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Höhenangst
Sie hatte Höhenangst. Jedes mal, wenn sie auf einem Balkon oder an einem Fenster stand, merkte sie, wie eine unsichtbare Kraft sie nach unten zog. Die Angst zu fallen war dann das einzige, was sie fühlen könnte. Deshalb hatte sie es auch gehasst, in die neue Wohnung zu ziehen. 10. Stock. Sie konnte sich nicht einmal darüber freuen, dass ihr Zimmer riesig war, fast 25 m², und durch das große Fenster im Osten jeden morgen goldenes Licht fiel und den hellbraunen Parkettboden beschien.
Während sie die Feuerwehrautos, tief unter ihr, zusammenfahren sah und Schritte die Treppe hinaufkommen hörte, musste sie an den Morgen in der Schule denken.
„Scheiße“
Eine Träne rann über ihre Wange.
„Nicht weinen, dieses Arschloch bringt dich doch nicht zum heulen.“
Sie schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Sie hatte in seine schrecklich blauen Augen gesehen. Andere hätten sie vielleicht schön blau oder azur blau genannt. Zu denen hatte sie bis heute morgen auch noch gezählt. Aber jetzt waren sie nur noch schrecklich.
„Nein, Mia, tu es nicht!“
Was nicht machen?
„Es war nicht so gemeint, es war anders als du glaubst, Mia!“
Sie ging einen Schritt zurück, weg von den Stimmen, hin zum Abgrund. Die, die ihren Namen gerufen hatten, verstummten schlagartig. Einer löste sich aus der Gruppe, die immerhin noch kurz hinter der Tür zum Treppenhaus stand, das vom Dach führte. Natürlich war es Felix. Seine blauen Augen sahen ein wenig schuldbewusst aus. Zu wenig, entschied sie, ging noch mal einen Schritt zurück.
„Geh, geh weg, oder ich mach es!“
Er blieb stehen.
„Komm, Mia, das bringt doch nichts, es war nur ein Scherz!“
„Haha, sehr witzig! Pass auf, das ich nicht noch vor Lachen vom Dach falle. Es war schon ziemlich lustig, mich immer zu ignorieren. Und dann, als ich es fast nicht mehr ausgehalten habe...“
Dann hatte er sie endlich wahrgenommen. Hatte sie eingeladen. Felix, der so perfekt war, dem sie schon seit ihrem ersten Tag in der neuen Schule hinterhergelaufen war. Die Monate, in denen keiner mit ihr sprach hatte sie nur von einer Berührung mit ihm geträumt. Er hatte sie eingeladen, war mit ihr im Kino gewesen. Aber jetzt...
„Nein, denk da nicht dran, das macht alles nur noch schlimmer“
Sie war hier nie glücklich gewesen. Hatte nie mehr gelacht. Und seit diesem... Ding mit Felix am Morgen war alles noch schlimmer geworden. Als sie ihn jetzt ansah, fingen ihre Augen an zu brennen. Sie schloss sie, damit ihnen keine Träne entkam. Er sollte nicht sehen, wie sehr es wehtat.
Kaum waren ihre Lider geschlossen, sah sie wieder alles vor sich. Herrn Klein, den Lehrer, der vorher mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte, dass er versuchen wollte, ihr den Einstieg in die neuen Klasse so leicht wie möglich zu machen. Sie sah, wie genau dieser Herr Klein den Zettel vorlas, mit lauter Stimme, wie seine Augen vor Schadenfreude nur so glänzten. Sie hörte förmlich noch, wie alle lachten, wie ER lachte, wenn auch nicht ganz so breit und so laut wie sonst.
Irgendwo, in einer der Mädchenzeitschriften ihrer Schwester, wahrscheinlich in „Sugar“ oder „Yam“, hatte sie gelesen, dass es nichts schlimmeres gäbe, als wenn der Freund über das Telefon Schluss macht. Diese Schreiberlinge hatten keine Ahnung von der Realität einer 16- Jährigen. Die schlimmste Art, eine Beziehung zu beenden, ist öffentlich. Und wenn dann noch zufällig alle plötzlich wissen, dass er dich nur genommen hat, weil er dachte, du seiest leicht rumzukriegen, ist die Hölle.
Sie hatte ihn geliebt. Oder das wenigstens geglaubt. Jetzt fand sie ihn nur noch schrecklich.
„Schrecklich, ekelhaft, zum Kotzen, Arschloch, Schwein“
Sie hasste sein Lächeln, die Art, wie er jetzt um Worte rang, um sie daran zu hindern, hasste seine blauen Augen. Vor allem die hasste sie.
Sie hatte sich schon öfter überlegt, Tabletten zu schlucken. Ging aber nicht, weil ihre Mutter nur homöopatische Medizin kaufte und benutzte. Und diese kleinen weißen Kügelchen konnte man bekanntlich in Massen schlucken, ohne irgendeinen Schaden anzurichten.
Eine andere Möglichkeit wäre natürlich gewesen, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Aber sie war wehleidig. Schon ein aufgeschürftes Knie trieb ihr die Tränen in die Augen.
Da war diese Möglichkeit immer noch die beste!
„Es war nicht so, wie du denkst, Mia! Peter hat mir den Zettel geschickt, er wollte mit seiner Freundin Schluss machen, nicht ich mit dir!“
Sie wollte ihm glauben. Nichts hätte sie lieber getan. Aber sie hasste es, wie er versuchte, sie anzulügen. Er war ein miserabler Lügner.
Mia atmete tief durch. Sie machte einen kleinen Schritt.
Nach vorne. Sie schlug ihn ins Gesicht, trat ihn, stürmte auf die Treppe zu und rannte, rannte um zu vergessen.