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Hallo, ich bin Nina
Da war sie wieder, ich dachte, mich trifft der Schlag.
Müssen Engel eigentlich arbeiten? Was? Was habe ich mich da gerade gefragt? Ich glaube, ich bin verrückt! Das kann doch nicht mein Ernst sein.
Aber so ein himmlisches Wesen wäre früher doch genau mein Fall gewesen. Naja früher, aber doch nicht jetzt mehr. Nicht mit meinen 43 Jahren und nicht jetzt, wo ich durch eine frische Trennung angeschlagen bin.
Oder war das der Grund, war es gerade deswegen? Ich kam jedenfalls nicht mehr klar, ich war einfach nicht mehr Herr meiner Sinne und meine Gefühle machten etwas mit mir, was ich lange so nicht mehr erlebt hatte.
Ja, ich war angeschlagen, sehr sogar. Angeschlagen von einer unverhofften Trennung und einem völlig unnötigen Kleinkrieg in der Scheidungsphase. Mein Psychologe meinte irgendwann, ich müsse unbedingt mal aus meiner gewohnten Umgebung weg und raus aus meinem Alltag, raus aus dem ganzen Schlammassel.
In eine Klinik, dort andere Menschen treffen, auf andere Gedanken kommen, mich behandeln lassen und es mir einfach nur wieder mal gut gehen lassen.
Ich hatte dazu eigentlich keine Lust und „es mir gut gehen lassen“ stand für mich in letzter Zeit im Fremdwörterlexikon. Er aber machte mir alles richtig schmackhaft und als Bonbon durfte ich mir die Klinik selbst aussuchen.
Und so suchte ich und fand schließlich eine Klinik in meiner zweiten Heimat, in Bayern. Und das direkt am Chiemsee.
Tja und da war ich nun, frisch eingetroffen. Alles war so groß und ungewohnt. So viel war gestern direkt auf mich eingestürzt, ich kam ja kaum zum Luftholen. Es ging richtig rund, Anmelden, Zimmerbezug, die ersten Ablaufpläne und dann das Abendessen.
Und dann auch noch nach dem Abendessen um 19.00 Uhr ein Pflichttermin, der erste Infotermin für alle Neuankömmlinge. Der war im Nachbargebäude, in einem Raum für ca. 50 Leute. Etwa so viele waren wohl auch angekommen, denn der Raum war gut gefüllt. Man grüßte freundlich, jeder suchte sich ein Plätzchen, wo er „nicht angreifbar“ war und kundschaftete doch etwas verschüchtert die Umgebung und seine neuen Mitgenossen aus.
Um 19.00 Uhr sollte es losgehen, wenige Minuten vorher kamen sie, eine kleine Fünfer-Delegation der Klinik, was immer sie auch darstellten. Und mitten drin sie, eine kleine zierliche Person mit wunderschönen braunen lockigen Haaren und einem Gesicht, das für Engel-Figuren Modell gestanden haben muss. Ich war regelrecht schockiert.
Auf vieles war ich vorbereitet, ich wusste ziemlich genau, was ich wollte, aber auf so etwas war ich nicht gefasst. Nicht gefasst, so etwas Hübsches und so ein natürliches Wesen hier in der Klinik zu treffen. Ich war doch von meiner Trennung angeschlagen, ich wollte doch hier nur meine Ruhe haben, mich erholen und wieder zurück in mein Leben finden. Und Frauen, sie waren doch erst einmal tabu für mich.
Sie saß mit drei anderen irgendwo in der Ecke, vermutlich gehörte sie zum Fußvolk der Klinik, denn keiner der drei dort Sitzenden wurde vorgestellt.
Lediglich die beiden, die sich am Pult mit dem Vortrag abwechselten, stellten sich und ihre Funktionen kurz vor. Ich habe nichts verstanden, nichts von dem mitbekommen, was sie sagten.
Verflixt, warum lachen die denn jetzt alle? Was hat der da vorne denn gerade erzählt? Verdammt, was war denn los mit mir? Konnte mich denn eine einzige Person so verwirren? In so einer kurzen Zeit? War ich denn wirklich so angeschlagen?
Mein Kopf war zu. Voller Gedanken, die dort Achterbahn fuhren. Ich bekam einfach keine Ordnung hinein. Immer und immer wieder musste ich zu ihr rüber schauen, das war wie ein Zwang. „Rüber schielen“ war der bessere Ausdruck, denn ich wollte mich doch nicht blamieren, nicht schon am allerersten Tag. Das Gequatsche da vorne dauerte und dauerte, eine Sekunde kam mir so unendlich lange vor. Am liebsten wäre ich aufgestanden und auf mein Zimmer verschwunden.
Als ich wieder Mal ganz unauffällig rüber schielte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Verdammt, sie wird mich doch nicht ertappt haben. Ich glaube, ich habe in dem Moment einen Herzkasper bekommen, in den nächsten Minuten war die Ecke, in der sie saß, für mich absolut tabu.
Später, in meinem Zimmer, war restliches Einräumen angesagt, Infos lesen und dann war auch schon Schlafenszeit, absolut ungewohnt für mich um 23 Uhr. Aber an Schlaf war nicht zu denken, meine lange, über fünfstündige Fahrt, die ganzen neuen Eindrücke und vor allem …sie. All das ließ mich nicht schlafen, ich glaube, es war fast schon Morgen, als ich endlich einschlief.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück stand wieder eine Info auf dem Programm, dieses Mal nur auf die Gruppe bezogen, in der man „gelandet“ war. Hieran nahm das gesamte, für die Gruppe zuständige Personal teil, angefangen von unserer Stationsschwester bis hin zum Stationsarzt. Und wieder war sie dabei. Sie trug dieses Mal ein Kleid, das sie noch viel hübscher wirken ließ. Ich dachte nur noch bei mir, ich muss hier raus. Am besten direkt wieder abreisen, das halte ich nicht aus. Aber das war ja nicht machbar.
Irgendwann wurden sie uns reihum vorgestellt, ihr Name war Nina, sie war gerade mal 29 Jahre jung und das vierte Jahr an der Klinik.
Und sie war eine unserer Psychologinnen. Auch das noch, hatte sich denn alles verschworen? Klar, ich wusste ja, dass wir in der Klinik psychologisch betreut würden, aber Psychologen sind doch männlich und alt.
Im Gegensatz zu den meisten anderen bin ich nur mit wenigen Problemen angereist. Nun aber hatte ich welche und das ausgerechnet durch jemanden, der eigentlich helfen sollte. Ich weiß nicht, wie ich mich gefühlt habe, kann man denn gleichzeitig normal und doch verrückt sein? Irgendwann sprach sie ein paar Worte zu uns, ich habe keines verstanden, ich habe wie ein verliebter Teenager nur dem Klang ihrer Stimme gelauscht.
