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Gutes All
Damian war der Erste, dem innerlich Flügel wuchsen. Er ging nicht mehr, sondern tänzelte. Er sah nicht mehr, sondern schaute. Er dachte nicht mehr, sondern spürte. Wir kannten Damian als einen schweigsamen und in sich gekehrten Steppenwolftypen, der bei unseren feuchtfröhlichen Reiseleiter-Treffen immer etwas steif wirkte. Schweigsam war er immer noch, doch von Schüchternkeit konnte keine Rede mehr sein. Er stand in Anjas rotem Tanga, den er nur trug, weil sie darauf bestanden hatte, auf seiner Veranda und schwang die Hüften zu dem Psytrance-Mix, der aus seinen Boxen schallte. Ronny grüßte seinen Kollegen von der Dachterrasse aus. Damian streckte Zeige- und Mittelfinger und hottete weiter ab.
“Peace and Love”, murmelte Ronny. “Vielleicht ist er auch nur am trippen?”
“Hab´ isch am Anfang auch gedacht”, sagte Anja. “Aber des geht ja schon drei Tage so. Außerdem wäre er dann noch anspreschbar, odder?”,
“Ja, schon. Es sei denn er hat sich total überdosiert.”
“Also mit dem kannste net mehr redde. Der kennt nur noch zwei Wörter.”
“Und die wären?”
“Gutes All.”
“Gutes All?”
Die Frankfurterin nickte bedeutungsschwer und warf den Lockenkopf in den Nacken. Auf ihren leicht geöffneten Lippen stand eine halb volle Flasche Pere Seda, die sich rasant leerte. Ronny nutzte die Gelegenheit und begutachtete das Dekolleté der Fünfundvierzigjährigen. Sie trug ein eng anliegendes Trägertop, das ihre dicken Nippel betonte. Ihre festen Aprikosenbrüste bedurften keines Bhs. Kaum Falten um den Halsansatz. Seine Kollegin war definitiv fickbar.
Anja warf ihm aus den Augenwinkeln einen kritischen Blick zu, so als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ronny räusperte sich.
“Ehm, seine Eltern. Hast du die schon mal angerufen? Oder seinen Bruder? Er hat doch einen Bruder, oder?”
Nach ein paar letzten gierigen Schlücken setzte Anja den mallorquinischen Rotwein ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
“Ja, hab seine Nummer abber net. Und an sein Handy lässt er misch net ran. Des is ihm heilisch wie nur sonst ebbes. Wenn er mal keine Musik hört, macht er nämlich Videos.”
“Was für Videos?”
Die Frankfurterin kniff sämtliche Mimikfalten zusammen.
“Er filmt sisch selbst. Und dazu drehder sisch dann so im Kreis. Wenn isch dran denk, wird mir schon schlescht. Und dann flüstert er auch noch dazu, in so ´ner komischen Fantasiesproch. Als wär so ´n Dämon in ihn gefahrn. Isch weiß escht net, was isch machen soll, Ronny. Er war so ein fleißiger Gärtner. Jetzt macht er gar nix mehr. Und sei Miet zahlt er auch net...er muss raus Ronny, er muss raus.”
Anja, eine charmante Frohnatur, die ihre Gruppen schon am ersten Tag für sich gewann, war kurz davor zu weinen. Ronny legte schützend einen Arm um sie. Sollte er sie auch küssen? Erstmal so freundschaftlich auf die Stirn? Damian stand auf und schaute zu den beiden auf. Er schien zu schnallen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
“Gutes All?”, fragte er.
Ronny nickte und tätschelte Anjas nackte Schulter. Die Sachlage war klar. Hier wurde ein Mann gebraucht. Jemand, der Damian einschüchtern konnte. Falls es ihm gelingen sollte, hatte er bei Anja schon ein dickes Bein im Bett.
“Ich werd´s ihm mal verklickern”, sagte Ronny und stieg breiten Kreuzes die steilen Treppe zu dem Garten hinunter, der die Finca zu allen Seiten umgab. Er war von gepflegten Hochbeeten durchzogen, auf denen Bohnen, Erdbeeren und Kartoffeln wuchsen. Damian war ein Permakultur-Freak und konnte den ganzen Tag im Garten verbringen.
