, konnte er nicht begreifen, warum er immer öfter eingesperrt wurde. Warum er in sein Zimmer verbannt wurde. Er war immer beliebt gewesen. Jetzt war er einsam. Und mit jeder Nacht wuchs der Hass auf seinen Vater.
Auch ich habe es mir gewünscht. Eine Weile lang. Eine lange Zeit sogar. Ist das nicht natürlich? Habe ich es nicht deswegen getan? Aber es hat sich verändert. Ich kann nicht genau sagen, wann. Aber irgendwann bin ich aufgewacht und musste feststellen, dass er schon wach ist. Und dass er mich mit einem Blick angesehen hat, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Die Tatsache, dass er neben meinem Bett saß, mit den Beinen schlenkerte und mich ansah. Das war zu viel für mich.
Irgendwie habe ich gewusst, dass er das tat. Ich habe es oft verdrängt, wie alles, was mit ihm zusammenhängt. Aber ich kann es nicht leugnen. Deshalb habe ich die Schlaftabletten genommen. Damit ich nicht über Nacht den Verstand verliere. Auf der Packung steht, nach zwei Wochen soll man einen Arzt aufsuchen. Jetzt sind neun Wochen vergangen. Und nichts aber auch gar nichts hat sich geändert.
Die Idee mit dem Arzt habe ich mir lange durch den Kopf gehen lassen. Aber was soll ich ihm sagen? ‚Er sitzt an meinem Bett.' Aber er tut ja nichts. Er sieht mich nur an. Eigentlich sollte es mich nicht beunruhigen. Aber das tut es doch.
Am Abend stelle ich jedes Mal sicher, dass ich ihn einschließe. Dass er drinnen ist und die Tür verschlossen. Und dennoch sitzt er am Morgen wieder da und baumelt mit den Beinen. Als wäre er erst fünf. Dabei ist er fast dreißig.
Ich verstehe das nicht. Er hat alles, was er nur will. Ich habe getan, was jeder gute Vater tun würde. Ich habe ihm alles gegeben, was er braucht. Und dann darüber hinaus alles, was er will. Und dennoch giert er nach mehr.
Letzte Woche stand ich in der Buchhandlung. Und begann, mich nicht einmal dort sicher zu fühlen. Unwillkürlich zog es mich von den Kochbüchern fort und ich fand mich vor den Elternratgebern wieder. Ordentlich eingeräumt in beschrifteten Regalen. Elternwerden und Schwangerschaft. Säuglingspflege, Erziehung von Kleinkindern, Schulzeit, Teenager und ihre Eltern. Und dann brach das Regal abrupt ab. Machte einem Gang Platz. Im nächsten Regal fand ich mich bei Kriminalromanen wieder. Meine Hand strich über einen Buchrücken, aber als ich den Band herausnahm und das blutige Messer auf dem Einbandbild sah, wurde mir bewusst, dass ich vom Kurs abgekommen war.
Teenager. Nichts, was danach kam. Mein Problem war dreißig Jahre alt. Beinahe dreißig. Was bedeutet es, dass die Bücherreihen bei Teenagern aufhören?
Steve gähnte herzhaft. Viel zu selten passierte etwas Neues. Alles war eine Wiederholung. Tag für Tag. Es geschah nie genau dasselbe, aber es geschah immer das gleiche. In einer anderen Reihenfolge und an anderen Orten. Aber alles war ähnlich. Immer und immer zu.
Es wurde Zeit. Er konnte es nicht ertragen, noch eine weitere Nacht eingesperrt zu sein. Weit weg von den Orten, an denen er sein wollte. Weit weg von der Welt, die er verdient hatte. So sehr verdient. Wie konnte es nur sein, dass er in dieser Welt leben durfte, der perfekten und wundervollen Welt dort draußen. Aber Steve lebte hier. In den immer gleichen Straßen. Einem Vorort des Lebens, wo nichts je geschah, außer dass die Zeit verging. Seit Wochen hatte er kaum das Haus verlassen. Es wurde Zeit.
