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Hänsel und Gretel
Sie sah ihn plötzlich im Baumarkt wieder. Ausgerechnet im Baumarkt, dem Mekka der Kleingärtner und Regalebauer, in das sie einmal im Jahr den Fuss hineinsetzte. Wenn das kein Zufall war, nach all den Jahren. Aber er hatte sich schon immer gern mit Holzarbeiten beschäftigt, schon als Siebenjähriger, als sie ihn zum ersten Mal traf, war sein Zimmer voller seltsamer Konstruktionen und Werkzeuge.
Sie war damals sechs Jahre alt und wurde zu verschiedenen Anlässen von ihrer Mutter mit zur Wohnung der Familie Malke geschleppt, um Kartoffeln zu borgen, Klatsch auszutauschen, neue Couchgarnituren zu begutachten.
“Geht spielen”, wurde den Kindern befohlen und nach anfänglicher Verlegenheit fanden sie und Kai im Spiel zueinander. Er besaß eine beeindruckende Kollektion von kleinen Cowboys und Indianern, komplett mit Pferden und Pistolen. Er ließ die Indianer wild kämpfen und schreien, sie deckte sie anschließend mit kleinen Häkeldeckchen zu, damit sie gut schlafen konnten. Während ihre Mütter sich in der Küche stundenlang über eine gewisse Frau Kowalski ereiferten, erschufen Kai und Nadja kleine Welten, die erst von Cowboys und Indianern, später von Außerirdischen bevölkert wurden.
Auf ihr Drängen hin sang er ihr alle Strophen von “Als ich ein kleiner Junge war, ritt ich durch die Prärie” vor, seine hohe Knabenstimme erklang hell und klar im Zimmer, er schloß beim Singen die Augen und ihr kamen fast die Tränen.
Nie wieder sang in ihrem späteren Leben irgendein Mann so für sie.
Er teilte brüderlich, sie erfand dafür immer neue Spielvarianten. Kurz vor ihrem achten Geburtstag sah sie ihn auf einer Familienwanderung nackt baden und kicherte, in der unbestimmten Ahnung, dass es da etwas zu kichern gab und vergaß ihn sofort wieder, als sie einen kleinen Salamander entdeckte.
Als sie neun Jahre alt war, fand das alljährliche Schulsportfest statt, ein Ereignis, um das ihre Eltern ein freudiges Tamtam veranstalteten und in dessen Vorfeld sie nicht müde wurden, Nadja immer wieder darauf hinzuweisen, ja ihr Bestes zu geben. Sie war nicht unsportlich und schlug sich wacker beim Ballweitwurf und Weitsprung. Der Tag hätte in aller Ruhe ausklingen können, wenn nicht der neue Sportlehrer sich eine besondere Attraktion ausgedacht hätte. An allen Vieren an einem grossen Seil hängend, sollten alle Schüler einen Bach überqueren. Rückblickend war es sicher nur ein Bächlein und eine lächerlich geringe Höhe, in den Augen einer Neunjährigen jedoch war es ein tiefer, reißender Fluss. Und so kam es, dass sie vor Schreck anfing , zu schluchzen und vor Angst ganz starr wurde, als sie an der Reihe war. Der Sportlehrer, ein sadistisches Vieh, der seinen Beruf mit Bedacht gewählt hatte, brüllte sie an:”Na, wird denn das heut’ noch was, aber los, zacki zacki, rauf auf’s Seil!”
Sie war so erschrocken, dass sie sich nicht bewegen konnte. Als der Sportlehrer mit heimtückischen kleinen Augen gerade wieder anfangen wollte, zu schreien, schob sich plötzlich eine kleine Gestalt vor sie. Kai, ihr kleiner,dünner Ritter in viel zu großen ausgewaschenen Turnhosen, wagte es, sich dem Drachen von einem Sportlehrer entgegen zu stellen.
“Sie darf nicht!”, sagte er mit fester Stimme, “sie hatte gerade eine Ohrenoperation.”
Der Sportlehrer schnappte wie ein Karpfen nach Luft.
“Was?”, gurgelte er verständnislos.
“Sie darf nicht so hoch, sie hat ein Attest.”
“Und warum sagt sie das nicht selber?” , brüllte der Sportlehrer, aber er klang ein wenig verunsichert.
”Ihre Ohren tun weh.”
Es war ein wahnwitziger, ein armseliger Versuch, eine Art Sportfest-Kamikaze, aber es wirkte.
Der Sportlehrer schob sie wütend zu Seite, stürzte sich auf sein nächstes Opfer und Nadja verliebte sich in diesem Augenblick mit der ganzen Kraft ihres neunjährigen Herzens.