“Ui, die Vitamine müssen aber mal geerntet werden”, rief Ronny und wies auf einen schwer beladenen Orangenbaum, dessen Früchte in der Nachmittagssonne leuchteten. Damian nickte beiläufig und nahm sein Handy vom Tisch. Ronny setzte sich zu ihm auf die Veranda.
“Der Garten wächst dir so langsam über den Kopf, was?”
Damian verharrte in seiner Trance und nickte im Takt zu über 160 Beats per Minute.
Ronny griff sich den Lautsprecher und drehte den Krach leiser.
“Hey Kollege, ich möchte mal ein ernstes Wörtchen mit dir reden. Geht das?”
Lächelnd drehte sich Damian zu ihm um. Ronny verschlug es den Atem. Die Pupillen seines Kollegen waren daumengroß und das, was von seiner graublauen Iris noch übrig war, rotierte hypnotisch. Sein Blick war so sperrangelweit offen, so durchdringend in seiner Durchlässigkeit. Ronny konnte sich gerade noch losreißen, sonst hätte sich etwas in ihm verrückt. Er presste sich in den Stand, verlor beinahe das Gleichgewicht, stützte sich an der Holzütte ab und kam wieder zu sich, was auch immer das bedeutete. Hinter dem Zwischenich, unwiederbringliche Empfängnis, dachte Ronny und schüttelte den Kopf, um wieder zu vertrauteren Wortwelten zurück zu finden.
“Guuutes All”, sagte Damian, als spräche er zu einem Kind.
“Da bin ich mir nicht so sicher”, sagte Ronny.
“All ist gut”, beschwichtigte Damian oder das, was von ihm übrig war. Dann drehte er den Psytrance wieder lauter, schloss die Augen und bewegte die Arme synchron zu dem gefühlvollen Intro des nächsten Tracks.
Anja begleitete Ronny zum Tor.
“Hast du keine Angst vor ihm?”, fragte er noch ganz benebelt.
“Net so lange isch besoffen bleib´.”
“Aber Anja, das ist doch auch keine Lösung."
“Hast Du ´ne bessere Idee?”
“Ehm, lass mich mal überlegen. Wie hat das denn alles angefangen?”
“Mit seinem neuen Job glaub´ isch. Also erstmal war´s ja ´n Praktikum. Bei so ´m deutschen Privatdetektiv. Dicker Glatzekopp, um die vierzig. Einmal ist er vorbeigekomme, um ihn abzuholn.”
“Weißt du, wie er heißt?”
Anja schüttelte den Kopf.
“Er sollte doch wissen, was passiert ist. Du könntest sämtliche Privatdetektive der Insel durchklingeln.”
“Kei schleschte Idee. Oder isch ruf einfach die Bulle. Oder besser de Krankewage. Des is doch n Fall für die Klapse. Isch kannet mehr, Ronny. Nachts macht er zwar die Musick aus, aber isch kann trotzdem kaum schlafe. Ganz miese Träume, glaubste gar net.”
“Du kannst gerne mal eine Nacht bei mir pennen”, bot Ronny an.
Anja schaute ihm prüfend in die Augen.
“Also nur falls du Lust hast. Ich hab´ guten Wein zuhause”, log Ronny.
“Des is lieb von dir, aber isch kann ja net weg hier. Der brennt mir doch sonst noch die Bude ab oder frisst die Katz´ uff oder was weiß isch.”
"Ist er schon mal agressiv geworden?"
“Nein, des net. Aber du hast ihm doch auch in die Klunker geschaut. Des kannste doch keim erzählen!”
“Da hast du Recht.”
“Der Mann war völlig nackt, als er widderkam. Nackt bis uffs Handy. Die Aisha hat ihn gesehn unn zack - weg warse.”
Aisha war Anjas Perserkatze, eine majestätische Erscheinung, die den ganzen Tag mit ihrer Fellpflege beschäftigt war und es mühelos fertig brachte, aufblickend zu Ronny herabzuschauen. Das schaffte ansonsten nur Schildner, der Gebietsleiter von Nordmann-Reisen, wobei der es mit der Fellpflege nicht so ernst nahm. Ronny wusste nicht, was er Anja raten sollte. Seit seiner Jugend hegte er eine instinktive Abneigung gegen die Polizei oder jede Art von Obrigkeit.
