Haarsträubend
Er saß lange auf der kalten Treppe.
Er saß dort eine Ewigkeit.
Der kalte Novemberregen hatte seine Kleider längst durchweicht. Er vergrub die Hände in den Taschen seiner leichten Jacke. Sie waren wie Eiszapfen. Er seufzte und sah zu, wie sein Atem gefror. Es war so kalt geworden. Ganz furchtbar kalt. Er hockte dort auf der Treppe und dachte an sie, bis es wehtat.
Er dachte auch, daß er vielleicht nie mehr aufhören könnte, an sie zu denken. Daran, wie sich ihr Haar im Wind bewegt hatte. Sie hatte gesagt, daß sie ihn liebte. Irgendwie hatte er ihr geglaubt. Warum hätte sie ihn auch belügen sollen? Da war kein Grund. Überhaupt kein Grund. Wenigstens keiner, den er sah.
Sein Hintern würde bald fest frieren, wenn er nicht endlich aufstand. Auch daran dachte er. Aber es war ihm egal. Es spielte keine Rolle.
Ein Auto fuhr vorbei. Als das Licht der Scheinwerfer sein Gesicht berührte, wandte er die Augen ab. Soviel Licht, das tat weh. Im Augenblick war er ganz zufrieden damit, einfach hier im Dunkeln zu sitzen. Im Regen, der bald Schnee sein würde. In der Kälte. Hier war es still. Hier hörte er keine Stimmen mehr. Auch nicht in seinem Kopf. Er senkte den Blick zwischen seine Knie und dachte an sie. Ihr langes braunes Haar. Er hatte es so oft berührt. Es war leicht gewesen. Im Wind. Da war alles leicht. Er hatte einmal geglaubt, er selbst könnte fliegen. Mit ihr. Sie hatte in sein Ohr geflüstert. Worte, die einer Offenbarung glichen. Und immer war die Rede von der Ewigkeit gewesen. Immer hatte sie ihm diese ewigen Versprechen gemacht und immer hatte er ihr geglaubt. Warum auch nicht? Sie hatte keinen Grund gehabt, ihn zu belügen.
Wieder ein Auto. Er zog den Kopf ein. Seine Brust tat weh. Dort, wo das Herz war. Er dachte an sie und weinte ein bißchen. Dann hatte er das Gefühl, seine Hände würden allmählich wärmer. Vor allem die rechte. Er konnte sie wieder spüren. Langsam nahm er sie aus den Taschen und sah sie an. Die Finger waren bleich und zittrig. Die Flecken sahen in diesem Licht fast braun aus. Fast wie Schokolade. Wenn man es nicht wußte, würde man sie auch genau dafür halten. Er lächelte ein wenig. Lächelte und betrachtete seine Hände. Kleine Hände waren das. Zarte Hände. Sie waren nicht gemacht für die Arbeit, die er auf dem Bau zu leisten hatte. Bald würde er wieder damit aufhören, sich etwas Neues suchen. Das schwor er sich. Das schwor er sich jetzt seit zwei Jahren. Heute zum letzten Mal.
Schwor er sich. Es regnete wieder mehr. Er steckte die Hände zurück in die Taschen. Er dachte an ihr Haar. Manchmal hatte sie es hochgesteckt. Aber nur sehr selten. Sie hatte gewußt, was die Männer von ihrem Haar hielten. Sie hatte es gewußt, damit gespielt.
Ein Auto.
Das dritte seit....seitdem er hier war.
Es fuhr vorbei. Niemand nahm Notiz von ihm. Wieder wandte er das Gesicht vor den grellen Scheinwerfern ab. Die eine Seite war etwas dunkler, wirkte in dem schwachen Licht fast schwarz. Wie eine aufgemalte Maske an Halloween. Nur daß es keine Maske war. Und Halloween war längst vorbei.
Jetzt zog er nur die rechte Hand aus der Tasche. Sie hielt etwas umklammert, das lang war und sehr dunkel. Er hielt es sich vor die Augen, die sich schnell mit Tränen füllten. Wie sehr hatte er ihr Haar geliebt. Gott allein wußte das.
Auf einmal waren da Schritte hinter seinem Rücken. Er fuhr herum und erblickte eine krumme Gestalt irgendwo in der Dunkelheit über der Treppe. Die Gestalt schloß soeben die Eingangstür hinter sich. Die Tür, die er beim Hinausgehen offen gelassen hatte.
„Ist das ´ne Perücke? Echt cool, Mann! Aber Halloween war schon letzte Woche. Du bist echt zu spät dran, Mann.“
Er nickte der Gestalt zu. Die Gestalt nickte zurück und ging dann an ihm vorbei die Treppen hinunter. Es war zu dunkel, um irgend etwas zu erkennen. Er hoffte inständig, daß in diesem Moment kein Auto kam. Denn im Licht der Scheinwerfer würde die Gestalt vielleicht sehen, was die dunkle Farbe in seinem Gesicht und an seinen Händen wirklich war. Das wollte er nicht. Aber die Gestalt war weg, bevor das nächste Auto kam. Er atmete innerlich auf. Noch immer hielt er dieses Ding in der Hand, das in der Dunkelheit wie eine Perücke aussah. Er legte es auf seinen Schoß und fing jetzt an, es zu streicheln.
