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Guter Hoffnung (überarbeitet)
„Wir sind schwanger!“ jubelte Yvonne, und sprang mir in die Arme. Meine Aktentasche knallte zu Boden und ich musste zwei Schritte rückwärts wieder ins Treppenhaus tun, um Yvonnes Gewicht abzufangen. Sie presste sich an mich und überschüttete mich mit Freudenküssen als hätten wir im Lotto gewonnen.
Ich war baff. Vor einigen Stufen waren meine Gedanken vollkommen bei dem Moussaka gewesen, das ich uns Dreien gleich zaubern wollte, und plötzlich hatte den Gute-Laune-Bär an der Brust hängen, und musste mich damit abfinden, noch ein Kind zu bekommen. Und diesmal sogar mein eigenes.
Yvonne ließ von mir ab und hüpfte vor mir herum.
„Heute Nacht kriegst du eine Belohnung“, versprach sie leise und zog sich mit einem anzüglichen Grinsen in die Wohnung zurück.
Dort roch es nach General Bergfrühling, gebratenen Fischstäbchen und Vanille-Duftkerzen. Auf dem Flur lagen Dutzende Duplo-Steine und Matchboxautos, und prompt kam Jonas aus seinem Zimmer gelaufen, um mir in die Arme zu springen, wobei er aber über seinen kleinen, quietschgelben Holzschläger stolperte, bei dem ich immer fürchtete, er würde mal eine Lampe damit zerdeppern.
Jonas schlug hin. Eine Sekunde Schweigen folgte, und dann, wie eine anlaufende Feuersirene, jaulendes Weinen. Schnell nahm ich den Jungen hoch und begann ihn zu trösten.
„Alles gut“, beruhigte ich den Kleinen, der rot angelaufen und mit dicken Kullertränchen auf den Wangen auf meinem Arm hockte und schrie.
„Alles in Ordnung?“ hörte ich Yvonne aus dem Wohnzimmer rufen.
„Alles gut“, wiederholte ich, etwas lauter um auch sie zu beruhigen.
„Siehst du“, sagte ich, als Jonas sich langsam beruhigte, „du sollst deine Sachen nicht auf dem Boden liegen lassen.“ Mit dem Jungen im Arm beugte ich mich runter, stellte den Holzschläger an die Wand und schob den Kleinkram an die Seite.
„Wieder gut?“ fragte ich Jonas. Er nickte nur stumm, und wischte sich die Tränen weg. Dann legte er seine Arme um meinen Hals und kuschelte sich kurz an mich.
Nach unserem Streit am Abend zuvor hätte er das nicht gewagt. Ein gemeiner Junge im Kindergarten hatte behauptet, Fischstäbchen wären aus Fischen gemacht, die der Angler lebend aufschneidet. Da Fischstäbchen Jonas’ Lieblingsgericht waren, hatte er nicht glauben wollen, dass da die niedlichen Fische drin waren, die er aus dem Nemo-Film kannte.
Ich hatte ihm erklärt, in Fischstäbchen seien nur böse Fische, die Nemos fressen, und dass der Angler ihnen vor dem Aufschneiden auf den Kopf haut, wodurch sie ohnmächtig werden und es ihnen nicht weh tut. Aber er hatte davon nichts hören wollen, mit mir kein Wort mehr gesprochen außer ‚Blöder-Ingo’ und mir gelegentlich mit grimmigem Gesicht die Zunge rausgestreckt. Offenbar hatte eine Nacht drüber schlafen seine Meinung über den ‚Blöden-Ingo’ geändert.
„Mama ist lustig“, sagte er mit nun wieder trockenen Augen. „Heute hat sie mit mir getanzt.“
Schmunzelnd gab ich ihm einen Kuss auf den Mund, weil er das nicht mochte. Ich liebte es, ihn ein wenig zu ärgern, und er liebte es noch viel mehr. Er verzog das Gesicht. „Nicht! Ich mag das nicht.“ Dann lächelte er und streckte mir die Zunge raus.
Ich sah ihn gespielt böse an und stellte den Steppke wieder auf den Boden.
„Komm“, sagte er und nahm meine Hand. „Mama hat gesagt, wenn du zu Haus bist, verrät sie ein Geheimnis.“
Eifrig und mit angestrengtem Gesicht versuchte Jonas, mich hinter sich her zu ziehen, also ließ ich mich langsam ins Wohnzimmer zerren, wo die Nachmittagssonne staubige Strahlen auf den weißen Teppich warf. Yvonne hockte auf der hellblauen Couch mit Baumwollbezug und grinste uns an, als wäre sie bekloppt geworden, und nicht schwanger.
Der Kleine krabbelte zu seiner Mutter auf den Schoß, während ich langsam meine Krawatte löste.