Steve musste ihm klar machen, dass es kein Entrinnen gab. Dass sich der entscheidende Moment näher und näher schob. Je tiefer er ihm das ins Bewusstsein dringen ließ, desto näher kam er seinem Ziel. Nacht für Nacht.
Auf dem Nachhauseweg dämmert mir eine Erkenntnis, die ich von mir schieben will, wie saure Milch. Niemand weiß, wie man mit einem Kind umgeht, das beinahe dreißig ist. Man muss die Probleme in den Griff bekommen, solange das Kind noch ein Teenager ist. Dann ist die Phase vorbei, in der man Einfluss hat. Dann schlägt die Waage um.
Ich war zu spät. Ich bin zu spät. Und es gibt nichts, was ich tun kann. Niemanden, an den ich mich wenden kann. Sein höhnisches Lachen in meinem Kopf treibt mich fast zum Wahnsinn. Ich muss dem Gedanken davonlaufen. Aber ich bin niemals schnell genug. Immer wieder holt alles mich ein. Und wenn ich gerade denke, ich wäre entkommen, dann sitzt er auf einem Brückengeländer und baumelt mit den Beinen.
So wie in diesem Moment. Mir bricht der Schweiß aus allen Poren, als ich näher komme und sehe, dass er es wirklich ist. Unter ihm rasen die Autos entlang, dreispurig und schnell. Viel zu schnell. Und viel zu tief unter ihm. Ich will ihn vom Geländer herunterreißen. Wenn er fällt, wird er sterben. Wenn er fällt, wird er sterben. Er wird sterben.
Meine Hand streckt sich nach ihm aus, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Ich will ihn vom Geländer ziehen. Schubsen. Ziehen. Schubsen. Wenn er fällt, ist er tot. Ziehen. Schubsen.
In mir kämpfen der Vater und der Gejagte. Keiner von beiden gewinnt. Mein Arm fällt lose an meine Seite und ich gehe an ihm vorbei, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Sein höhnisches Lachen verfolgt mich. Wieder und wieder.
Steve saß auf der Bettkante. Er war alles andere als müde. Aber er hatte keine Wahl. Er konnte nicht heraus. Eingeschlossen, so wie jeden Abend. Steve hasste diese Phasen. Aber noch hatte er kein Mittel gefunden, dagegen anzukommen. Eine kurze Weile noch, dann würde alles anders. Dann wäre er frei.
Zwei Mal hat er versucht, in den Zug zu steigen. Einfach weg zu fahren. Nicht zurückzusehen. Einmal ist er auch aus der Stadt rausgekommen. Mitten in der Nacht. Vor den Fenstern raste die Dunkelheit vorbei. Ein Baum hin und wieder und Lichter in der Ferne. Unendliche Massen von Lichtern. Einzelne, Gruppen und Galaxien. Aber noch vor Sonnenaufgang hatte er Steve wieder eingeholt. Hatte nicht schlafen können. Vielleicht hatte Steve zu viel Lärm gemacht. Er hatte ihn aus dem Zug geholt und zurückgeschickt. Noch bevor es hell wurde, hatte Steve sich auf dem gleichen Bahnsteig wiedergefunden, auf dem er seit Wochen den Zügen nachgesehen hatte.
Vom Rest der Welt kannte er die Dunkelheit. Aber auch die Lichter. Und das war es, was er wollte. Bei den Lichtern sein. Einen Tag erleben, der nicht vorhersehbar und phantasielos war, sondern neu und immer anders. Mit Menschen. Vielen Menschen, die herumgingen, Dinge taten, die er noch nie getan hatte. Die sie selbst noch nie getan hatten.
Stattdessen saß er auf der Bettkante und wartete darauf, dass sein Vater schlief. Bevor es soweit war, konnte er nicht heraus. Bevor es soweit war, war die Tür verschlossen.
Ich ertrage es nicht mehr. Das Zellophan knistert anklagend, als ich die letzten zwei Tabletten herausdrücke. Erwachsene nehmen eine halbe bis zu einer ganzen Tablette. Die tägliche Einnahme wird nicht empfohlen. Mit einem großen Schluck spüle ich beide auf einmal hinunter.