Kai hatte von all dem nichts bemerkt und sein Verhalten ihr gegenüber blieb gleichmütig freundlich, sie war sein Spielkumpan und zu Hause war alles wie vorher, das einzig Neue war Nadjas heimliche, brennende, schwärmende Zuneigung.
Endlich, nach vier Jahren zahlte sich ihre Ausdauer aus. Kai war mittlerweile vierzehn und blickte sie an einem Nachmittag plötzlich so komisch an, als ob er sie das erste Mal im Leben wahrnehmen würde. Sie war braungebrannt und trug ein dünnes rosa Hemdchen, abgeschnittene Jeans und eine kleine silberne Kette. Sie hatte sich auf sein Bett geschmissen, um eine Bravo zu lesen und er riss sie ihr auf einmal aus der Hand, so dass sie ihm lachend hinterherjagen musste, mit ihm balgen musste, ihn von hinten umfassen musste, was, wie sie natürlich in diesem Moment beide wussten, der Sinn der Sache war. Aber kurz danach klappte die Tür ins Schloß, Mutter Malke wuchtete ihre Einkäufe in den Korridor und meckerte, dass wieder keiner den Abwasch gemacht hatte.
Von diesem Tag an versuchte er, mit ihr allein zu sein. Da das in ihren lärmenden , engen Wohnungen nicht möglich war, holte er sie oft mit dem Fahrrad ab.
An einem schwülen Nachmittag fuhren sie schweigend mit den Rädern durch das Wohngebiet, als er plötzlich fragte: “Hast du Lust, ein Stück weiter zu fahren?”. Obwohl nicht ganz klar war, was genau ‘weiter’ bedeutete, rief es doch ein warmes Gefühl von Abenteuer in ihr hervor, gekoppelt mit noch etwas Anderem, Neuem, dass sie nicht zu benennen wagte.
Sie fuhren in den Wald.
Es war ihr ein bißchen unheimlich, denn sie wusste nicht genau, wo sie waren, aber Kai schien sich auszukennen, und so machte sie sich keine Gedanken. Es war kühl und vollkommen still, bis auf das Knacken der Zweige, die sie mit ihren Rädern zermalmten.
“Guck mal!”, rief Kai plötzlich überrascht.
Vor ihnen erschien, wie aus dem Nichts, eine Lichtung, mit einer winzigen, zerfallenen Gartenhütte darauf. Als sie näherkamen, konnten sie noch Reste von einem Gartenzaun erkennen, ein kaputtes Fenster, ein kaputtes Schloss an der Tür. Sie stellten die Räder ab und gingen hinein. Modriger Geruch schlug ihnen entgegen, es war dämmrig, feucht und alles andere als gemütlich. Kais Feuerzeug erzeugte einen glimmernden kleinen Schein, in dem man ein altes Sofa entdecken konnte.
“Schicke Couch!”, flüsterte Kai und grinste. Er stand ganz nah an ihr dran, so nah, dass sie die kleinen blonden Härchen an seiner Oberlippe sehen konnte. Es war, als hätten die ganzen letzten vier Jahre auf diesen Moment hingezielt.
Draußen vor der Tür krachte es.
Sie sprangen beide erschrocken zur Seite. War es der erzürnte Besitzer dieser armseligen Parzelle, der jeden Moment hier hereinkommen würde, oder noch schlimmer, die Polizei?
Doch durch die Tür schob sich der schwammige Kopf des stadtbekannten Verrückten, Alkohollikers und Kinderschrecks, ein stinkendes , riesiges Individuum , das von aller Welt nur “Kutte” genannt wurde.
“Na, ihr Schweine”, begrüßte er sie, “fickt ihr gerade?”.
Sie spürte instinktiv, dass etwas nicht in Ordnung war, etwas anders war, dies war nicht der sabbernde, lethargische, betrunkene Kutte, dem kleine Kinder “Stinkemann” hinterherriefen.
Er war seltsam erregt und fuhr sich immer wieder mit der Zunge über die fetten, spröden Lippen.
Aber Kai, voller kampfeslustiger Testosterone in seinem Jungenkörper, sagte lässig: “Halts Maul, Kutte!”.
“Sei still”, wollte sie ihm zurufen, “reiz’ ihn nicht”, aber sie bekam keinen Ton heraus.