“Frag doch mal Schildner. Der hat doch für alles eine Antwort!”
“Tommy? Ja, stimmt! Hat ja eh nichts zu tun gerade. Und es ist ja auch irgendwie sein Job, uns zu betreuen.”
“So sehe ich das auch. Soll mal was machen für sein Geld. Das wird schon wieder. Lass dich nicht unterkriegen guapa!”
Ronny verabschiedete sich mit zwei Backenküsschen von seiner Kollegin und hängte noch eine Umarmung dran, die kürzer und förmlicher ausfiel, als erhofft.
Er ließ sich natürlich nichts anmerken, aber Ronny fühlte sich ausgenutzt, als er sich in seinen Twingo fallen ließ. In keiner ihrer Whatsapp-Nachrichten hatte Anja die Sache mit Damian angesprochen. “Hast du Lust, auf einen Kaffee vorbeizukommen?” hieß es. Es war immer wieder das Gleiche. Er war nur ein Werkzeug für die Frauen. Der gutmütige Idiot, der sie von ihren verstopften Ausgüssen und kaputten Waschmaschinen befreite oder beim Umzug half. Ronny starrte auf seinen Brief ans Universum, der auf dem Beifahrersitz lag. Es war eigentlich nur ein Zettel mit der Aufschrift “Kaffee mit Sahne”. Aber er hatte ihn in einen Umschlag gesteckt, so wie er es im Internet gelesen hatte. Hätte er seinen Wunsch deutlicher äußern sollen oder war dieses Gesetz der Anziehung nur eine Verarsche? Ronny atmete tief aus. Eine letzte Chance würde er diesem Esoscheiß wohl noch geben müssen.
Der Reiseleiter fuhr über den Camí Vell de Muro nach Hause, eine sechzig Kilometer lange Landstraße, die durch das gesamte Es Plá führte. Mallorcas fruchtbare Ebene bot beste Bedingungen für den Weinanbau, der besonders die Gegend um Binissalem prägte. Die Winzer standen bereits im Feld und schnitten ihre wild ausschlagenden Reben. Wo kein Wein wuchs, blühten die Mandelbäume. Es war Mitte Februar und das sonnige Wetter hatte auch noch die letzten Knospen darin bestärkt, ihre rötlich weißen Blüten auszutreiben. Sie tanzten dicht an dicht im Wind. Jeder Mandelbaum glich einem Cheerleader-Puschel. Bloß nicht aufgeben, dachte Ronny. Er war nicht der einzige chronisch Ungefickte in diesen komischen Zeiten.
Ronny wohnte in Cala Mayor, in einem der renovierungsbedürftigen Hochhäuser, die prägend für diesen Stadtteil Palmas waren. Sein Mini-Apartment glich einem Schuhkarton und es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Wände tatsächlich aus Pappe gewesen wären. Wenn die sympathische Spanierin von nebenan telefonierte, verstand er jedes Wort. Gerade wurde sie jedoch gefickt. Ronny nahm an, dass es ihr Körper war, der rhytmisch gegen die Wand schlug. Sie stöhnte laut. Der Typ schrie aus heiserer Kehle.
“Oh yeah, fuck yeah, ah, Jesus!”
Ein Bild, das den jungen Ronny an der Seite seiner zwei Köpfe größeren Mutter zeigte, wackelte. Dann fiel es auf die Fliesen. Der Glasrahmen zersprang.