Ich weiß, dass ich ein Risiko eingehe. Aber bei dem Gedanken an Gesundheitsschäden und an Nebenwirkungen dringt ein Gurgeln aus meiner Kehle. Ich kann das nicht ernst nehmen. Nicht mehr nach dem, was mit mir geschieht. Nur tiefer Schlaf kann mir helfen. Morgen früh werde ich aufwachen und einen schrecklichen Kater haben. Nicht vom Alkohol. Ich trinke nicht mehr, seit all das angefangen hat. Aber von der Welt, in der ich die Nacht verbracht habe. Von den Träumen. Ich hoffe, es ist von den Träumen.
Steve rauchte eine Zigarette und blies den Rauch in langen Atemzügen quer durch das Zimmer. Sein Vater hasste den Rauch. Er konnte ihn einschließen, aber er konnte nie alle Zigaretten fern halten. Und Steve hatte einen Plan. Sobald er schlief, konnte Steve hinaus. Und dann würde er tun, was er schon lange wollte. Etwas ändern.
Ich bin schlauer als er. Heute Nacht habe ich vorgesorgt. Ich habe ihn eingeschlossen. Und ich habe einen besonders schweren Riegel an der Tür angebracht. Den größten, den man sich vorstellen kann. Aber ich weiß, dass das nicht genügen wird. Deshalb habe ich einen Wachmann bestellt. Ihm muss ich nichts erklären. Nicht über meine Motive. Nicht über den Hintergrund. Er wird vor seiner Tür stehen. Die ganze Nacht. Und diese Nacht werde ich schlafen. Zum ersten Mal seit langem schlafen.
Steve drückte den Rest der Zigarette auf dem Boden aus. Er schlief. Und Steve hatte das Gefühl, dass er heute Nacht besonders gut und tief schlafen würde. Sollte er doch. Er würde schon sehen, was er davon hatte. Heute Nacht war der Anfang einer neuen Zeit. Der Plan war noch nicht völlig ausgereift. Aber er würde ihn schockieren. Wenn er morgen früh aufwachte und feststellte, was geschehen war, würde er sich den Fakten gegenübersehen. Schwarz auf Weiß. Genauso wie er es liebte. Aber es würde nichts sein, was er lieben konnte. Heute Nacht würde Steve etwas Grässliches tun. Je scheußlicher, desto besser. Etwas, das so unglaublich war, dass er es sich in seinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen könnte. Dann würde er wissen, wer die Kontrolle übernahm. Dass ein neues Zeitalter angebrochen war.
Ich drifte in den Schlaf hinüber. Mit dem ruhigen Gewissen, dass ich vorgesorgt habe. Alles ist in Ordnung und wird so bleiben, bis ich aufwache und die Kontrolle wieder übernehme. Die Tabletten tun ihre Wirkung und ich treibe traumlos in den Kissen. Traumlos. Traumlos. Traumlos. Wie ein Mantra wiederholt mein Hirn ständig diese Worte. Traumlos.
Das Schloss machte Steve keine Probleme mehr. Er hatte Übung nach all den Nächten. Aber die Tür wollte sich nicht öffnen. Mit Schwung warf er sich dagegen. Noch einmal und noch einmal. Dann gab die Tür nach. Splitter flogen umher und der Riegel fiel klirrend zu Boden. Steve hielt den Atem an. Vielleicht war das zu laut. Aber nichts rührte sich. Er setzte einen Fuß über die Schwelle. Und starrte in die Mündung eines Revolvers.
"Keinen Schritt weiter, junger Mann!" Ein Wachmann in Uniform und mit versteinerten Gesichtszügen stand Steve gegenüber. Der Hahn der Waffe war gespannt. Einen Moment lang war Steve gelähmt. Dann begann sein Hirn zu rasen.
Etwas Grässliches tun. Etwas Unbeschreibliches. Etwas, das ihn in den Wahnsinn treiben würde. Weiter hinein.