Sie roch Kuttes Dunst, noch bevor sie den Schmerz wahrnahm, mit dem seine rauhe Männerhand ihre winzige Brust quetschte, diese noch unfertige Kleinmädchenbrust, welche sie wie einen Schatz vor der Welt gehütet hatte. Sein irres Vollmondgesicht hing genau über ihren Augen, pestilenzartiger Zigarrengeruch erstickte sie fast und seine Zunge hing ihm aus dem Mund, er versuchte, ihr Gesicht zu lecken.
“Lass sie in Ruhe!”, hörte sie Kai wütend schreien, er musste wohl auch an Kutte gezogen haben, denn es gab einen Ruck, gefolgt von einem lauten Grunzen, mit dem Kutte seine Faust in Kais Gesicht trümmerte. Sie sah nichts als Blut, sah Kai zu Boden gehen und fühlte plötzlich eine lähmende Angst – Kai konnte ihr nicht helfen. Kutte drosch auf Kai ein, sie hörte Kai schreien, husten und, was am schlimmsten war, wimmern. Sie versuchte, an Kutte vorbei zur Tür zu gelangen, verfing sich in irgendwelchem Drahtzeug auf dem Fußboden und schlug der Länge nach hin. Kuttes massiger Körper stand über ihr und hechelte sinnlose Silben, in seiner Hand hielt er eine haarige weiche Masse, aus der wie ein Fahnenmast ein blauroter Knoll herauswuchs.
Auch wenn sie so etwas noch nie aus der Nähe gesehen hatte, wusste sie in diesem Moment voller Panik, womit sie es zu tun hatte.
Sie weinte unkontrolliert und schrie“bittenichtbittenicht!”, ohne zu wissen, was sie tat.
“Ich sage es Kurt”, hörte sie plötzlich Kais Stimme, zitternd, aber dennoch deutlich, “ich sage es Kurt, du Dreckschwein, und dann bist du erledigt.”
Kurt war der Kneiper der “Post”, der schlimmsten Kaschemme der Gegend, ein primitiver Bulle mit dem nicht zu spassen war. Die “Post” war sozusagen Kuttes Wohnzimmer.
Kais magische Worte verfehlten auch diesmal nicht ihre Wirkung,
Kutte schlug mit der Faust an die Tür und stolperte hinaus. Die Sonne schien plötzlich durch die blinden, kaputten Scheiben und strahlte milchige Streifen in das dämmrige Hütteninnere.
Kai heulte wie ein wundes Tier, Tränen vermischten sich mit Blut und Rotz, er stieß sie von sich, als sie ihren Arm um ihn legen wollte. Wie besessen radelten sie nach Hause, nur einmal hielten sie an, weil Kai sich übergeben musste.
Nadja, erfuhr nie, wie Kai die Wunden in seinem Gesicht seinen Eltern erklärt hatte, denn er sprach nach diesem Nachmittag kein Wort mehr mit ihr. Sie vermied es ihrerseits ebenso, irgendein Wort verlauten zu lassen, nicht zu ihren Eltern, nicht zu ihren Freundinnen. Sie weigerte sich nur, Zucker oder Eier oder sonstwelche Dinge “mal schnell zu Malkes zu schaffen”.
Es war, als hätten sie ein letztes stilles Einvernehmen getroffen, den Vorfall zu ignorieren, ihn wegzuschweigen, aus ihrem Leben zu verbannen.
Sie schauten weg und wechselten notfalls die Strassenseite, wenn sie sich begegneten.
Erst als Kai neunzehn war, fing er wieder an, ihr einen knappen Gruss zuzunicken. Einmal sah sie ihn mit seiner späteren Frau, einer reizlosen, wuchtigen Person, ein Schrank von einer Frau, wie ihr Vater spöttisch bemerkte. Sie fand nichts Komisches daran. Diese Frau erfüllte offenbar Wünsche und Bedürfnisse in Kai, die keiner sonst erfüllen konnte. Sie beschützte ihn vielleicht, kein Kutte würde es wagen, sich mit ihr anzulegen.
Und jetzt stand er zwei Meter vor ihr im Baumarkt. Ihre Füße zogen sie magisch in seine Richtung, ihr Verstand hielt sie zurück. Was sollte sie auch sagen, etwa: ”Hallo, lange nicht gesehen, erinnerst du dich noch an unsere lustige Kinderzeit, wo dir ein debiler Perverser das Gesicht zu Brei geschlagen und mich beinahe vergewaltigt hat?”
Kutte hatte sich seitdem längst zu Tode gesoffen, sie beide aber lebten, wenn auch in verschiedenen Welten.
Nadja nahm ihre Tasche aus dem Wagen, drehte sich um und ging zum anderen Ausgang hinaus.