Sie hatte Haare bis zu den Hüften gehabt. Langes braunes Haar, er wäre dafür gestorben. Nur, daß am Ende alles anders war. Am Ende war er noch am Leben. Er seufzte, streichelte das Ding in seinem Schoß, das in dem zunehmenden Regen schnell pitschnaß wurde. Dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, verteilte mehr dunkle Farbe auf seiner Stirn. Egal. Niemand da, der es sehen konnte. Nur wieder ein Auto. Und Autos hatten keine Augen.
Gott, diese Haare. Damals, als sie sich zum ersten Mal auf dem Rücksitz seines schäbigen alten Dodges liebten, waren diese Haare überall gewesen. Er war förmlich in ihnen versunken. Und als er zum Höhepunkt gelangte, hatte er sich verrückterweise vorgestellt, sie würde nur aus Haaren bestehen. War das nicht irre? Er fragte sich heute, wie er wohl darauf gekommen war. Jedenfalls hatte die Vorstellung ihm gefallen. Er hatte den Orgasmus seines Lebens gehabt. Den wollte er auch jetzt. Sein Atem ging immer schneller, während seine Finger verkrampft in dem weichen Ding auf seinem Schoß herumfuhren. Er leckte sich die Lippen und schmeckte Blut. Es hatte auch nicht schlecht geschmeckt, ihr Haar. Er hatte es bei einigen Gelegenheiten im Mund gehabt. Mit einem leichten Stöhnen hob er erneut die Hände. Das lange dunkle Ding wanderte zu seinem Mund. Er fing an, es zu küssen und daran zu saugen. Wieder schmeckte er Blut und wunderte sich kurz, bis ihm einfiel, was er da oben in der Wohnung mit ihr gemacht hatte. Klar. Das Blut war dort sicher überall. Er konnte sich nicht genau erinnern, glaubte aber, daß er sogar darin ausgerutscht und auf dem Hosenboden gelandet war. In der Küche war das gewesen. Genau dort, wo er sie auch getötet hatte. Mein Gott, war das die Wahrheit?
Ja, dachte er und ließ nachdenklich wieder davon ab, den Skalp seiner toten Freundin zu küssen. Ja, das war die Wahrheit. Er hatte sich irgendwie vergessen, als sie anfing, von einer Trennung zu sprechen. Ihr Haar war die ganze Zeit offen gewesen und sie hatte sich unentwegt bewegt. Himmel, er war so geil gewesen. Aber sie wollte nichts mehr von ihm wissen.
Und dann die Sache mit dem elektrischen Messer. Teile von ihr waren in der gesamten Wohnung zu finden. Nur einer, der beste eigentlich, war jetzt hier bei ihm. Er knüllte das Bündel Haare zu einem dicken Knäuel zusammen und steckte es sich wieder in die Tasche. Seine Hände hatten jetzt noch mehr von den dunklen Flecken abbekommen. Und seine Hose auch. Nicht, daß das wichtig gewesen wäre.
Das mit dem Skalp hätte er sich gar nicht zugetraut. Daß er in der Lage war, einen Menschen zu töten, ja, das hatte er gewußt. Es war ein häufiger Bestandteil seiner sexuellen Phantasien gewesen. Aber der Skalp....das gab es ja sonst nur in Indianerfilmen. Und solche hatte er noch nie gemocht. Den Mist sah er sich erst gar nicht an. Trotzdem war es ihm ganz gut gelungen. Weit entfernt von perfekt, aber...okay. Das Ding würde sich ganz gut über seinem Bett machen. Da wollte er es nämlich aufhängen. Neben einem Poster von Madonna. Eines, wo sie lange Haare hatte. Scheiße, er liebte Madonna mit langen Haaren. Auch wenn es nur Perücken waren. Das war ihm egal.
Er erhob sich langsam und stieg die Treppen hinunter. Seine Schuhe hinterließen dunkle Abdrücke, die nicht vom Regen waren. Die Straße war feucht und schwarz. Kein Auto kam mehr vorbei. Es war ein kleiner Ort und es war spät. Gut für ihn. Seine rechte Hand wanderte wieder in die Tasche. Langsam bekam er einen Steifen. Er grinste verlegen vor sich hin.
Frauen und Mädchen mit langen Haaren. In seinen Träumen kamen sie vor, seit er zehn war. Aber jetzt brauchte er keine mehr von ihnen. Seine Freundin hatte ihm am Ende gegeben, wonach es ihm am meisten verlangt hatte.
Sie war diejenige, die für ihr Haar gestorben war. Sie und nicht er.
Skalpiert hatte er sie über dem Spülbecken. Danach hatte sie ihm überhaupt nicht mehr gefallen. Er hatte sich gefragt, was er je an ihr gefunden hatte. Wert war sie es trotzdem gewesen. Denn am Ende war ihm das von ihr geblieben, was ihm ohnehin immer am besten gefallen hatte.
Ihm wurde auf einmal klar, daß er sie auf der Stelle verlassen hätte, wenn sie sich die Haare hätte schneiden lassen.
Und daß sie dann jetzt bestimmt noch leben würde.
Der Gedanke erschreckte ihn, deshalb führte er ihn lieber erst gar nicht weiter.
Die Nacht war noch jung und da war soviel Spaß, der ihn Zuhause erwartete.
Es war doch so schön zu wissen, daß man in der Lage war, sich auch ohne Frauen zu vergnügen.
Die bedeuteten schließlich nichts als Ärger.
Manchmal ärgerten sie einen zu Tode.
ENDE