Er hatte einen Wachmann vor die Tür gestellt. Er hatte ihn hierher gestellt, um Steve aufzuhalten. Aber das war ein Fehler. Das machte alles leichter, als gedacht. Steve würde nicht einmal das Haus verlassen müssen. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
Seine Bewegungen waren schnell, lautlos und trotz aller Konsequenzen würde es niemals Folgen für ihn haben. In gewisser Hinsicht würde Steve sein altes Leben vermissen, wenn er am Ziel war. Aber nur in dieser Hinsicht wohl.
Als ich aufwache weiß ich, dass er nicht im Zimmer ist. Auch ohne die Augen zu öffnen. Ich weiß es, weil ich seine Anwesenheit spüren könnte, wenn er hier wäre. Aber etwas baumelt. Es sind nicht seine Beine. Etwas anderes. Es ist größer. Ich kann den Schatten sogar durch die geschlossenen Lider sehen.
Ich schlage die Augen auf und wünsche mir, nicht ich zu sein. Nur für einen Moment. Aber ich habe es mir gewünscht und ich schäme mich dafür. Von der Vorhangstange baumelt der leblose Köper des Wachmanns. Blut tropft auf den Boden. Die Lache unter ihm hat sich bereits auf dem ganzen Boden ausgebreitet.
Weit entfernt in der Tiefe des Hauses kann ich sein Lachen hören. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich übergebe mich stattdessen auf meine Bettdecke.
Einen Moment lang frage ich mich noch, wie ich die Leiche beseitigen soll, dann merke ich, dass es mir egal ist. Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wenn ich noch länger hier bleibe. In aller Eile krame ich durch meine Schubladen und werfe wahllos Kleidungsstücke in eine Reisetasche. Meine Brieftasche, die Autoschlüssel. In aller Hast ziehe ich mich an. Beinahe hätte ich auch den Schlafanzug in die Tasche gequetscht. Aber den werde ich nicht brauchen. Ich werde fortgehen. Soweit, dass mich nicht einmal der Schlaf noch einholen kann. Soweit, dass er nicht wissen kann, wo ich bin. Mir diese Dinge nicht antun kann.
Der Wachmann ist meinetwegen gestorben. Ich habe ihm gesagt, was er tun soll. Habe ihm alles gegeben, was ich wusste und hatte. Aber ich habe ihm verschwiegen, dass Steve Macht hat. Macht über mich. Und wahrscheinlich auch über jeden anderen, dem er begegnet. Aber ich glaube, die Macht über mich reicht eigentlich aus in seiner Welt.
Ich bin ihm ausgeliefert. Und jetzt werde ich ihm entfliehen. Werde vor meinem eigen Fleisch und Blut davonlaufen. Mit einem Blick auf den Wachmann finde ich diesen Gedanken nicht nur geschmacklos, sondern auch erschreckend.
Steve lag auf seinem Bett und betrachtete die zerborstene Tür. Den Rauch blies er senkrecht in die Luft. Letzte Nacht hatte er sein Meisterstück vollbracht. Das sollte ausreichen. Mehr sollte nicht nötig sein. Jetzt musste er nur warten. Darauf, was geschah, und auf die nächste Nacht. Dann konnte er in die Tat umsetzten, wonach er sich all die Jahre gesehnt hatte. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.
Das hat er jetzt davon. Erst treibt er mich in diese Richtung. Und dann bekommt er Angst vor seiner eigenen Courage. Und macht einen Rückzieher. Stück für Stück beschränkt er alle Möglichkeiten, aus Angst, was geschieht, wenn man sie nutzt. Jetzt hat er gesehen, wohin all das geführt hat. Die Möglichkeiten und die Beschränkungen.
Das habe ich jetzt davon. Ich habe zugelassen, dass all das geschieht. Mit zwei Tabletten gestern Abend habe ich den Auslöser betätigt. Habe ich das Messer geführt. Habe ich den Wachmann in den Tod geschickt. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre der Wachmann nicht dort gewesen. Wäre nicht einmal Steve dort gewesen.
Ich habe ihm alles beigebracht, was ich wusste. Alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Habe ihn zu einem zweiten Ich gemacht. Und jetzt benutzt er es. Anders als ich es gewollt habe. Aber er lässt sich selbst freien Lauf.