“Aaaaauuuuuuuuuuuyeeeeahhhhhh! Auuuauauauauauauauuhuuuuuuuuuyesssssaaah”
Ein letzter Stoß. Dann kehrte endlich wieder Ruhe ein. Ronny kehrte die Scherben beiseite und barg das Foto. Seine Mutter und ihre komische Angewohnheit, ihm die flache Hand auf den Kopf zu legen. Das machte sie bis heute, wenn sie sich sahen. Es musste sich so einiges ändern in seinem Leben. Es war möglich. Es musste möglich sein. Es gab so viele positive Beiträge in den Foren. Ronny griff nach Stift und Papier, setzte sich auf seinen Mini-Balkon und begann zu schreiben:
Liebes Universum,
ich heiße Ronny und ich bin 29 Jahre alt. Ich habe sehr lange keinen Sex mehr gehabt und das macht mich sehr traurig. Wenn Du mir ein Mädchen oder eine Frau schicken könntest, die bereit wäre, mich in ihr aufzunehmen, wäre ich dir sehr dankbar. Muss auch nicht sofort sein. Aber so in den nächsten drei Tagen vielleicht? Meine Eier sind dick wie Golfbälle. Mein Putter ist stahlhart. Und ich bin wirklich nicht anspruchsvoll was die Löcher angeht.
Mit Dank im Voraus und herzlichen Grüßen,
Ronny
P.S: Sag meiner Mutter bitte, dass sie mit dem Handauflegen aufhören soll.
Der junge Reiseleiter steckte den Brief in einen Umschlag und legte ihn unter sein Kopfkissen. Dann warf er sich ein Steak in die Pfanne und schnibbelte eine halbe Zwiebel dazu. Mengte eine Hand voll Spinatblätter darunter. Wendete das Steak. Stellte sich vor wie sein Paarungswunsch gerade als Schwingungsmuster codiert über den Erdball und durch die ganze Galaxie reiste, um von einem Mädchen empfangen zu werden, das genauso notgeil war wie er. Gleiches zog Gleiches an. Pluspol fand zu Pluspol. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich über den Weg laufen würden. Das Gesetz der Anziehung. Es galt für alles und alle. Das Steak roch gut, also nahm Ronny es aus der Pfanne. Er schnitt es an. Siehe da, medium, genauso wie er es sich gewünscht hatte. Ordentlich Ketchup drauf. Dazu der gedünstete Zwiebelspinat. Lecker.
“Lecker, lecker, lecker!”, sagte Ronny und stellte sich vor, wie diese positive Schwingung in den Küchen und Esszimmern des Universums widerhallte, sodass es allen Speisenden gerade ein wenig besser schmeckte. In der Schule hatte er Physik gehasst, aber so langsam konnte er sich für sie begeistern.
Kurz vor dem Schlafengehen schaute Ronny mal wieder auf der Webseite von Nordmann-Reisen nach, wie viele Buchungen bereits für seine Touren vorlagen. Neben den insgesamt sieben Terminen für 2021 standen weiterhin grüne Ampeln für Doppel- und Einzelzimmer sowie der Zusatz: “Es sind noch genügend Plätze frei”. Das hieß leider so viel wie: Es hat so gut wie niemand gebucht und so wird die Tour auf keinen Fall stattfinden. Doch es war ja erst Februar und Ronny glaubte daran, dass seine Touren nicht abgesagt wurden. Da fiel ihm ein, dass das Universum weder “nicht” noch “kein” verstand. Seine Manifestationen mussten positiv formuliert werden. Er glaubte also daran, dass schon noch genügend Kunden buchen würden. Er glaubte daran, dass dieses verdammte Corona-Virus schon bald von den Titelseiten verschwinden würde. Er glaubte daran, dass alles, was er dachte oder fühlte, im All widerhallte. Das Leben war eine Echokammer.
***
Der Schleier lichtete sich. Damian schwebte im Schneidersitz über einem watteweichen Wolkenteppich, auf dem sich bronzefarbene Mädchen räkelten. Sie erinnerten Ronny an Ximena, seine erste große Liebe. Sie kam aus Mexiko.
“Wo bin ich?”
“Weit weg von der Erde. Ganz tief in dir drin.”, antwortete Damian und breitete die Arme aus.
“Das All und das Eine”, verkündete er. Ronny wusste nicht, wie er das verstehen sollte. Eine der indianischen Schönheiten winkte Ronny mit dem Zeigefinger zu sich. Sie lächelte. Sie trug eine Art Krone, aus der Federn ragten. Ein grünlich schimmerndes Amulett schmückte ihren schlanken Hals. Ronny setzte sich zu ihr. Sie sahen sich in die Augen. Er nahm ihre Hand. Dann küssten sie sich. Lange und leidenschaftlich. Und während sie sich weiterküssten, spürte Ronny noch weitere Hände auf seinem Körper. Ein Mädchen leckte an seinen Eiern. Ein anderes blies ihm zärtlich den Schwanz.