Ich weiß nicht mehr, wie der Tag verlief, aber ich war mit Behandlungen und Vorträgen derart eingedeckt, dass ich kaum Zeit zum Nachdenken hatte und so langsam fand ich wieder in die Normalität zurück, zumal von Nina nichts mehr zu sehen war.
Der dritte Tag verlief ohne Probleme, mittlerweile hatte ich mich mit einigen meiner Mitpatienten schon etwas angefreundet, dadurch war ich abgelenkt.
Dann kam der Schock. Am vierten Tag stand für mich das erste psychologische Einzelgespräch auf dem Plan. Um den jeweiligen Patienten mit seinen Eigenarten und Verhaltensweisen besser beurteilen zu können, fand dieses Erstgespräch im Zimmer des jeweiligen Patienten statt.
Pünktlich um 10.00 Uhr klopfte es, sie stand im Türrahmen. Die Klinik hat 3 Psychologinnen und einen Psychologen, warum ausgerechnet sie, warum muss man mich bloß so quälen? „Hallo“ sagte sie, „ich bin Nina und ich bin für dich während deiner Zeit bei uns als Psychologin zuständig.“
An das vertraute „Du“ musste ich mich erst etwas gewöhnen, ich habe damit keine Schwierigkeiten, aber es war doch ungewohnt, dass man sich in dem Therapiekreis allgemein duzte, also auch mit den Schwestern und Therapeuten, lediglich die Ärzte waren davon ausgenommen.
„Ich weiß Nina“, sagte ich, „ich warte doch schon die ganze Zeit auf dich“, nahm sie in den Arm und küsste sie. Meine Antwort und der Kuss aber spielten sich leider nur in meiner Phantasie ab, ich weiß nicht mehr, was ich alles so hin gestottert habe. Es wurde ein halbstündiges Gespräch mit gegenseitigem Herantasten und Bekanntwerden. Natürlich kam ich nicht dran vorbei, ihr auch ein paar Komplimente zu machen, worauf ich doch dann den dezenten Hinweis bekam, dass es nicht um sie gehen würde. Aber ich war halt gefesselt von ihr, sorry, das klingt dramatisch, aber ich habe das Gespräch wohl ziemlich versaut. Denn ich bekam von Nina einen ordentlichen Rüffel, dass ich mich doch bitte etwas mehr konzentrieren solle, aber ich bekam auch hin und wieder so ein verfluchtes warmes Lächeln.
Ich riss mich zusammen, aber als Psychologin musste sie doch merken, was mit mir los war. Aber ach was, was bilde ich mir bloß ein? Ihre Verabschiedung war ziemlich hart und riss mich doch ein wenig aus meinen Träumereien: „War nett, dich etwas kennenzulernen, aber an deinen Problemen müssen wir doch noch ganz schön arbeiten.“
Ja, Nina, du bist aber doch mein Problem, hätte ich am liebsten gesagt, aber so habe ich nur irgendetwas gemurmelt. Dann war sie weg und ich war wieder alleine, alleine mit all meinem Gefühlschaos und meinen Achterbahndanken.
Das Klinik-Programm war ziemlich straff gehalten, außerdem hatte ich mittlerweile tolle Mitstreiter kennengelernt, sodass ich meist abgelenkt war. Schlimm aber, ja ganz schlimm, war die Zeit abends alleine auf meinem Zimmer vor dem Zubettgehen, mit all den Gedanken und Gefühlen.
Ich hatte Nina immer mal wieder gesehen, nie ganz aus der Nähe, aber ich glaubte immer ein liebevolles Lächeln zu erkennen, wenn sie mich sah, aber was erträumt man sich nicht alles.
Freitags enden alle Behandlungen um 14 Uhr. Um 15.00 Uhr treffen sich dann gruppenweise die rund 25 Patienten mit ihren Fachärzten und Therapeuten zu einem Erfahrungsaustausch über die vergangene Woche und allgemeine Fragen. Die Klinik legt sehr viel Wert darauf, dass niemand am Wochenende alleine bleibt und so werden Vorschläge gemacht. Als Folge hängen dann an der Gruppen-Pinnwand Vorschläge und Fragen wie z. B. „Wer will mit uns am Sonntag nach ….“ „Ich würde am Sonntag gerne mal nach München fahren, hat jemand Lust und Zeit…? Eine schöne Idee, so muss keiner alleine bleiben, wenn er es nicht möchte.
Aber ich hatte irgendwie keine richtige Lust, mich schon jemandem anzuschließen, es war doch alles etwas viel gewesen. Und so vertrödelte ich den Samstag, nutzte ihn aber auch, um im Ort noch ein paar Kleinigkeiten zu kaufen, vor allem ein paar Süßigkeiten für meine Nerven. Das war ja nicht verboten.
Sonntags raffte ich mich dann doch mal auf und fuhr zu dem in der Nähe liegenden Hausberg, um dort ein wenig zu wandern. Aber die Idee hatten wohl mehrere aus der Klinik, sodass ich kaum mal alleine war und immer wieder auf welche aus der Klinik traf.
Obwohl ich ja sehr kontaktfreudig bin, brauchte ich aber doch etwas Abstand und mal etwas Ruhe. Es hat mir auch richtig gut getan, einfach mal nichts zu machen.
Es gab viele unterschiedliche Behandlungen und Therapien, einzeln, aber auch in verschiedenen Gruppen. Da viel Wert auf die psychologische Betreuung gelegt wurde, hatte jeder zwei Einzelstunden à 60 Minuten und 3 Gruppenstunden à 90 Minuten pro Woche. In der Gruppe waren wir zu zwölft, die beiden Psychologinnen, die wir hatten, waren Nina und Iris, sie wechselten sich meist ab, ab und zu waren sie auch zu zweit.
Meine Einzelstunden bei Nina waren dienstags und donnerstags. Da ich dienstags angereist war, hatte ich in der ersten Woche ja bisher nur die eine Therapiestunde am Freitag morgen gehabt, oder besser gesagt, es war ja eigentlich nur eine Kennenlernstunde bei mir im Zimmer gewesen. Die zweite Therapiestunde fand in ihrem Büro statt, eingeplant war eine ganze Stunde. Hier ging es dann schon ganz schön ins Detail.
Man musste Wochen vor Therapiebeginn viele Unterlagen vorab an die Klinik schicken, u. a. auch, was passiert war, welche Probleme man hatte, warum man in diese spezielle Klinik gekommen war und vieles mehr. So konnten sich die Ärzte und Therapeuten bereits vorbereiten. Nina hatte Teile daraus vor sich liegen und so kamen nun Fragen über Fragen.