Das ziellose Umherfahren hat mich müde gemacht und die Abenddämmerung erinnert mich daran, dass ich beinahe einen ganzen Tag gefahren bin. Ich habe beschlossen, nach Norden zu fahren. Weil ich dort noch nie war. Und weil Steve nichts darüber weiß. Und weil es Sommer ist, und im Norden die Tage länger sind. Und lange Tage sind das, was ich brauche. Nie mehr schlafen müssen. Schlafen müssen. Für eine Sekunde nur fallen mir am Steuer die Augen zu. Ich verreiße das Lenkrad und entkomme nur knapp der Leitplanke, die zu einem mächtigen Schlag in meine Richtung ausholt.
Unter höchster Konzentration halte ich am nächsten Restaurant. Während ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritze, frage ich mich, wo ich bin, wohin ich will und ob Steve mich finden wird. Oder wann er mich finden wird.
Ich habe mehr und mehr das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Je mehr Macht Steve über mich gewinnt, desto weniger habe ich über mich selbst.
Steve blies weiter Rauch in die Luft. Seine Gedanken waren bei ihm und sahen die Straße vor dem Wagen. Stück für Stück wurde sie unter dem Fahrzeug weggesaugt, während die Landschaft wechselte. Hügel. Städte. Dörfer. Und wieder große Ebenen. Meile um Meile.
Ich kann die Stille nicht mehr ertragen. Im Radio laufen alte Schnulzen, aber ich bin dankbar, dass es keine Nachrichten sind. Ich fürchte mich davor, dass jemand in mein Fenster blickt und den toten Wachmann baumeln sieht. Dann werden sie kommen. Sie werden mich finden, oder nicht? Und ich kann ihnen nicht sagen, wer es wirklich war. Sie wissen nichts von Steve. Niemand weiß von ihm. Der Wachmann wusste es. Er hat ihn gesehen. Aber er ist tot. Ist tot.
Ich wünschte, Steve wäre tot.
Ich wünschte, ich hätte das nicht gedacht. Er ist mein Sohn. Ich kann das nicht tun. Ich darf das nicht tun. Und doch muss ich es tun. Wenn ich es tue... Ich breche den Gedanken ab. Ich kann nicht meinen Sohn töten. Aber wer soll es sonst tun? Was geschieht, wenn er lebt? Kann ich ihm nicht anders helfen? Wenn ich einfach davor weglaufe? Wenn ich mich verstecke? Wenn ich so tu, als ob. Wie ein Kind. Und da ist der Gedanke wieder. Da ist er und lässt mich nicht los. Zwecklos. Ich muss etwas unternehmen. Muss handeln, bevor es mich auffrisst.
Steve drückte eine weitere Zigarette aus. Er hatte rein gar nichts zu tun. Alle Karten waren im Spiel. Jetzt musste er nur noch warten, bis das gesamte Blatt auf dem Tisch lag. Heute nacht würde sein großer Augenblick kommen. Heute Nacht würde es soweit sein. Dann würde er den Rest der Welt erobern und niemand könnte ihn mehr aufhalten.
"…In a city that never sleeps…" Nie mehr schlafen. Dieser Wunschtraum rotiert in meinem Kopf. Wenn ich nie mehr schlafe, überlasse ich ihm nie mehr die Kontrolle. Dann kann ich dafür sorgen, dass er kein Unheil anrichtet. Wenn ich nur nie wieder schlafe. "New York, New York". Das Bild einer Reihe Tänzerinnen in halben Fracks und Netzstrumpfhosen schiebt sich von irgendwoher in mein Bewusstsein. Es dauert einen Moment, bis ich in meiner Benommenheit verstehe, dass es das Lied ist, das gerade im Radio läuft. New York. New York.
Die Stadt, die niemals schläft. Und ich bin schon so weit im Norden. Nur noch ein paar Stunden und ich bin da.
Steve sah die Lichter schon von fern. Er seufzte unwillkürlich auf. Eine Galaxie bunter Sterne, drehend, glitzernd, neu und anders. Er konnte ein freudiges Zittern kaum mehr unterdrücken. Draußen war es beinahe dunkel. Nicht mehr lange und er war am Ziel. Um von da aus neu zu beginnen. Langsam erhob er sich vom Bett und streckte sich. Vor ihm lag eine lange Nacht. Er lehnte sich an den Türrahmen und wartete.