“Alle für einen”, murmelte Ronny und fiel kopfüber aus der Wolke.
Dann erwachte er. Sah sich irritiert um. Er war zuhause, in seinem Bett. Seine Unterhose fühlte sich feucht an. Tatsächlich, alles voller Sperma. Das war ihm schon ewig nicht mehr passiert. Ronny griff nach seinem Handy. Es war sechs Uhr sieben. Er hatte eine neue Whatsapp-Nachricht von Anja bekommen, die um drei Uhr zweiundvierzig auf die Reise geschickt wurde: “Danke, dass du gekommen bist. Würde dich doch gerne für ein bis zwei Nächte besuchen kommen, wenn das Angebot noch steht. Kann hier nicht mehr schlafen.”
“Bäm!” rief Ronny und war plötzlich hellwach. Wenn das Angebot noch steht, dachte er. Zweideutiger ging es ja wohl nicht mehr. Ronny überlegte kurz und schrieb zurück:
“Klar, das Angebot steht wie eine Eins. Freue mich auf dich.”
Es war zwar noch dunkel, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Es gab so viel zu tun. Ronnys Apartment war alles andere als vorzeigbar. Die Küche starrte vor Dreck. Überall lag schmutzige Wäsche herum. Das Bett musste neu bezogen werden. Dabei fiel ihm ein: Ronny holte seinen Brief ans Universum unter dem Kopfkissen hervor und küsste ihn. Dann ließ er ihn in der Schublade seines Nachttisches verschwinden. Ronny duschte und rasierte seinen Schwanz, der sich unter einem Büschel wuchernder Schamhaare versteckt hielt. Auch diese lächerlichen zehn Brusthaare, die rund um seine Brustwarzen wuchsen, mussten weg. Das Waschbecken war völlig versparkt. Weiße Schlieren liefen quer über den Spiegel. Als Ronny seinen Putzmarathon gegen elf Uhr beendet hatte, überlegte er sich, was er für Anja kochen sollte. Natürlich musste auch Wein her. Am Besten eine ganze Kiste. Er war schon fast auf dem Weg zum Supermarkt, als sein Handy klingelte. Es war Schildner.
“Es gibt schlimme und noch schlimmere Nachrichten. Welche willst du zuerst hören?”, fragte er.
“Die Schlimmeren.”
“Anja und Damian sind verschwunden. Anja hat mich gestern abend total panisch angerufen und wollte unbedingt, dass ich vorbeikomme, aber ich konnte nicht, dreistündige Telefonkonferenz, die Kinder. Und jetzt stehe ich bei ihr im Garten und die beiden sind weg.”
“Hast du sie schon angerufen?”
“Ihr Handy liegt hier. Das von Damian auch. Sie haben noch nicht einmal das Tor zugemacht, so als ob sie es total eilig gehabt hätten.”
“Scheiße. Ich war ja gestern auch bei ihr und Damian ist echt total durchgeknallt.”
“Ich weiß, Anja hat mir auch schon so einiges erzählt. Deswegen starten wir jetzt eine Suchaktion. Die beiden sind unterwegs zum Teix.”
“Woher weißt du das?”
“Hier auf dem Tisch liegt eine Karte, auf der der Teix grün eingekreist ist. Außerdem bin zu ihr reingegangen und im Schuhregal fehlen die Wanderstiefel. Also: Jürgen startet von Valldemossa aus, Thea kommt über Sóller und den Puig de Morro, ich übernehme die Südflanke und starte beim Landgut Raixa und du kommst von Osten her und parkst deine Karre oben auf dem Coll de Sóller.”
“Jawohl Herr Obersturmführer!”, maulte Ronny, dem Schildners Befehlston gehörig auf die Eier ging.
“Ronny! Wir sind Nordmänner. Wir sind da, wenn man uns braucht.”
“Jaa, ist ja schon gut, ich setze mich in Bewegung.”