Ich hatte ein sehr schönes Leben gehabt, aber das Schicksal hatte in letzter Zeit unbarmherzig zugeschlagen und ich tat mich sehr schwer, das alles in Worte zu fassen. Aber ich musste ja, ich habe auch nichts beschönigt, aber es gab Situationen, da konnte ich nicht mehr, weil ich Tränen in den Augen hatte.
Aber Nina drängte, sie gab keine Ruhe, Mitleid kannte sie wohl nicht. Hatte ich mich so in ihr getäuscht, das war kaum etwas Liebenswertes, jedenfalls wurde ich ein paar Mal von ihr halbwegs angeblafft, ich solle dies und ich solle das und ich musste weitermachen.
Ich war …, was war ich? Ich weiß es nicht. Enttäuscht? Verärgert? Auf alle Fälle aus meinen Träumen gerissen, Das war nicht die Nina, die ich kannte oder besser, die ich mir zurechtgeträumt hatte. Nein, die war ja fast skrupellos. Ich war erst mal bedient und froh als ich wieder auf mein Zimmer kam.
Ich gebe zu, ich habe geweint, lange und bin dabei eingeschlafen. Ich hatte Gottseidank keinen Termin mehr und so ließ ich alles einfach so laufen. Ich war schon wieder absolut durch den Wind, aber dieses Mal voller Enttäuschungen. Aber war ich nicht selbst schuld daran? Mein Gott, wie konnte ich denn so blöd gewesen sein. Wie konnte ich denn erwarten, dass eine solche junge Frau für mich etwas übrig haben würde. So wie sie aussah, war sie doch längst vergeben. Mein Gott, was war ich doch ganz schön dämlich gewesen.
Ich hatte mich in etwas hineingesteigert und die Realität absolut aus den Augen verloren. Ich hatte mir alles so schön erträumt, es war ja so einfach gewesen, es war ja keiner da, der mir meinen Traum wegnahm.
Mittwochs hatte ich Gruppenstunde, dieses Mal nur bei Iris, komisch, ich war auch irgendwie froh, nicht auf Nina zu treffen. So dauerte es 2 ganze lange Tage, bis ich wieder auf Nina traf.
Sie war wie ausgewechselt, so freundlich wie vorher, sie lachte auch etwas und fragte mich, kaum, dass wir begonnen hatten, ob ich ihr noch böse sei? Ich verstand nichts, sie erklärte mir, dass sie das, was am Dienstag so anders gelaufen wäre, hätte machen müssen, es gehöre am Anfang einer jeden Therapie dazu, um sich u.a. ein Bild von der Belastbarkeit des Patienten zu machen, was konnte man ihm z. B. als Therapie zumuten. Es hätte ihr sogar leidgetan, als sie gemerkt habe, wie sehr ich gelitten hätte, aber sie wäre ja dafür da, mir zu helfen.
Das wäre jetzt auch Grundlage für die die weiteren Therapieplanungen. Aber nun würde alles viel entspannter weitergehen und ich bräuchte keine Bedenken mehr zu haben. Ich war natürlich überrascht, aber war das fair gewesen? Anderseits, sie hatte es ja gelernt und sie hatte nun einmal ihre Vorgaben.
An die dann folgende Therapie-Stunde bei ihr kann ich mich nicht mehr so richtig erinnern, sie plätscherte irgendwie einfach so dahin. Dann kam wieder der Freitag mit seinem Wochenabschluss. Ich hatte mich mittlerweile gut eingelebt und auch genügend Kontakte geschlossen. Für Samstag hatte die Klinik einen Wettbewerb für diejenigen, die dort bleiben wollten, arrangiert. Er bestand aus zahlreichen unterschiedlichen Möglichkeiten, bei denen man Punkte sammeln konnte. Die Sportlichen taten das beim Schwimmen oder Laufen, ich hatte mir u. a. Tischtennis ausgesucht, ein Quiz und Knobeln, ja, auch Spiele gehörten zum Programm.
Für sonntags war noch nichts geplant, aber das ergab sich oft ja auch erst im Laufe des Samstags. Nach dem offiziellen Ende des Wochenmeetings, wie es so schön hieß, verschwanden die Ärzte meist direkt, aber die Therapeuten blieben immer noch und so bildeten sich hier und da Gesprächs-Gruppen oder es fanden lockere Einzelgespräche statt. Und so kam doch tatsächlich auch Nina auf mich zu und fragte zwanglos, „Na, hast du schon etwas vor fürs Wochenende?“ Ich war ja nicht mundfaul und dachte so bei mir, na warte, du hast mich so geärgert. Also sagte ich: „Für den Samstag ja, aber am Sonntag hätte ich noch Zeit, wie wäre es denn, wenn du mir mal deine schöne Heimat zeigst?“ Ich grinste sie dabei richtig frech an.
Hoppla, sie wurde doch tatsächlich etwas verlegen, blockte aber schnell und meinte, „Das darf ich leider nicht. Wir dürfen doch keinerlei private Kontakte zu den uns anvertrauten Patienten haben“. Das war mir doch auch klar gewesen, aber irgendwie musste die Frage raus, ich weiß nicht warum, vielleicht wollte ich sie auch nur etwas provozieren.
Aber klar, ich hatte mal wieder ein Eigentor geschossen, denn ich habe ja jedes ihrer Worte auf die Goldwaage gelegt und so hatte ich anschließend mal wieder lange an ihrer Antwort zu knabbern. Denn sie hatte ja dieses kleine Wörtchen „leider“ gebraucht. Warum hat sie denn „das darf ich leider nicht“ gesagt, verflucht nochmal? Leider bedeutet doch, dass man etwas bedauert. Schon wieder fing ich an zu träumen und zermarterte mir mal wieder meinen Kopf. Aber dieses Mal war ich doch schon vernünftiger und vergaß es schneller als erwartet.
Es gab sehr viel Abwechslung in der Klinik sowohl als Therapiemaßnahmen als auch für privat nach Feierabend und am Wochenende. Ich könnte davon hier Seiten füllen, es war einfach eine Klinik, die nicht umsonst den allerbesten Ruf hat.
Die Tage vergingen, was folgte, lässt sich nur schwer in Worte fassen, aber aus Nina, meiner Psychologin, wurde Nina, meine Vertraute. Hatte sie in den ersten Therapiestunden immer wieder ungläubig nachgefragt, wieso ich denn … und warum ich nicht…, so verstand sie nach und nach meine ganze Situation. Ich hatte das Gefühl, sie nahm regelrecht an meinem Leben teil, viele Dinge, die ich in den Therapiestunden erzählt habe, haben sie derart erschüttert und mitgenommen, dass ich fast Angst hatte, etwas zu erzählen. Es entwickelte sich eine kleine Vertrautheit, ohne dass wir damit etwas zerstörten. Im Gegenteil, alles wurde von Stunde zu Stunde einfacher. Sie war fast wie eine Freundin, natürlich ist das übertrieben, aber es ist halt sehr schwer zu beschreiben, wie sehr sich alles geändert hatte und wie sehr sie mit mir mitlitt.