„Jonas“, sagte Yvonne, „der Ingo und ich haben uns gedacht, dass es Zeit für dich ist, ein Schwesterchen oder ein Brüderchen zu kriegen.“
Der Junge riss die Augen auf, die leuchteten wie letztes Weihnachten, als wir ihm sein Bobby Car hingestellt hatten. „Wann?“
„Oh. Also, das ist noch eine Weile hin.“
Ich versuchte, mir einen bissigen Kommentar zu verkneifen. Jonas war noch nicht aufgeklärt. Und ich hielt Yvonne für wenig geeignet, das ohne peinliches Stottern, in Würde, zu erledigen. Ein amüsantes Trauerspiel schien nur noch einige Sekunden entfernt.
„Woher denn?“ wollte der kleine, immer neugierige Knirps wissen.
Yvonne geriet ins Stocken, ihre enthusiastische Miene wurde ein wenig ernster und sie warf mir einen finsteren Blick zu, als würde sie ertrinken, während ich an Land mit den Rettungsringen jonglierte.
„Ja“, gab ich Jonas Schützenhilfe, „wo kommen sie denn her, die Brüderchens und Schwesterchens?“ Dazu bemühte ich mich, neugierig zu gucken.
Sie verfluchte mich innerlich, das sah ich ihrem Gesicht an. Doch dann quälte sie sich ein strahlendes Lächeln ins Gesicht und strich Jonas über die Haare.
„Also“, begann sie etwas unoriginell und bereits mit rosigen Bäckchen, „ich und Ingo, wir, ähm, haben uns ja lieb. Und, na ja, wenn ein Mann, also wie der Ingo, und eine Frau, oder so, ein Baby haben wollen, und aber nur, also, wenn sie sich sehr lieb haben, und dann tut der Mann, also Ingo nicht, aber ein Mann, mit seinem Penis das eben der Frau, ähm, in die Vagina der Frau rein.“
Ihre Wangen bekamen die Farbe ausgereifter Tomaten. Vermutlich war sie gerade mächtig froh, dass zumindest die Begriffe Penis und Vagina schon geklärt waren. Ich schmunzelte und zog mich zurück, um meinen Anzug auszuziehen und mich im Bad ein wenig frisch zu machen.
„Und dann hat die Frau ein gaaaaanz kleines Baby im Bauch“, hörte ich im Rausgehen noch, „das da aber erst ein paar Monate wachsen muss, bevor es groß genug ist.“
Am Waschbecken öffnete ich den Hahn und zog mein Hemd aus, bevor ich mich mit dem erfrischend kalten Wasser abschrubbte. Ich würde also Vater werden. Endlich. Ich hatte immer bedauert, dass Jonas nicht mein eigener Sohn war, aber als ich Yvonne getroffen hatte, war er schon ein halbes Jahr alt gewesen.
Sein richtiger Vater hatte sich zu seinem ersten Geburtstag das letzte Mal blicken lassen, und nach einem Streit mit Yvonne nie wieder. Er hatte dem Jungen noch ein 100 Teile Puzzle von Arielle in die kleinen Händchen gedrückt, und Jonas hatte natürlich erst einmal auf der Packung herumgelutscht, wie er es zu dem Zeitpunkt noch mit allem tat, was er in die Hände bekam.
Witzigerweise tat er das eigentlich heute noch. Zu seinem dritten Geburtstag hatten wir ihm ein Winnie-Puh Kartenquartett geschenkt, mit Tigger und Ferkel und I-Ah und den ganzen anderen kleinen Zeichentrick-Knuffeln. Er hatte die Plastikummantelung mit seinen Fingerchen nicht aufbekommen, und angefangen, daran herumzuknabbern, so wie er immer die Folie von dem billigen Wassereis aufknabberte, das er so gerne mochte. Als das aber auch nicht half, hatte er kräftig zu plärren begonnen, bis ich ihm seine Bastelschere in die Hand gedrückt hatte, um die Folie so zu öffnen. Jonas war das zu kompliziert. Er schnitt mit seiner Bastelschere zwar gerne Papier in Fetzen, die er dann überall in der Wohnung herumstreute, darin herumtanzte und sang: „Es schneit! Es schneit!“ Aber die Packung bekam er nicht auf. Also begann er wieder zu knabbern und wieder zu plärren, bis ich ihm das Kartenquartett selber aufschnitt, und dabei stumm die Verpackungsindustrie verfluchte. Clever wie der Junge war, hatte er ein Jahr später, als wir ihm zum vierten Geburtstag den Walt Disney Film Aladdin geschenkt hatten, die Schutzfolie samt Coverbild von der Hülle abgeschnitten, in der Hoffnung, so an das Band zu kommen. Ich und Yvonne hatten Tränen gelacht, als wir die Knabberspuren daran entdeckten. Jonas hatte angefangen zu heulen, weil er meinte, wir würden uns über ihn lustig machen.