“Gut. Handy nicht vergessen. Wir bleiben in Kontakt.”
“Okay. Und was ist mit den nicht so schlimmen Nachrichten?”
“Erzähl ich dir später. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Keine Ahnung, was er mit ihr vorhat. Ich hab´ von Anfang geahnt, dass Damian ein Psycho ist.”
Ronny wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Für ihn gehörte eher Schildner in die Klapse. Passend dazu legte der Gebietsleiter einfach auf. Ronny schnürte seine Wanderstiefel. Sein Rucksack stand wie immer halb bepackt mit GPS, Windjacke und Stirnlampe an der Tür. Ronny steckte noch zwei Bananen, eine Packung Haferkekse und einen dicken Pulli dazu und machte sich auf den Weg, wobei er alles aus seinem Twingo herausholte. Die Drehzahlnadel tanzte im roten Bereich. 135 km/h, Höchstgeschwindigkeit und 15 km/h mehr als auf der Autobahn erlaubt waren. Doch Ronny blieb eiskalt auf dem Gas. Er schaltete das Radio ein, um das Kreischen des Motors zu übertönen. Es lief nur Psytrance, auf allen Stationen. Was sollte das? Internationaler Psytrance-Tag? Ronny schaltete das Radio aus. Wieder ein. Alles wieder wie vorher. Ronny weigerte sich, länger darüber nachzudenken, konzentrierte sich auf die Straße und lauschte dem größten deutschen Auslandsradio.
Das war Lena mit “Skinny Bitch” hier beim Inselradio. Tja, life is a bitch, werden sich heute auch so einige Reiseleiter auf unserer schönen Insel denken. Mehr dazu jetzt in unseren Lokalnachrichten: Bingbangbingbangbang.
Kein Licht am Ende des Corona-Tunnels für Mallorcas Tourismus-Branche. Nordmann-Reisen, ein deutscher Veranstalter von Wandertouren, musste gestern die Insolvenz anmelden. Geschäftsführer Nils Schmidt machte mangelnde staatliche Hilfen für den Bankrott des sechzigjährigen Familienunternehmens verantwortlich. Da Mallorca zu den beliebtesten Zielen des Veranstalters zählte, stehen nun um die fünfzig Reiseleiter vor dem beruflichen-
Ronny schaltete das Radio aus. Das war´s also. Er konnte sich einen neuen Job suchen. Anscheinend wurde so manche Bestellung ans Universum postwendend zurückgesandt. Ronny bog kurz vor dem Tunnel, der schnurgerade nach Sóller führte, auf die Passstraße ab, die sich ebenfalls ins Orangental schlängelte und kaum noch befahren wurde. Arbeitslos. Nur noch einen Tausi auf der Bank.
“Verfickte Scheiße!”, rief Ronny, als er an zwei Schafen vorbeidonnerte, die sich ängstlich an die Leitplanke gepresst hatten. Weiter, einfach nur weiter, vorbei an terrassierten Olivenhainen, vorbei an verschlossenen Toren, deren gusseiserne Spitzen schon so manches Familienglück auf dem Gewissen hatten und hinauf auf den Coll de Sóller, einen fünfhundert Meter hohen Pass, der die östliche Tramuntana von der westlichen Tramuntana trennte. Zur Linken ging es steil hinauf zum Puig des Teix, einem 1064 m hohen Gipfel, den Ronny schon ein paar Mal bestiegen hatte, allerdings noch nie von Westen her. Ronny parkte kurz vor der Trinkwasserquelle Font d´es Teix und spazierte durch das Fabriktor, in der Hoffnung von niemandem entdeckt und aufgehalten zu werden. Dabei hatte er den Rollstuhlfahrer übersehen, der ihn hinter einer Palette von Wasserflaschen bereits ins Visier genommen hatte. Hier dürfe er nicht durchgehen, man könne nur von Valldemossa aus auf den Puig des Teix.
“Warum? Das ist ein Riesenumweg”, jammerte Ronny, der sich die Antwort schon denken konnte.
“Wegen der Jäger”, sagte der Alte und kniff ein Auge zu. Dann tat er so, als würde er eine Wachtel aus der Luft schießen. Ronny winkelte die Arme an und schoss das Magazin seiner imaginären UZI leer. Es hätte Wachteln geregnet. Der Alte nickte amüsiert.
