Ein guter Text ist (unter anderem) einer, aus dem man viel herausholen, nicht einer, in den man viel hineinlesen kann.
Was wird hier eigentlich ständig um KZ diskutiert? Dass es um Internierungen geht, wird an keiner Stelle gesagt, das ist doch Humbug. In einem anständigen Lager ist kein abends ins Bett gehen, da ist Arbeitstag bis zw. 21:00 und 0:00h. Vier Stunden Schlaf und los gehts wieder. Kein 10-jähriger wird ohne Eltern verhaftet, die dann noch unter ihrer Adresse erreichbar wären. Wenn das Kind in einem Vernichtungslager wäre und 'duschen' geschickt wuerde, wäre es vorher geschoren und rasiert worden. Oder zu tot, um Karten schreiben zu können.
Dann gibt es Zensur. Entweder hätten dies also Kassiber sein muessen, die von Fluechtenden rausgeschmuggelt werden (dann muesste alles "die Aufpasser sagen, ich soll schreiben" raus); aber dann alle Briefe zusammen, nicht jeden Tag einer. Oder es sind Briefe, die durch die Lagerverwaltung gehen. Das hätte man auch machen können, dann hätte im Text offensichtlich werden muessen, dass der Junge was Nettes uber das Lager schreibt, aber was Negatives beschreibt.
So also können das keine Briefe auf irgendwelchen Lagern sein, sondern höchstens einer Therapieeinrichtung (s.u.).
Und bitte hier nicht ständig KZ mit Vernichtungslager gleichsetzen. In KZs sterben Menschen durch Hunger, Krankheit, Folter, Erschiessung, Schwerstarbeit. Aber sie werden dort nicht zum einzigen Zweck ihrer Ermordung interniert.
Ich bin immer fuer Gleichbehandlung. Ich habe konkret zwei Texte im Kopf (Schwarzer Qualm und Das gefaltete Stueblein), die historische/soziale Themen verarbeiten, und die rein und ausschliesslich nach dem wortwörtlich dort Geschriebenen beurteilt wurden. Qualm behandelte Vernichtungslager mit deutlichen, expressionistischen Bildern und sauberer Formulierung - hatte nur ca. 4 Tipper und landete im KC. Und ich frage mich wirklich, warum sich viele Leser hier eine solche gutwillige Muehe geben, ein Horrorbetroffenheits-Szenario an den Haaren herbeizuziehen, wo der Text es beim besten Willen nicht hergibt.
Der Text hier hat massive stilistische und formale Fehler:
Der Erzähler redet nicht wie ein Kind unter anderen, sondern wie ein (minderbemittelter) Erwachsener, distanziert:
meine Freundin von der ich euch erzählt habe
Guckt man sich linguistische Analysen der Texte von ca. Zehnjährigen an, wird von den Kindern keine Ruecksicht darauf genommen, ob der Rezipient weiss, wovon gesprochen wird. Die Erzählweise ist direkter, distanzloser, sprunghafter. Älter als 10 kann das Kind hier aber nicht sein, so ein Nullschnaller.
Das zeigt, dass der Text hier unsauber konzipiert ist oder massive Perspektivfehler uebersehen wurden - der Autor hat sich also entweder nicht gekuemmert, den Text realistisch aufzubauen (worauf auch die völlig falschen Abläufe in Lagern hinweisen), und/oder er hat nicht die Fähigkeit, seine gewählte Form durchzuhalten.
Wäre dies ein guter, durchdachter und intelligenter Text, wäre er in realistischer Kindersprache vor einem realistischen Hintergrund erzählt worden - ohne die alberne Kruecke der Monsterabsätze, die nur ablenken sollen:
Der Autor schafft es nicht, mit der Naivität des Kindes seine Geschichte zu erzählen - so dass jeder verstehen könnte, um was es gehen soll - ohne die Ahnungslosigkeit aufzugeben.
Zug war gar nicht schön. Es gab viel zu wenig Plätze und unser Waggon war nicht gut belüftet.
Registerwechsel von
Zug auf
Waggon und
Aufpasser zu
Aufseher zeigt eine Stufe des Spracherwerbs, die der Unfähigkeit des Erzählers, seine Umgebung korrekt einzuordnen, widerspricht. "Waggon" wie auch die "Aufseher" sind eindeutig vom Autor gesetzte Trigger - da der Text keine saubere Assoziation auszulösen schafft, benötigt es diese Stilbrueche bzw. Brueche in der Erzählperspektive. An vielen Stellen wird die Ebene des Autors mit der Ebene des Erzählers verwechselt: der Autor muss nachliefern, was er dem Erzähler nicht gelungen in den Mund legen konnte.