Yvonne schlummerte schon auf der Couch, als ich in ein T-Shirt gekleidet aus dem Bad kam, während Jonas auf dem Fußboden mit seinen Autos herumspielte und sabbernd Motorengeräusche machte. Ich kniete mich neben Yvonne hin und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie lächelte schläfrig. „Er ist ganz begeistert und wollte unbedingt wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, damit er im Kindergarten damit angeben kann.“
„Hast du Hunger?“ fragte ich und strich ihr vorsichtig die sandbraunen Haare aus der Stirn.
Mit gespielt entsetztem Blick sagte sie: „Ich bin Schwanger! Natürlich hab ich Hunger.“
Lächelnd stemmte ich mich in die Höhe. „Ich brauch noch Sahne und Kartoffeln für das Moussaka, bin schnell beim Penny.“
Sie warf mir eine Kusshand zu, machte eine Geste, dass sie noch etwas schlafen würde, und drehte sich auf die Seite.
„Alles okay bei dir?“ fragte ich Jonas, nachdem ich mich zu ihm runtergekniet hatte. Er sah mich mit fröhlichen Augen an. „Schläft das andere Baby dann bei mir im Zimmer?“ fragte er. Ich zuckte die Schultern und dachte darüber nach. „Wahrscheinlich werden wir umziehen“, sagte ich, und wieder wurden seine Augen groß. Ich dachte, an dieser Stelle konnte ich ihm eine gute Freude machen. „Und du darfst entscheiden wohin wir ziehen.“
Das Strahlen breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. „Ich will zu Lena ziehen.“
„ Hör zu, Mama will etwas schlafen okay? Also, wenn du spielst, spiel leise. Ich bin kurz einkaufen.“ Er nickte und begann, seine Autos nun ohne Motorengeräusche auf dem Teppich fahren zu lassen.. Ich gab ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn, warf mir meine Trainingsjacke über, schlüpfte in meine Sandalen und verschwand zum Einkaufen.
*
Natürlich hatte ich noch den Schafskäse vergessen, von dem auch nur noch eine halbe Packung im Kühlschrank lag. Dabei war der, kleingerieben und mit Sahne vermengt, das perfekte Topping für ein Moussaka. Als ich die Haustür aufschloss, und erfreut feststellte, dass es nicht mehr nach Fischstäbchen stank, und Yvonne offenbar statt der Vanille-Kerze eine etwas würzigere gefunden hatte, versuchte ich, meine schlechte Laune mit meiner Jacke zusammen auf die Garderobe zu hängen.
„Schatz“, rief ich trotzdem, „hattest du gestern noch Schafskäse gekauft?“ Ich legte die Einkaufstüte neben die Küchentür und ging ins Wohnzimmer. Yvonne lag noch immer auf der Couch, den trüben, dem Wahnsinn verfallenen Blick ihrer zitternden Augen auf mich gerichtet, während mir der Gestank von Urin, Kot und Todesangst in die Nase biss. Ihr irgendwie zerdellt wirkender Kopf ruckte in unkontrollierten Krämpfen herum, als würde er unter Strom stehen, auf ihrem Schoß hockte Jonas, leise summend, und stocherte mit seinen kleinen, babyspeckigen Ärmchen wie ein irrsinniger Chirurg mit nass schmatzenden Geräuschen in dem Schlitz herum, den er in den Leib seiner Mutter gerissen hatte wie ein Angler in seinen zappelnden Fisch. Yvonnes Gedärm breitete sich als endlose rubinrote Schlange über den Teppich aus und wand sich um den kleinen, quietschgelben Holzschläger, der zerbrochen herumlag, nachdem Jonas ihn seiner Mutter auf den Kopf gehauen hatte, damit es ihr nicht so wehtat, wenn er sie aufschnitt. Zwei nicht zu bestimmende Organe lappten durch den Riss, der sich von ihrem Schritt an aufwärts durch den Unterleib zog und aussah, als hätte man ein blutiges Steak mit einem stumpfen Brotmesser aufgerissen. Blut schwappte als dünner Film in Stößen aus dem Spalt, sog sich in die Couch und zog Muster wie auf einem schlechten Drogentrip. Unwillkürlich fand mein Blick die stumpfe Bastelschere, die, nur von einem einzelnen, glitzernden Blutstropfen besudelt, vor der Couch lag.
Jonas drehte sich mir zu, das Gesicht mit braunem, verkrustetem Blut überzogen, als hätte er Schokoladeneis genascht und lächelte mich mit seinen blutverschmierten Zähnen an. „Ich will mal wissen, ob Mama ein Brüderchen oder ein Schwesterchen im Bauch hat,“ kicherte er fröhlich.
Den Blick auf seine blutverkrusteten Zähne fixiert, erinnerte ich mich, wie ungeschickt seine Fingerchen mit der Schere waren, weshalb er die Verpackungen immer lieber aufknabberte. Dann spürte ich die Übelkeit, die mir durch den Hals schoss.