Mir tat das natürlich gut, obwohl es ja nicht Sinn und Zweck der Therapiestunde war. Aber ich genoss es. Und hatte den Eindruck, dass es auch Nina gefiel. Natürlich war mein Wunsch, sie zum Beispiel mal in den Arm nehmen zu können, immer noch da, aber er stand doch jetzt etwas mehr im Hintergrund, weil wir mittlerweile so vertraut miteinander umgingen, dass ich Angst hatte, ich würde damit alles zerstören.
Dann kam er, der Tag der alles veränderte. Er ist mir bis heute noch im Gedächtnis, es war der 14. September, ein Dienstag. Ich hatte nachmittags wieder eine Einzelstunde bei Nina.
Es lief eigentlich ganz gut, alles war wieder einmal sehr harmonisch, aber wie so oft, wenn ich von mir und meiner Vergangenheit erzählte, merkte ich, dass meine Geschichte Nina wieder einmal sehr berührte, ja sogar betroffen machte, sie nahm sich das doch anscheinend zu Herzen. Sie musste doch als Psychologin einiges gewohnt sein, aber klar, sie war ja noch so jung und hatte noch nicht so viel Erfahrung. Das dachte ich so bei mir, als Erklärung für alles, aber trotzdem, es war etwas dabei, was ich nicht deuten konnte, Ungläubigkeit, ja fast Fassungslosigkeit oder war es Mitleid? Sie war in den Augenblicken wieder mal mehr Freundin für mich als Therapeutin. Ich bekam sogar Mitleid mit ihr, obwohl ich ja derjenige war, dem das alles passiert war.
Plötzlich erschrak ich mich maßlos, denn ich hatte Ninas Hand auf meinem Arm. Sie hatte wohl spontan gehandelt, um mich zu trösten. „Du bist ein so lieber Mensch, hab‘ keine Angst wir werden das schon gemeinsam schaffen, lasse dir nur Zeit“ hörte ich sie sagen.
Das aber war dann doch zu viel, ich konnte nicht mehr, mir war plötzlich alles egal. Diese spontane liebevolle Geste von ihr und dieses „wir werden es schon gemeinsam schaffen“ brachten das Fass zum Überlaufen. Und so brach alles aus mir heraus, was sich in den 2 ½ Wochen, die ich in der Klinik war, angestaut hatte.
Ich weiß nicht, ich glaube ich bin regelrecht durchgedreht, ich war jedenfalls nicht mehr ich. Oder doch? War ich endlich, vielleicht zum ersten Mal seit ich in der Klinik war, der richtige „Ich“? Ich weiß es wirklich nicht mehr, ich weiß nur, dass ich sie regelrecht totgeredet habe. Dass ich mich schon am ersten Tage in sie verknallt hätte, ohne dass ich überhaupt irgendetwas von ihr gewusst hätte. Alleine ihr Auftreten, ihre Bewegungen, ihre ganz Art hätten mich fasziniert. So etwas Bezauberndes hätte ich schon lange nicht mehr gesehen.
Ich legte los, ich war richtig in Fahrt, ich merkte nicht einmal, ob sie mir überhaupt zuhörte. Alles musste jetzt raus, ich hatte doch nichts mehr zu verlieren. Als ich fertig war, sagte ich nur noch, „Ich gehe jetzt Nina, es tut mir leid. Ich will dir nicht weh tun, aber das alles schleppe ich schon so lange mit mir herum. Es musste einfach mal raus.“
Ich sah sie an und ging, ein „Tschüss“ war alles, was ich noch herausbekam. Ich rannte regelrecht auf mein Zimmer, wollte niemanden mehr sehen. Die nächste Stunde, es war die letzte an dem Dienstag, habe ich geschmissen, ich habe mit irgendeiner Bemerkung ganz einfach abgesagt, was sollte mir denn jetzt noch passieren?
Ich bin eingeschlafen, habe sogar das Abendessen verpasst und bin keinen Schritt mehr aus meinem Zimmer. Ich wollte für mich alleine sein und keine Menschenseele mehr sehen. In Gedanken sah ich mich schon meine Koffer packen, ich wartete jeden Augenblick auf einen Anruf oder dass die Stationsschwester in mein Zimmer kam, damit ich am nächsten Tag beim Chefarzt antanzen müsse. Aber nichts geschah, alles lief planmäßig weiter.
Ich war ganz schön verzweifelt und habe ernsthaft mit dem Gedanken gespielt abzureisen. Was mich eigentlich nur davon abhielt, war die Ungewissheit, wie die Stelle, die meine Reha genehmigt hatte, reagieren würde. Ich hatte aber keine Lust auf einen Papierkrieg und so entschloss ich mich, dort zu bleiben. Es war ja im Grunde genommen ja auch nichts passiert, fast alles hatte sich - bis auf meinen Ausrutscher Nina gegenüber - doch nur in meiner Gedankenwelt angespielt. Und bei Nina würde ich mich schon irgendwann entschuldigen.
Mittwochs war die übliche Gruppenstunde, die aber Iris abhielt, Nina war zwar dabei, aber sie hielt sich absolut im Hintergrund. Ich vermied jeden Kontakt mit ihr, selbst den kleinsten Blickkontakt. Obwohl ich einerseits erleichtert war, hatte ich doch gleichzeitig ein verdammt schlechtes Gewissen, denn Nina konnte ja nun wirklich nichts für meine Träumereien.
Am Tag darauf, dem Donnerstag, hatte ich wieder mein übliches Einzelgespräch bei ihr. Ich hätte am liebsten gekniffen, ich hatte garantiert einen Blutdruck von über 200, als ich auf dem Weg zu ihr war. Ich muss gestehen, ich war übernervös. Was würde passieren, würden wir reden? Mussten wir reden oder war ich einfach nur verrückt und litt wieder einmal unter meinen Sehnsuchtsträumen?
Aber meine Angst war unnötig, denn als ich eintrat, war sie nicht alleine, dieses Mal war jemand bei dem Gespräch dabei, ihr Mitarbeiterin Ricky. Nina erklärte mir, warum Ricky unbedingt dabei sein müsse, ich weiß nicht, was sie alles erklärt hat, ich habe nicht hingehört. Ich war einfach nur maßlos enttäuscht und hätte am liebsten direkt wieder kehrt gemacht, aber ich durfte mir ja nichts anmerken lassen.
