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Hainichturm
Uwe ging zum Hainich und stürzte sich vom Hainichturm. Tot.
*
„O mein Gott, o mein Gott, das ist Wahnsinn! Hast du schon gehört, Jochen?“
„Was denn, Sebastian?“
„Uwe ist tot!“
„Uwe ist tot? Tot?!?“
„Ja Mensch, der hat sich vom Hainichturm gestürzt, gestern.“
„Woher weißt 'n das?“
„Das weiß ich vom Peters, dessen Vater ist doch bei der Polizei. Gestern mittag soll das passiert sein-“
„O mein Gott! Und ausgerechnet der Uwe – der war für mich immer solch ein Glückspilz: guter Musiker, guter Schüler, nette Freundin – was ist denn jetzt wohl mit der Sabine?!?“
„Die beiden haben sich doch gestritten, am Freitag...“
*
„Nun beruhigen Sie sich doch bitte, Frau Schönacker, bitte beruhigen Sie sich!“
Sabine war hilflos in sich zusammengesunken und weinte unaufhörlich. Weinte, schluchzte, jammerte, wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt.
„Bitte-“, Hauptkommissar Peters legte ihr die Hand auf die Schulter, „bitte beruhigen Sie sich. Ich habe bereits eine Polizeipsychologin aus der Kreisstadt angefordert, die wird bald da sein, aber bis dahin müssen Sie mit mir vorlieb nehmen, ja?“
„Ja!“, schluchzte Sabine, „ja!“
Allmählich ebbte das Schluchzen ab und die junge Frau kam nach und nach zur Ruhe.
„Übrigens können Sie ruhig 'Sabine' zu mir sagen. Ihr Sohn ist mit mir in einer Jahrgangsstufe.“
„Also gut, Sabine, dann erzählen Sie mir mal: Was ist überhaupt passiert?“
„Also am Freitag-“ - Schluchzen - „am Freitag, da war doch der Sockenball im Gymnasium, und ich – und ich - ich hatte mich mit Uwe dafür verabredet...“
Wieder begann sie heftig zu weinen.
„Ist ja gut.“ Hauptkommissar Peters legte beruhigend und besänftigend seine mächtige Pranke auf die schmale Hand der Schülerin.
„Wir hatten uns verabredet, aber Uwe wollte später kommen, nein, er musste später kommen, weil er noch Klavierunterricht hatte – und ich hab gesagt – hab gesagt -“ wiederholtes Schluchzen „ich hab gesagt: 'Ich geh dann schon mal vor!'-'Jaja, amüsier dich gut!', hat er mir noch zugerufen, und dann war er auch schon auf dem Heimweg---“
Wieder wurde sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.
„Und dann?“, fragte der Hauptkommissar behutsam.
Dann – dann war ich abends da, bei dem Sockenball... und da war auch der Thomas aus unserer Stufe... der Thomas, der hat mich immer schon – sehr nett gefunden... also der Thomas... wir standen dann so 'n bisschen rum, haben auch mal zusammen getanzt... - und Uwe kam einfach nicht!“
Sabine schluchzte wieder los, fasste sich gleich wieder:
„Gut... der war ja nun auch bei seiner Klavierstunde... und irgendwann – irgendwann“ - wieder schluchzte sie laut auf, fing sich dann - „irgendwann – wir hatten schon reichlich Bier getrunken, da wurde der Thomas plötzlich zärtlich, nein, nicht zudringlich, eher zärtlich... hat mir zunächst mal ganz behutsam einen zarten Kuss auf die Wange gehaucht, und das fand ich auch gar nicht unangenehm“, sie weinte leise, „und da, da hab ich ihn zurückgeküsst, so im Spaß, so wie gute Kumpels das schon mal machen... aber für Thomas... für Thomas...“ - Schluchzen - „also für Thomas bedeutete das wohl mehr... - er nahm mich plötzlich in die Arme, so richtig fest, liebevoll, und dann --- dann“ - Schluchzen - „dann küsste er mich auf den Mund, so richtig draufgängerisch, und ich wollte das nicht“ - Schluchzen - „und wollte das wiederum doch...“ - Schluchzen - „ich mag das eben, dieses Draufgängerische-“
Sie begann wieder heftig zu weinen.
„Ist ja gut, Sabine, ist ja gut.“
„Und da – und da“ - Schluchzen - „zu dem Zeitpunkt... da war es ja auch noch nicht so schlimm... da hätten wir beide“ - Schluchzen - „da hätten wir beide doch noch zurück – zurückgekonnt -“
Sie schüttelte sich verzweifelt.
„Aber dann sagte Thomas auf einmal: 'Komm mit!' - 'Komm mit!' - und ich... ich leistete auch gar keinen Widerstand mehr... - wir waren beide nicht mehr nüchtern – Thomas... ging mit mir... in die Dusche... der Sockenball war in der Turnhalle, und die Duschen waren im selben Gebäude, natürlich, die gehören ja – die gehören ja dazu... Die Duschen waren direkt in der Nähe, und doch – und doch – war man dort ungestört – dachten wir – und ich dachte ganz kurz auch mal an Uwe und kam mir so schlecht vor... und ich wollte es doch eigentlich nicht... und dann wieder doch... - o Gott, ich war so durcheinander!“
Erneut wurde sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.