Ich parke den Wagen in einem sündhaft teuren Parkhaus mitten in Manhattan. Als käme es darauf jetzt noch an. Ich will den Wagen in der Nähe behalten. Man weiß ja nie. Und da drin steht er sicher. Außerdem brauche ich ja kein Hotel. Schlafen will ich nicht.
Ich stürze mich in die erste Bar, die sich gerade mit Menschen zu füllen beginnt und vergesse die Zeit. Nur ein Bier. Dann einen Kaffee. Ich kann die Wirkung des Alkohols bis in die Fußspitzen spüren. Bestellt habe ich das Bier mehr aus Gewohnheit. Hätte ich darüber nachgedacht, wie lange ich nichts getrunken habe, dann hätte ich es wohl nicht bestellt. Aber was soll's.
Als die Bar schließt, ziehe ich gemeinsam mit ein paar anderen Unermüdlichen weiter zur nächsten. Und zur übernächsten. Als auch die schließt, bin ich der letzte Gast. Unten an den Docks, meint der Kellner. Da hat vielleicht noch was auf. Oder schon. Man weiß ja nicht. Ich habe Angst, von der Müdigkeit übermannt zu werden.
Ich schleppe mich mühsam hinaus und die Nachtluft weckt mich wieder ein wenig auf. Gut so. Ich werde herumlaufen. Einfach um die Blocks laufen. Und dann werde ich irgendwo frühstücken.
Ich dachte, dass ich in die Richtung der Docks unterwegs wäre. Aber jede Straße sieht hier noch ein wenig verlassener aus, als die vorherige. Ich habe geglaubt, in Manhattan könnte man sich nicht verlaufen. Ich habe geglaubt, die Straßen hätten Nummern, aber hier haben sie Namen und ich habe keine Ahnung mehr, wo ich bin.
Weiter vorne steht ein Mann in einem Hauseingang und raucht. Ich werde ihn fragen, wie ich zu den Docks komme. Langsam bekomme ich Hunger und hier ist alles geschlossen.
Steve konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Manchmal war alles zu einfach. Manchmal fielen die Puzzelteile aus der Schachtel und ergaben gleich das Bild. Er lockerte seine Muskeln ein letztes Mal. Das entscheidende letzte Mal. Dann schwang er langsam den Arm nach hinten.
Als ich wieder zu mir kam, wurde mir nur langsam und undeutlich klar, dass ich zuhause war. Ich lag auf der Schwelle und mir tat alles weh. Ich hustete und mein Mund schmeckte nach Rauch. Dabei hatte ich das Rauchen vor zehn Jahren aufgegeben. Die Tür war zerborsten und der Riegel, den ich angebracht hatte, lag nutzlos auf dem Boden. Ich rappelte mich auf und schleppte mich zum Bett. Er war nicht da. Nichts als ein Haufen Zigarettenkippen und Asche auf dem Boden. Ich hatte Angst vor dem, was er tun konnte, wenn er allein da draußen war. Hatte Angst vor dem, was ich erschaffen hatte. Mein Kopf schmerzte, aber die Erinnerung an New York kam langsam zurück. Bruchstückhaft. Ich verfolgte in Gedanken meinen Weg durch die Stadt bis zu dem Mann im Hauseingang. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Steve blinzelt, dann steht er auf und fasst sich an den Hinterkopf. Der Schlag wird eine Beule hinterlassen. Aber das wird er ertragen. Es ist seine eigene Schuld. Er hat unbändigen Hunger. Und nun wird endlich wahr, worauf er so lange gewartet hat. Er hat übernommen und wird sich das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Es hätte nicht besser kommen können. Er ist in New York. Er hat gewonnen. Diesmal ist es nicht im Morgengrauen vorbei. Dies wird eine lange Nacht. Die letzte Nacht war nur ein Vorgeschmack darauf, wie es wirklich sein kann. Er lässt die Klinge seines Klappmessers im Licht einer Straßenlaterne aufblitzen. Gute Nacht, New York.