Das Gespräch verlief absolut normal, ja ich muss sagen, für mich enttäuschend sachlich. Von Nina kam nicht der Hauch einer Andeutung. Anscheinend hatte das alles für sie nie stattgefunden, sie war halt doch wohl schon ganz schön professionell, dachte ich so bei mir. Sie verhielt sich absolut neutral, ja sogar zurückhaltender als sonst.
Aber ihre Augen…, ihre Augen sprachen anders mit mir wie sonst. Nur wie? Es gelang mir einfach nicht, sie zu deuten. Ich wurde immer nervöser und war heilfroh, als die Stunde herum war.
Freitags war Nina nicht beim Abschlussgespräch dabei, es kommt schon mal vor, dass die Therapeuten früher Schluss haben und dann nicht extra bis 15 Uhr warten müssen.
Wie schon erwähnt, wir waren auf unserer Station so um die 25 Patienten, von Mitte 20 bis um die 70, bunt gemischt, mit den unterschiedlichsten Problemen. Da man sich zwangsweise ja immer wieder traf, dauerte es nicht lange und man hatte, wenn man wollte, Anschluss. Ich habe damit sowieso keine Probleme und so bekam ich nach und nach etwas mehr als den üblichen Anschluss mit René und mit Melanie. Beide waren 3 bis 4 Jahre jünger als ich und schon länger da. Da wir die gleiche „Wellenlänge“ hatten, waren wir irgendwann ein richtig schönes Dreierteam. Wir sonderten uns keineswegs ab, das wäre auch nicht geduldet worden, aber irgendwie verstanden wir uns untereinander blendend.
Am 3. Wochenende ergab es sich, dass wir drei eine kleine Tour mit dem Auto in die Berge machten, die lagen ja nur wenige Kilometer vor unserer Tür. Ich war froh, denn nach meinem regelrechten Ausbruch gegenüber Nina hatte ich keine Lust auf Alleinsein und war über jede Abwechslung froh. Wir wollten auf eine bekannte, aber nicht so überlaufene Hütte auf etwas mehr als 2.000 m Höhe. Das natürlich nicht alles zu Fuß, einen Teil mit einer wunderschönen Gondel, den Rest zu Fuß.
Es war nicht zu viel Betrieb auf der Hütte, wir fanden ein wunderbares Plätzchen in einer traumhaften Ecke draußen, mit einem Blick, der eigentlich gebührenpflichtig hätte sein müssen. Ein Traum. Wir genossen es und wir hatten viel Spaß miteinander.
Zumindest solange, bis René mich fragte, was denn am Dienstag mit Nina losgewesen sei und ob irgendetwas zwischen uns passiert sei? Ich blickte ihn verständnislos an. „Ich hatte doch die Therapiestunde nach dir bei Nina“, sagte er, „oder besser, ich sollte sie haben. Aber Nina hat sie ausfallen lassen, sie hat mir ausrichten lassen, die Stunde würde ausfallen, aber wir würden sie nachholen.“
Dann kam ein für mich seltsamer Augenblick, Melanie sah René an und fragte: „Du oder ich?“ Ich verstand kein Wort und sah beide nur fragend an. René gab keine Antwort. „Also ich“, meinte dann Melanie.
Und dann urplötzlich und ohne Vorwarnung zu mir: „Liebst du Nina?“ Was war das jetzt? Mein Blutdruck schoss in Höhen, die ich nicht kannte und ich wurde wohl knallrot. René lachte: „Das reicht doch wohl als Antwort“, meinte er zu Melanie gewandt. Ich war absolut sprachlos und versuchte etwas zu sagen, aber es gab nur ein einziges Gestammel. „Wieso? Woher?“ Mehr brachte ich nicht raus.
„Lass gut sein“, meinte René, „meinst du, wir hätten nicht mitbekommen, was los ist mit dir“. Und dann bekam ich von beiden einiges zu hören. Sie hätten doch längst bemerkt, dass ich Nina wie ein Kind regelrecht anhimmeln würde. Dabei war ich mir so sicher, dass es niemand bemerkt hat. Gut, wir drei waren ein Herz und eine Seele und kannten uns doch ziemlich gut, aber damit hatte ich doch niemals gerechnet.
Sie konnten mich etwas beruhigen, sie sagten, ihnen wäre das auch erst vor ein paar Tagen aufgefallen, sie meinten, von den anderen würde es wohl keiner bemerkt haben.
Tja und dann erzählte ich, was an dem Dienstag vorgefallen sei und was ich alles Nina an den Kopf geworfen hätte. „Kein Wunder“, meinte René daraufhin, „dann ist es ja kein Wunder, wenn meine anschließende Stunde mit Nina ausgefallen ist, rücksichtsvoller konntest du wohl nicht sein“, warf er mir vor. „Hättest du mal etwas mehr auf Nina geachtet und nicht nur an dich gedacht, so hättest du doch längst gemerkt, was mit Nina los ist und dann hättest du dir den Ausbruch ersparen können“.
„Wie meinst du das?“, fragte ich völlig baff. Jetzt waren die beiden zur Abwechslung verblüfft. „Ja hast du denn nichts gemerkt?“ „Was denn, was soll ich denn „nicht gemerkt“ haben?“ Sie lachten, ja ob ich denn nicht gemerkt hätte, wie ich auf Nina wirken würde, wie sehr sie auf mich achten würde. Und wie ihre Augen glänzen würden, wenn ich da wäre.
Oh mein Gott, dachte ich, ich hatte ja nur immer mit mir zu tun, ich war ja der Arme, der, der mit allem zu kämpfen hatte. Und durch all das hatte ich nicht einmal mitbekommen, wie es Nina ging. Zumindest waren die beiden felsenfest dieser Ansicht.
Ein Wort ergab das andere, ich erfuhr Dinge, die ich selbst nicht einmal bemerkt hatte. „Was soll ich denn tun“, fragte ich verzweifelt, „soll ich abreisen?“ „Ich denke fast, das wäre das Beste“, meinte Melanie, „aber dafür ist es wohl schon zu spät. Du musst nur achtpassen, euch und vor allem Nina nicht in Gefahr zu bringen.“
War das schön, ich hätte die beiden bald abgeküsst, aber was nun? Besser wurde die Problematik damit ja nicht, sollten sie tatsächlich Recht haben, dann war ich wohl ein riesengroßer Dummkopf, ich quälte mich die ganze Zeit und dabei war vieles schon „ganz anders“.