Ronny kehrte auf dem Absatz um, wobei er unfreiwillig eine weitere Drehung vollführte, als hätte er in sich ein Schwungrad angestoßen. Der Alte hielt seine Pirouette für eine weitere Zirkusnummer und verabschiedete sich vergnügt.
Ronny konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Sein GPS zeigte ihm nach etwa einem Kilometer einen weiteren Weg an, der den Westhang zum Puig de Teix hinaufführte. Ronny parkte seinen Wagen hundert Meter vor dem Einstieg am Straßenrand. Dann ging er die Steinmauer entlang, auf der ein Stacheldrahtzaun montiert wurde. Just an der Stelle, wo auf der anderen Seite der Trampelpfad begann, war er heruntergebogen, sodass Ronny mit seinen langen Beinen leicht herüberklettern konnte. Anscheinend hatten hier ähnlich militante Wanderer Vorarbeit geleistet. Das liebte Ronny an Mallorca. Es gab zwar unglaublich viele Hauseigentümer, die sich das Recht herausnahmen, uralte Wege zu beschneiden, aber genauso viele Outdoor-Freaks, die sich das einfach nicht gefallen ließen. Ronny folgte dem Trampelpfad, der einen felsigen mit Steineichen bewachsenen Hang hinaufführte und schon bald an einem weiteren Zaun endete. Doch auch dieser ließ sich in der Nähe eines Hochsitzes leicht überwinden. Schließlich mussten die Jäger ja auch irgendwie vorankommen. Ronny stieß auf eine Geröllpiste, auf der er etwa zwanzig Minuten lang steil anstieg. Dann unterquerte er noch einen letzten Zaun und näherte sich einer Quelle, die als Font des Serpientes, zu deutsch Schlangenquelle, auf seinem GPS verzeichnet war. Er schickte Schildner seinen Standort und schrieb: “Im Osten nicht Neues. Wie sieht´s bei euch aus? War schon jemand auf dem Teix?”
Kurz hinter der Quelle ließ Ronny die letzten Kiefern und Steineichen hinter sich. Die hohe Tramuntana war ein Geröllfeld aus mehr oder weniger zerbröselten hellen Kalksteinen, zwischen denen vor allem die strohblonden Büschel des Dissgrases hervorragten. Im Schatten einer bizarr gezackten Felsens kam Ronny an flächenbildendem italienischen Brandkraut vorbei. Anja war es, die ihm auf einer gemeinsamen Wanderung die Namen der verschiedenen Pflanzen beigebracht hatte. Sie machte ihn mit dem beinahe berauschenden Blütenduft des balearischen Johanneskrautes bekannt und erklärte ihm, wie man eine Pinie von einer Kiefer unterscheiden konnte.
“Anja?”, schrie Ronny. “Aaaanja?”
Eine Ziege meckerte in der Ferne. Ronny zog weiter und hielt auf den Puig de Vedell zu, auf dem er noch nie gewesen war. Sein Telefon klingelte. Es war Schildner.
“Wo bist du?”, fragte er.
“In fünf Minuten auf dem Puig de Vedell. Komme von Osten her.”
“Gut. Wenn du oben bist, müssten dir die beiden entgegen kommen. Sie haben ganz schön Zug drauf. Beeil dich!”
“Okay, wo bist du?”
“Jürgen und ich sind auf dem Teix, aber wir kommen jetzt runter zu euch. Ein Glück, dass ihr nichts passiert ist. Sorg dafür, dass Damian nicht abhaut.”
“Ich geb mein Bestes. Bis gleich!”
Ronny zog seine Windjacke aus und gab Gummi. Er schwor sich schon einmal, Damian nicht in die Augen zu schauen, komme was kommen wolle. Plötzlich flog ein Schatten über die Landschaft. Es war eine rundliche Schäfchenwolke an einem ansonsten wolkenlosen blauen Himmel. Ronny traute seinen Augen kaum, als sie sich langsam senkrecht herabsenkte. Ein durch Kopf und Glieder zerrender Bann ging von ihr aus.
