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Híronimo ist so gut wie tot
Sie haben mich verbannt. Verbannt in die Wirklichkeit.
Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen. Irgendwann tue ich es doch. Mich schmerzen die Muster der Realität. Viel später bewege ich meinen Arm. Er fühlt sich taub an, die Hand kribbelt leicht. Noch viel später ziehe ich die Infusionsnadel aus meinem Zugang, den Katheter von meinem Penis. Ich richte mich auf. Das Zimmer ist grau, obwohl ich weiß, dass es das nicht ist. Zumindest hatte der Schrank mal eine grüne Tür.
Irgendwo brennt ein Licht. Im Korridor, glaube ich. Mein Schädel pocht. Ich schäle mich aus der Decke und setze die Füße auf den Boden. Etwas ... riecht unangenehm.
Vor dem Bett liegt Kleidung. Jeans, Hemd, Schlüpfer. Als ich die Sachen anziehen will, stutze ich ... ich bin es, der unangenehm riecht.
Nach der Dusche fühle ich mich besser. Das heißt ... eigentlich nicht.
Ich bin raus. Offline. Híronimo ist so gut wie tot.
Räucherstäbchen mit Pastella-Aroma verbreiten scharfen Duft im engen Magasín do Ingredí Magíqe. Der Mann, der vor dem deckenhohen Regal mit bunten, pastellfarbenen und schwarzen Umhängen im schummrigen Licht steht, ist kein Kunde. Er trägt einen grauen Hosenanzug und die leuchtend grüne Schärpe der Agentes regíme. Der Text auf dem Papíe decísione, das er Híronimo vors Gesicht hält, erklärt wortreich eine einfache Tatsache: »Ich bin verbannt«, keucht Híronimo, »für einen Monat!«
Sein Gegenüber nickt nur. Híronimo ist es egal, ob es ein menschlicher Avatar ist, der ihm die Nachricht überbringt, oder ein Sim, vom Computer gesteuert. Es ist sein Todesurteil. Die Zeit in Aqventuría bleibt nicht stehen, während er offline ist. Seine Figur wird hinter der Theke sitzen und ins Leere starren. Keine Einnahmen, er steht vor dem Ruin. Selbst wenn der Laden abgeschlossen ist – Schutzzauber nutzen ab, Diebe freuen sich über die leichte Beute und treiben perverse Späße mit dem willenlosen Hampelmann auf dem hölzernen Stuhl.
Beim Gedanken daran wird Híronimo schlecht. Er spürt einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sein Leben als Zauberer ist vorbei. Das ist schlimm.
Aber am schlimmsten wird es sein, sich wieder in der richtigen Welt zurecht zu finden.
Ich halte das nicht aus. Ich muss ihn suchen, den Weg zurück.
Ich finde im Tiefkühlfach ein Thunfisch-Baguette. Es schmeckt wie Luft und liegt im Magen wie Müll.
Zwischen der ganzen Werbung in meinem Briefkasten ist ein Probeexemplar von einem Ruhrpott-Magazin. Aus Langeweile blättere ich darin. Es gibt neuerdings einen Selbsthilfekreis für Online-Spielesüchtige. Süchtig bin ich nicht. Aber Aqventuría ist lebendiger als die Wirklichkeit. Es macht Spaß, ich kenne eine Menge Leute ... ich muss einen Weg zurück finden. Ich kann nicht einen Monat hier draußen bleiben. Es tut weh.
Ich habe mir am heißen Baguette die Lippen verbrannt. Den Schmerz betäube ich mit Berieselung.
Der Fernseher verurteilt mich zu Passivität. Nach zwei Stunden mache ich ihn aus.
Draußen tönt ein Hupkonzert. Als der Verkehr wieder fließt, höre ich ihn zum ersten Mal. Ein Rauschen, das wie eine schlechte Kopie der Wälder von Aqventuría klingt.
Ich blättere wieder in dem Magazin. Hinten stoße ich auf die Kontaktanzeigen.
An fünf oder sechs schicke ich identische E-Mails: Bin auch einsam und in einer langweiligen Welt. Wir können uns gegenseitig bemitleiden, das ist netter als allein, aber vielleicht fällt uns auch noch was besseres ein. Ich hänge ein Foto von mir an, das ein halbes Jahr alt ist. Es zeigt mich lächelnd und mit nacktem Oberkörper.
Der Text ist einfallslos. Ich rechne mit keiner Antwort. Nach einer Stunde kommt eine von Anja aus Mülheim. Ihre E-Mail ist ziemlich kurz, aber sie enthält eine Telefonnummer.
Wir telefonieren eine Stunde, dann beschließen wir, uns in einem Café zu treffen.
Ich spüre ein leichtes Kribbeln, als ich in Mülheim aus dem Zug steige. Das erste angenehme Gefühl, seit der Agent mich aus dem Spiel geworfen hat.
Anja und ich verstehen uns blendend. Ich erzähle von Aqventuría. Sie auch. Sie ist lange Zeit dort gewesen, eine Hexe. Ihr Computer hat vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben, und sie hat kein Geld für einen neuen. Ich halte ihre Hand. Mit der anderen raucht sie und fummelt an ihren blonden Strähnen herum.
Wir scheinen uns ewig zu kennen. Aber das ist Unsinn. Sowas gibt es nur in schlechten Hollywood-Schmonzetten, nicht in der Realität.
Als es langsam dunkel wird, gehen wir trotzdem zu ihr.
Híronimo sitzt auf seinem Stuhl aus dunklem Holz. Die untergehende Sonne taucht sein junges Gesicht in warmes Licht. Draußen tönt der lebendige Lärm der Menschen, Elfen und vor allem der Zwerge.
Der graue Agent ist längst gegangen. Er hat Híronimo noch seinen schmalen Laden abschließen und sich hinsetzen lassen, dann hat er das unsichtbare Signal gegeben.
Vor Híronimos regungslosem Gesicht liegt das pergamentene Urteil auf dem Tisch. Irgendwo darauf steht die Begründung: »Wiederholter sexueller Missbrauch von dazu nicht vorgesehenen simulierten Figuren unter durch Magie ausgeübten Zwang.«
Híronimo scheint ruhig zu schlafen.
Wir reden darüber, dass man nicht am ersten Abend miteinander ins Bett gehen sollte. Ich stimme ihr zu. Der Sex mit den Zwergdryaden des südlichen Waldes von Aqventuría war sowieso viel geiler.
Wir schweigen.
Irgendwann schläft sie ein, und ich durchsuche ihre Wohnung. Im Regal über dem Computertisch finde ich einen Ordner mit Unterlagen, in dem hinten ein Blatt mit hingekritzelten Passwörtern klemmt. Aber das zu Aqventuría ist nicht dabei.
Eine zeitlang liege ich wieder neben ihr im Bett. Ich höre ihren Atem. Rieche ihren Körper. Nur die Zukunft sehen kann ich nicht.