Beide waren der Ansicht, dass Nina und ich, na sagen wir mal, etwas miteinander hätten und konnten es nicht glauben, dass ich sie noch nicht einmal angerührt hatte. Sie erschraken regelecht: „Oh mein Gott“ meinte Melanie, „das ist ja wie im Kino, Romantik aus der Ferne. Ihr seid ja beide die reinsten Engel und voller Liebe und Respekt oder ist es Angst? Angst vor der Wahrheit? Oder wovor? Furchtbar, ihr seid ja wirklich richtig verliebt.“
Gottseidank aber war das kein Endlosthema, ich war beiden so dankbar, sie hatten mir die Augen geöffnet, ich war ein Riesentrottel. Da überlegte und überlegte ich immer und immer wieder und die beiden sagten mir einfach mal so, dass Nina doch schon an meiner Seite wäre.
Es wurde Montag und es ging tatsächlich schon in meine 4. Woche, die geplante letzte Woche. Mir ging es bereits viel besser, die Klinik hatte mir richtig gut getan. Aber ich war auch verzweifelt, denn was tun? In Bezug auf Nina lief mir die Zeit davon und ich hätte gerne noch 2 Wochen verlängert. Aber nach über 3 Wochen hatte ich doch wieder Sehnsucht nach meinem schönen Zuhause. Ich habe viele Vorteile, aber einen ganz entscheidenden Nachteil, ich kann mich häufig einfach nicht entscheiden und so schob ich auch dieses Mal alles immer weiter vor mir her.
Montags nachmittags gab es um 15 Uhr wieder mal eine gemeinsame Veranstaltung für alle in der Aula. Es wurden allgemein Dinge besprochen, teils Interessantes, aber, wie so oft, war auch viel Bla-bla dabei.
Wir waren froh, als es vorbei war und so ging ich gemeinsam mit meiner kleinen Gruppe zum Ausgang. Vor der Tür traf ich auf Ricky, ich war überrascht, als sie mich ansprach und fragte, ob ich mal Zeit für sie hätte. Natürlich kamen prompt Kommentare meiner Mitstreiter, so nach dem Motto, aha Rendezvous fürs nächste Wochenende planen?
Bis zum Beginn des Abendessens war ja noch lange Zeit, also habe ich ja gesagt und so gingen wir zurück in die Aula, in der, außer uns, nur noch 5 Leutchen saßen, so konnten wir ungestört reden.
„Du wunderst dich bestimmt“ fing sie an, „aber ich muss mit dir reden. Ob es richtig ist, weiß ich nicht, vielleicht bekomme ich schlimmen Ärger, aber ich muss es einfach tun“. „Na, ist es denn so schlimm?“ fragte ich, ich war doch etwas nervös geworden, kein Wunder bei dem Anfang.
„Du kennst mich ja“ fing sie an zu erklären, „aber ich bin nicht Ninas Sekretärin“. Hoppla, ich war jetzt doch ziemlich verblüfft. „Ich arbeite hier in der Verwaltung und bin Ninas beste Freundin“. Peng, das saß! „Ich habe Nina vor 4 Jahren kennengelernt, als sie bei uns ihr Praktikum anfing, sie hatte damals ein riesengroßes Problem und suchte wohl auch jemand, der ihr beistand. Uns so freundeten wir uns an. Ich habe sie seit dieser Zeit ein wenig unter meine Fittiche genommen und wenn sie wieder mal ein Problem hat, kommt sie als erstes damit zu mir.“
„Und weißt du“, sagte Ricky leise, „sie hat seit kurzem wieder ein Problem, und kein Kleines.“ Ich bekam ganz plötzlich Angst, gewaltig Angst, was wenn sie krank ist, unheilbar krank?
„Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich gerade dir das erzähle, aber du bist Ninas Problem.“ „Ich?“ fragte ich erstaunt, verärgert, geschockt oder was auch immer, „wieso denn ich?“
Und dann erzählte sie „Vor ein paar Tagen fragte Nina mich beim Mittagessen, ob ich ihr mal wieder helfen könne. So stand sie dann abends bei mir im Zimmer. Da stand eine Nina vor mir, wie ich sie in der Zeit bei uns noch nicht erlebt habe, sie war total durch den Wind, das merkte ich sofort, ja, sie weinte sogar, als sie reinkam. Aber da war noch etwas, was mich total verblüffte, ihre Augen strahlten, sie hatten, trotz der Tränen, einen Glanz, wie ich es bei ihr noch nicht gesehen habe.
Da war mir sofort klar, dass etwas passiert war. O weh Nina, habe ich zu ihr gesagt, dich hat es aber arg schlimm erwischt, du bist ja regelrecht verliebt. Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, habe ich ihr auf den Kopf zugesagt.
Und dann hat sie mir von einem Patienten erzählt, von dir. Und was sich nach und nach bei ihr für Gefühle entwickelt hätten. Als du bei euren Therapiestunden so viel von dir und deinen Problemen erzählt hättest, das aber auf eine so für sie bisher nicht gekannte Art und Weise, habe sie anfangs richtig Mitleid mit dir bekommen und habe gehofft, sie könne dir helfen. Aber dann habe sie sich dabei ertappt, dass sie sich insgeheim so einen Menschen selbst wünschen würde.
Nun, ich mache es kurz, irgendwann hat Nina gemerkt, dass über das Mitleid hinaus, noch etwas da war, ein Gefühl, dass sie lange nicht mehr so hatte, sie fühlte sich in deiner Gegenwart richtig wohl. Es war für sie schon komisch und erschreckend zugleich, es war ja ihre Aufgabe dir zu helfen, aber durch deine Art und Weise hättest du ungewollt ihr geholfen. Von ihrer Seite aus habe sich mehr und mehr Vertrautheit, ja sogar Zuneigung zu dir entwickelt.
Irgendwann hätte sie sich selbst eingestehen müssen, sie hätte sich immer mehr auf ein Treffen mit dir gefreut und plötzlich sei ihr klar geworden, dass sie sich doch tatsächlich in dich verliebt hätte. Sie sagte ganz offen zu mir, dass sie absolut hilflos sei, wie ein kleines Kind, sie könne damit einfach nicht umgehen. Sie freue sich jedes Mal auf die Begegnung mit dir und hätte doch jedes Mal große Angst. So sehr sie sich mit ihrer ganzen Vernunft auch gewehrt habe, aber sie hätte sich eingestehen müssen, sie hätte sich in einen ihr anvertrauten Patienten verliebt, das Schlimmste, was passieren konnte.
Sie war sich ziemlich sicher, dass du sie auch magst, da wäre so viel Zärtlichkeit in deiner Art ihr gegenüber, aber das würde ja alles nur noch viel schlimmer machen. Denn es dürfe ja nicht sein, das war ihr klar. Sie kämpfte ständig dagegen an und wollte dich eigentlich schon an jemanden anderen weitergeben, der die letzten Therapiestunden mit dir durchführen sollte.