“Ronny bleibt”, murmelte Ronny, während er bereits auf die Anhöhe zustapfte, auf der ein großer Steinkreis zu sehen war. Ein Dreschplatz, wo weit und breit kein Weizen wuchs? Damian und Anja kamen hinter der Ruine eines Schneehauses hervor. Damian sprang völlig nackt in den Steinkreis und begann, sich mit ausgestreckten Armen um sich selbst zu drehen. Anja setzte derweil ihre Weinflasche ab, um sich von ihrem Pullover zu befreien. Auch Ronny wurde es zu heiß. Er warf seinen Rucksack ab und zog im Gehen sein T-Shirt aus. Das Ding in der Wolke stieß einen gleichmäßigen Ton aus, der an einen Staubsauger erinnerte. Dann wurde Ronny Zeuge, wie ein gleißend heller Lichtstrahl auf Damian hinabschoss und ihn vollständig umhüllte. Mit ausgestreckten Armen und einem Lächeln auf den Lippen wurde er in die Höhe gezogen.
“Grundgütiges All”, murmelte Ronny und trennte sich von seinen Wanderstiefeln. Auch die Hose musste weg, er schwitzte bereits in Strömen. Anja betrat das kreisrunde Portal im Evakostüm und begann sich mit der Weinflasche in der Hand um sich selbst zu drehen. Dabei verlor sie jedoch schnell die Balance und knallte auf den moosigen Boden. Froh darum, dass die Weinflasche dabei nicht zerschellte, nahm sie noch ein kräftigen Schluck.
Ronny stieg aus seinen Unterhosen und tänzelte hinein ins heilige Rund. Anmutig drehte er sich um seine eigene Achse. Trance. Aufgehen im All-eins. Ach Sprache, Gedanken, huschhusch und vorbei. Der heilige Strahl umhüllte ihn. Schon schwebte er der Lichtquelle entgegen. Seine Sprache plätscherte friedlich aus ihm heraus. Nur ein Wort sträubte sich und stand mit beiden Silben in der Kehle, um ein letztes Mal gehört zu werden.
“FICKEN!”, schrie Ronny und schlug die Augen auf. Er schwebte für einen Moment in der Luft. Sie lauschten ihm. Sein Wunsch würde erhört werden.
“FICKEN!”, schrie Ronny noch einmal aus voller Kehle. Dann setzte der Lichtstrahl aus. Der junge Mann stürzte aus zwei Metern zu Boden und fiel glücklich.
“Grundgütisches All”, jauchzte Anja und stellte sich in die Mitte des Kreises, um sich langsam aber sicher um sich selbst zu drehen. Der Lichtstrahl flackerte grünlich auf, als er sie erfasste. Anja begriff. So wie sie gekommen war, sollte sie gehen. Die Frankfurterin trennte sich von der Lapislaluzi-Halskette, die sie von ihrem ersten Freund geschenkt bekommen hatte, und ließ ihre Weinflasche fallen. Dann versuchte sie sich noch einmal im Sufi-Tanz, der jedoch schnell wieder zu einem Suffi-Tanz ausartete. Allerdings schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten.
“Nemmt misch mit!”, rief Anja verzweifelt.
Der Lichtstrahl schoss ein letztes Mal hinab und hob die Lapislazuli-Kette vom Boden. Der bläulich schimmernde Stein, der bereits die Totenmaske des Pharaos Tutanchamuns schmückte, wechselte gemächlich den Besitzer. Der Staubsaugerton wurde lauter. Dann verschwand die Wolke so schnell wie sie gekommen war. Weder Anja noch Ronny konnten sich an sie oder ihren angeblichen Lichtstrahl erinnern, von dem Schildner bis heute faselte. Auch wenn er ihnen von Damians seltsamen Verhalten vor seinem noch seltsameren Verschwinden erzählte, oder von ihrer merkwürdigen Nacktheit in diesem noch merkwürdigeren Dreschplatz, zuckten sie nur hilflos mit den Achseln, so als wäre ein Teil ihres Gedächtnisses in eines dieser schwarzen Löcher geraten, die in den Weiten des Universums mahlstromartig um sich selbst kreisen.