„Ich wollte das nicht!“ schluchzte sie hysterisch auf.
„Was geschah dann?“, fragte Hauptkommissar Peters gelassen, mit der allergrößten Seelenruhe.
„Es – es war doch auch – schön – wenigstens am Anfang – für einen kurzen Augenblick – Thomas... Thomas war so zärtlich – und so stark – und dann... dann plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Uwe stand neben uns! Das war – das war wie ein Donnerschlag!... wie ein Donnerschlag für uns alle drei! Ich habe Uwe noch nie – noch nie – so gesehen – so... so sprachlos... und zugleich... - so wütend! Wie ein wildes Tier! Er stürzte sich zunächst auf mich, er schrie los, er beschimpfte mich, und dann haben die beiden Jungs sich geprügelt, das war so fürchterlich, das heißt Uwe hat Thomas eingeschlagen – und der hat die Schläge nur abgewehrt – und geschrien hat Uwe, geschrien wie ein Wahnsinniger! Und dann kamen auch schon andere Schüler angelaufen und haben die beiden getrennt – und ich hab mich geschämt, ich hab mich so nackt gefühlt, so ausgeliefert, und da hat Uwe sich plötzlich umgedreht und hat mich angeschrien, 'Du Hure!!!', und dann ist er weggelaufen, und ich wollte hinterher und hab geschrien 'Uwe, bleib stehn, bitte, es tut mir leid, Uwe!', aber der hat nichts mehr wahrgenommen, ist weitergelaufen wie ein Automat, aus dem Gebäude, über die Straße und weiter, immer weiter...“
Sie weinte heftig.
„Und ich... ich musste mich erst mal wieder... wieder richtig anziehen, und dann... dann bin ich nach Hause getrottet... wie betäubt... und dann hat sich etwas in mir aufgebäumt, ich wollte retten, was zu retten ist, ich habe bei Uwe zu Hause angerufen, aber er ging nicht dran an sein Handy. Und dann hab ich seinen Vater angerufen, und sein Vater hat gesagt 'Uwe, der hat sich eingeschlossen, der macht nicht auf, was ist denn los, habt ihr euch gestritten?', und da hab ich aufgelegt, und heute morgen... heute morgen-“
Sabine weinte jetzt zum Gotterbarmen.
„O mein Gott, das kann ich nie wieder gutmachen, das geht nicht, das wird nie wieder so sein, wie es war!“, schrie sie völlig entfesselt.
„Frau Schönacker!... Sabine!... Sabine, beruhigen Sie sich doch bitte, Sabine!“
„Aber es wird doch nie – nie – nie wieder so sein, wie es war!“ jammerte Sabine jetzt lautstark und völlig verzweifelt.
„Sicher“, versuchte Peters die Situation in den Griff zu bekommen, „sicher, es wird nie wieder so sein, wie es mal war, aber...“
„Es wird... es wird – nie wieder – nie wieder gut!“ heulte Sabine hysterisch.
„Nein, es wird wieder gut. Es wird zwar nie wieder so, wie es mal war, aber es wird anders und es wird bestimmt auch wieder gut-“
„Ich hab ihn umgebracht!“
„Bitte, Frau Schönacker, Sabine, bitte, beruhigen Sie sich! Sie haben ihn nicht umgebracht! Es war nicht toll, was Sie gemacht haben, aber Sie haben ihn nicht umgebracht, er hat sich selber umgebracht, er ist freiwillig aus dem Leben geschieden-“
„Freiwillig!“, schniefte Sabine, „das war nicht freiwillig, das war, weil ich ihn so verletzt habe, weil ich nicht treu war, weil ich mich auf Thomas eingelassen hatte! Haben Sie denn kein Mitgefühl?!?“
„Doch, natürlich habe ich Mitgefühl. Aber Sie, Sie dürfen sich nicht schuldig fühlen für Taten, die Sie überhaupt nicht begangen haben-“
„Ich fühle mich aber schuldig!“
„Sabine, Sie brauchen jetzt Hilfe, professionelle Hilfe.“
„Was meinen Sie mit 'professioneller Hilfe'?!? Denken Sie, ich bin verrückt?!? Ja, ich bin verrückt, ich bin verrückt geworden, völlig verrückt, denn stecken Sie mich doch eben in die Klapse!-“
„Ruhig, ruhig, Sabine, bitte! Niemand will Sie in die Klapse stecken, Sie brauchen aber dringend menschlichen Beistand. Meine Kollegin wird sich gleich mit Ihnen unterhalten, und Sie wird Ihnen dann auch einige Adressen geben...“
*
Am Aschermittwoch wurde Uwe beerdigt. Seine Eltern, seine Geschwister, seine Verwandten und seine Freunde, seine Schulkameraden und seine Lehrer, sie alle waren gekommen. Sabine fehlte.