Aber dann sei etwas passiert, sie hätte sich in einer Therapiestunde zu Gefühlen hinreißen lassen, ihre Hand auf deinen Arm gelegt, dich angefasst, sie hätte es selbst nicht mal gemerkt, das wäre rein instinktiv gewesen. Mit dem was dann passiert wäre, hätte sie nicht gerechnet, sie hat mir dann erzählt, wie du reagiert hättest.
Sie hätte nur noch zuhören könne, du seist überhaupt nicht zu beruhigen gewesen. Und dass jedes deiner Worte sie so getroffen habe, denn ihr sei in dem Moment klar geworden, was sie schon geahnt habe, aber nicht wahrhaben wollte, weil es nicht sein durfte. Sie hätte gemerkt, dass du sie liebst, ja wirklich lieben würdest und nicht nur auf ein Abenteuer aus wärst. Nein, da wäre so viel mehr in deinen verzweifelten Worten und Gesten gewesen. Du wärst so schnell verschwunden und sie selbst wäre so durcheinander gewesen, dass sie nicht gewusst hätte, was sie dir hätte überhaupt sagen können.
Nina hat mir dann noch so viel von dir erzählt und was in ihr vorgehen würde. Um Gottes Willen habe ich zu Nina gesagt, wenn das rauskommt, fliegst du hier raus. Ihr ist das vollkommen klar, aber sie weiß nicht, was sie tun solle.
Ich habe Nina dann überredet, dass sie mich mal bei einer eurer Therapien stunden dabei sein lässt, denn ich war nun doch neugierig, was das für ein Kerl war, der Nina so aus dem Konzept gebracht hatte. Und so kam es, dass ich bei eurer nächsten Sitzung dabei war, was natürlich nicht erlaubt ist, ich hoffe, du verzeihst es mir.“
Ich hing wie gefesselt an Rickys Mund, war das wirklich wahr, was sie mir da erzählte? Aber war es nicht genau das, was Melanie und René mir am Tag vorher nicht auch schon gesagt hatten. Ich hätte Ricky am liebsten umarmt, aber das wäre dann doch etwa zu auffällig gewesen.
Und dann erzählte ich Ricky alles, von meinen Gefühlen und dass ich mich in Nina verliebt hätte, schon am ersten Tag hätte sie mich regelrecht fasziniert und im Laufe der Zeit seien so „komische“ Gefühle dazu gekommen. Und dass ich die ganze Zeit dagegen angehen würde, dass ich ... und dass ich …und dass ich….
Ich erzählte Ricky, dass ich noch nie jemandem getroffen hätte, der mich von der ersten Sekunde an so verzaubert hätte. Aber ich wäre doch erst seit kurzem getrennt und daher natürlich auch mehr als empfänglich für ein solches Wesen. Ich hätte mich aber zu nichts getraut, weil ich Angst hätte, enttäuscht zu werden, weil ich dachte, ich rede mir aus meiner Situation her nur etwas ein und es sind reine Träumereien. Und weil mein Verstand sagen würde, ich bin 14 Jahre älter als Nina, das kann doch keine Basis für eine gemeinsame Zukunft sein.
Rickys Verhalten auf meine Worte wechselte ständig zwischen Lachen, Erstaunen und Kopfschütteln. Als ich fertig war, sah sie mich an und meinte: „Ich hatte Angst, du würdest vielleicht mit Ninas Gefühlen spielen und sie hätte sich verrannt, aber du bist ja auch ins sie verliebt. Das beruhigt mich doch sehr, denn ein Spiel hätte Nina nicht verdient. Ich tue mich schwer, euch etwas zu raten, egal was ihr macht. Aber tue ihr bitte nicht weh. Ich kann dir nur eins sagen, ich habe Nina seit Jahren nicht mehr so glücklich gesehen.“
Dann kamen Sätze von Ricky, die mich in Gedanken tanzen ließen, die ich nicht glauben konnte und die ich doch so gerne hörte. „Nina hat mir erzählt“, fuhr Ricky fort, „sie hätte bei dir eine solche Vertrautheit gespürt, wie noch nie in ihrem Leben und die sie jetzt absolut verzweifeln lässt“. Und an kam das Unfassbare, „Nina hat sich wohl rettungslos in dich verliebt. Ich weiß nicht, ob ich es richtig mache, Nina hat mir das ja im Vertrauen erzählt, sie weiß nicht, dass ich mit dir rede. Aber ich musste dich einfach näher kennenlernen und dir klarmachen, was für Nina auf dem Spiel steht."
Das waren ihre letzten Worte, die mich innerlich Freudentänze ausüben ließ. Nina, „meine“ Nina hatte Gefühle für mich, die ich mir doch so gewünscht habe. Ich konnte es nicht glauben, sollte mein Traum wirklich kein Traum mehr bleiben? Aber was tun, wie sollte es denn weitergehen? Ich grübelte und grübelte, aber ich fand keine Lösung.
Wieder einmal, wie so oft im Leben, half der Zufall. Oder besser, das Schicksal, denn eine Bekannte von mir ist der Ansicht, dass es keine Zufälle gibt und alles vom Schicksal vorherbestimmt ist.
Ich hatte u. a. als Sport Nordisch Walking belegt, weil mich das schon immer interessierte. Es machte einen Heidenspaß. An dem Tag trafen wir uns noch vor dem Frühstück zu einer kurzen Runde um den Chiemsee, es war um diese Uhrzeit dort herrlich, weil so früh noch keine Touristen dort sind und absolute Ruhe herrscht.
Ich habe nicht genau mitbekommen, was passiert ist, jedenfalls bin ich auf dieser Runde plötzlich gestürzt und fand mich blutend und mit Schmerzen am Bein auf der Erde wieder. Mir wurde später erzählt, was passiert war, von meinem linken Turnschuh hatte sich die Schuhsohle gelöst und war nach vorne geflogen. Ich hatte in dem Moment keinen Halt mehr und so kam es zu dem Unfall.
Der Schrecken war erst mal groß, ich konnte kaum gehen und so schleppte man mich bis zu einer Bank in der Nähe. Wenig später kam doch tatsächlich der Krankenwagen der Klinik und ich wurde in die Klinik zurückgebracht. Mann, war mir das peinlich.
Ein paar Untersuchungen musste ich über mich ergehen lassen, dann landete ich auf der kleinen internen Krankenstation, sie hatte gerade mal vier Einzelzimmer. Ich musste dort bleiben und durfte nicht auf mein Zimmer zurück, da Verdacht auf Gehirnerschütterung bestand und ich nachts auf der Krankenstation besser aufgehoben war.