Ausserdem frage ich mich, wie ein 'gut belueftet', 'ungemuetlich' usw. zu schlichten Aussagen wie 'schmeckt besser', 'will nach Hause' etc. passt. Der ganze Text ist unausgegoren, und der Autor hat bei seiner gestellten Aufgabe (so es ueberhaupt ein Kind in einem Internierungslager sein soll!) durchgehend versagt.
Mir gefällt's hier überhaupt nicht.
Kommaregeln is nicht, aber Buchstaben ersetzende Apostrophe kann der Kleine? *hust*
Uebrigens die selben Kommafehler, wegen denen u.a. andere Texte des Autors den Tod durch KC starben.
Ich denke nicht, dass es ein armes Opfer in einem Vernichtungslager ist, auch nicht in einem Internierungs- oder Arbeitslager. In einem realistischen KZ-Szenario gäbe es kein isoliert verhaftetes Kind mit noch am Wohnort lebenden Eltern, keine Papierverschwendung und schon gar keine Postkarten. Die grundsätzliche Form dieses Textes ist unsinnig, um etwas von verschleppten Kindern in Lagern zu erzählen.
Ich sehe das so (und denke nicht, dass mir am Text selbst eine falsche Interpretation nachgewiesen werden könnte):
Der Erzähler ist ein alter Erwachsener, minderbemittelt, zurueckgeblieben, geistig behindert, sowas. Er hat es geschafft, jahrelang seine drei Schwestern im Keller seines schönen, gemuetlichen, kuscheligen Almhuettenstilhauses festzuhalten, zu vergewaltigen und schwängern. Man kam ihm auf die Schliche und zur Therapie kommt er in eine Art Pfadfinderlager, aber unter Aufsicht von Psychiatern. Alles, was nicht den Luxus seines Hauses hat, empfindet er als unerträgliche Einschränkung - dass er behauptet, es regne rein und dass das Essen so schlecht sei ist also nicht objektiv so, sondern soll uns Lesern nur zeigen, dass der Erzähler unter schwerem Realitätsverlust leidet. Mein Beweis:
Hoffe sie mag mich noch und schläft nicht bei jemand anderem.
Genau - er erträgt die Situation nicht, dass ihm ein (Sex)Spielzeug weggenommen wird. Das Mädel gehört doch ihm allein!
Dass der Mann hier von 'Mama und Papa' spricht, ist ein eindeutiger Verweis auf Norman Bates und seine Mumienmutter. Selbstverständlich sind sie längst unter der Erde, die Psychiater in dieser Geschichte regen also an, dass er seine abnorme Elternbindung mit 'Postkarten' aufarbeitet, die natuerlich nie geschickt werden - was ueberigens ein realer Therapieansatz ist.
Diese Leserichtung wird vom Text genauso gestuetzt wie jede andere hier geäusserte - allein das zeigt, dass er einfach schlecht ist. Ein ambivalenter Charakter, der Täter wie Opfer vereint, ist mal etwas ganz anderes als die Unfähigkeit eines Autoren, seinen Erzähler als eindeutiges Opfer oder als eindeutig in einer Altersstufe zu verortenden Person darzustellen.
Der Autor tut schon gut daran, sich nicht zu seiner Intention zu äussern, vermutlich wundert er sich, was Tolles ihm unterstellt wird. Richtig elegant ist das alles nicht.
@penny_lane:
In Horror gehört dieser Text sicher nicht, weil nichts tatsächlich zu sehen ist, was Schrecken auslösen könnte; und weil er weder stilistisch noch erzähltechnisch in dem Genre anzusiedeln ist. Und nach Historik gehört er erst recht nicht, weil hier schlichtweg nix erkennbar Historisches thematisiert wird. (Könnte auch ein zeitgenössischer Knast sein, oder irgendwas in SciFi).
War Postkartenform experimentell? Ich dachte nicht - und da keine Experimente erlaubt sind, die sich rein auf Inhalt oder auf Lesereaktion beschränken, sehe ich auch hier die Einordnung nicht (aber das nun wieder soll nicht mein Problem sein).