Ich sollte absolute Ruhe haben, aber irgendwie schafften es René und Melanie doch, dass sie mich kurz besuchen durften. Ich habe mich natürlich sehr gefreut, zeigte es mir doch, dass sie für mich da waren.
Es hatte sich natürlich schnell herumgesprochen, was passiert war und als feststand, dass es glimpflich abgelaufen war, kamen prompt die ersten Scherze auf. Die zwei erzählten mir, dass jemand meine Schuhsohle an die Pinnwand vor der Aula geheftet hatte und dass daneben immer mehr Zettel rangeheftet würden, mit Wünschen zur Genesung, aber auch verrückte Sprüche.
Mir ging es ja nicht schlecht und so fühlte ich mich doch irgendwie etwas alleine, zumal nach dem Abendessen außer dem Nachtschwester niemand mehr kommen würde. So verschlief ich die Hälfte der Zeit.
Wach wurde ich erst so gegen ½ 9 Uhr abends, als jemand an die Tür klopfte. Ich dachte natürlich, es sei die Nachtschwester, aber in der Tür standen Ricky und Nina. Sie lachten und meinten, sie müssten doch den bekanntesten Patienten der ganzen Klinik unbedingt besuchen. Und dann erzählten sie mir von den lustigen Sprüchen an der Pinwand. Ein paar hatten sie im Kopf, so wie „Speedy Robbi bringt endlich Schwung in die Klinik“. Oder: „Als Sohlen fliegen lernten“ und noch so einige mehr.
So quatschten und alberten wir eine Weile wie die kleinen Kinder, mir tat das richtig gut. Nach etwa einer halben Stunde verabschiedete sich Ricky mit einem Augenzwinkern und meinte: „Ich lasse euch beide mal alleine, ich glaube, ihr kommt auch ohne mich gut klar."
Was für eine Situation. Ich glaube, fast jeder hat das mal erlebt. Man wünscht sich eine ganz bestimmte Situation sehnlichst herbei und dann weiß man nicht, wie man sich verhalten soll. Ich vermute, dass es an den Medikamenten lag, die ich bekommen hatte, aber ich war in dem Augenblick richtig mutig, jedenfalls bat ich Nina, sich zu mir auf mein Bett zu setzen. Sie zögerte etwas, setzte sich dann aber zu mir aufs Bett. Ich erschrak mich ein wenig, denn sie fing doch tatsächlich an, leicht zu zittern.
Ich aber ließ nun nicht mehr locker und nahm einfach ihre Hand. „Du kennst doch die Konsequenzen einer Gehirnerschütterung", sagte ich zu Nina, „eine davon ist doch, dass man nicht weiß, was man tut und keine Schuld hat für das, was passiert". Während ich das sagte, zog ich sie langsam und behutsam an mich. Ich hatte es so gehofft und tatsächlich, es gab keinen Widerstand von ihr, sie ließ es einfach geschehen.
Und dann küsste ich sie! Mein Gott, man sagt Küssen so viel nach, den werde ich ihn nie in meinem Leben vergessen. In Ninas Kuss lag eine ganze Welt, sie küsste so liebevoll, so einfühlsam, so unendlich zärtlich. Aber ich spürte auch Angst, Freude, Hoffnung …und Liebe. Es ist verrückt, man kann es ja nicht beschreiben, konnte es so etwas überhaupt geben? Ich weiß, es klingt wie in einem Kitschroman, aber es war ein Kuss für die Ewigkeit. Es lagen tausend Gefühle in diesem einen warmen Kuss.
Aber dann spürte ich etwas anderes, auf meinem Gesicht wurde es feucht, Nina weinte. Ich war hilflos und so versuchte ich es mal wieder mit meinen schlaksigen Bemerkungen und fragte, „Küsse ich so schlecht?“ Sie sah mich nur zärtlich an und meinte „Du Idiot“, dann weinte sie hemmungslos. Ich hielt sie fest und streichelte sie, langsam, ganz langsam beruhigte sie sich und dann redeten wir.
Wir redeten über alles, was uns in den Sinn kam. Aber es gab auch Momente, wunderschöne Momente, in denen wir nichts redeten, uns nur spürten und unsere Vertrautheit genossen. Nichts, absolut nichts passierte, außer ein paar kleinen zärtlichen Küssen und vielen Streicheleinheiten. Wir wussten beide, es war geschehen, es gab jetzt kein Zurück mehr.
Wir sahen uns von da an regelmäßig heimlich, das war nicht einfach, denn es durfte in der Klink ja keiner mitbekommen, was los war. Wisst ihr, wie schlimm und qualvoll es ist, wenn man in der Nähe den so geliebten Menschen sieht und kann doch nicht zu ihm hin und ihn in die Arme nehmen? Das tat manches Mal brutal weh.
Ricky, Melanie und René halfen uns, wo sie nur konnten. Es war alles nicht einfach, aber für uns beide war von Beginn an klar, dass aus einem „Du“ und „Ich“ ein „Wir“ geworden war. Wir mussten vieles regeln, das aber ging alles nicht von heute auf morgen. Die Zwischenzeit war schrecklich, es lagen ja über 500 km zwischen uns, so konnten wir uns nur sehr selten sehen. Nach jedem Treffen wuchs unsere Liebe noch mehr. Es dauerte fast ein Jahr, bis wir eine optimale Lösung gefunden hatten. Aber was ist denn schon ein Jahr im Verhältnis zu einem ganzen Leben?
Wir haben unsere Entscheidung nie bereut, nicht ein einziges Mal, nicht eine einzige Sekunde. Ich war in meinem ganzen Leben nie so glücklich, wie ich es mit Nina bin.
Wir haben es bis zum heutigen Tag geschafft. Da ist noch so viel neue und unverbrauchte Liebe zwischen uns, wir werden auch die Zukunft schaffen, da bin ich mir sicher. Und dabei helfen werden uns unsere beiden kleinen süßen Psychologinnen Annika mit ihren 7 und Svenja mit ihren 5 Jahren.
Irgendwann, als ich das hier geschrieben habe, schlangen sich plötzlich 2 kleine Ärmchen um meinen Hals und jemand fragte mich: „Was machst du Papi?" Es war Svenja, meine Kleine. „Ich schreibe für Leute auf, wie ich deine Mami kennengelernt habe und wie sehr ich sie und natürlich auch dich und deine Schwester liebe."
Svenja sah mich mit ihren großen Kulleraugen an und lachte: „Aber Papi, das brauchst du doch keinem zu schreiben, das wissen doch alle!“ Ich musste schlucken und ein paar winzige Tränen kullerten aus meinen Augen.