Hallo, wo bin ich hier?
Hallo, wo bin ich hier? Ich habe mich verlaufen, wahrscheinlich. Vielleicht war es auch der richtige Weg, doch jetzt bin ich jedenfalls nicht richtig hier.
Ein Forum? Eine Art Diskussionsgruppe? Ah, Kurzgeschichten! Ich hatte einmal einen Freund, der schrieb Kurzgeschichten. Mann, die waren schlecht! Er hatte Probleme im Beruf, zu Hause, mit der Frau und überhaupt. Die Kinder waren eine Katastrophe. Die ganz junge Tochter wollte nicht essen. Mageres Ding. Ich sagte ihm dann noch, such dir Ablenkung. Doch das war nichts. Genervt hat er mich, über Wochen hat sich das hingezogen. Hat mir seine Geschichten geschickt, sie mir heimlich zugesteckt und mich ständig damit konfrontiert. 'Ach du, ich schreib grade wieder an einer' kam er öfters an, als wäre es etwas ganz Besonderes. Ich wusste ja, was es ihm bedeutete. 'Du, da geht's um einen, der seine Million im Lotto macht'.
Am schlimmsten war es, wenn ich sofort wusste, was ihn zum Schreiben der Geschichte getrieben hatte. Wie im gegebenen Beispiel: Am Tag davor waren wir vorm Fernseher gesessen, hatten uns eine Klatschsendung angesehen, das Interview mit einem, der gerade eine Million im Lotto gewonnen hatte.
'Du, ich will genau schreiben, was für Auswirkungen das auf den Typ hat, den mit der Million'.
Ich konnte seine Sätze vorhersehen. Nein, viel mehr noch. Ich konnte in diesem Augenblick schon die Geschichte selbst lesen. In seinem dummen Blick, der mir alles verriet.
Was das Schlimme an der Sache war:
Ich fühlte mich mächtig, mächtiger als sonst. Es war mir, als hätte ich dadurch, dass ich genau wusste, wie er dachte, die Kontrolle über ihn bekommen. Als ich mich mit dem Gedanken angefreundet hatte, versuche ich, das umzusetzen, den Umstand auszunutzen.
Ich wusste, wenn ich es schaffen würde, ihn zu beeindrucken, würde er genau das schreiben, was ihn so beeindruckt hatte. Und der Plan ging auf.
'Du,' sagte ich ihm, 'ich hab gehört von einem, der lebt zusammen mit vier Frauen, und das klappt!' Er zeigte sich sehr beeindruckt. Am nächsten Tag die Geschichte: Eine Schilderung aus dem Alltag eines Mannes (meines Alters), der zusammen mit vier wundervollen Frauen lebte. Die Pointe: Es klappte. Die Umsetzung: Grauenhaft. Der Mann wollte die ganze Zeit nur Sex (eine Charaktereigenschaft, die mein Freund eingebracht hatte), die Frauen ebenso.
Und da und nachdem ich das einige Zeit öfters so getrieben hatte, wurde mir klar: Ich konnte ihn zwar steuern, doch ich konnte seine Geschichten nicht besser machen.
Am Abend, in der Kneipe, erzählte er mir von seiner harten Arbeit, dem mickrigen Lohn und Problemen zu Hause. Da kam mir die Idee.
'Du' sagte ich ihm, 'ich hab gehört von einer, die ist erst neun und die isst nichts'. Er verstand, kommentierte aber nicht. 'Wie meine Lisa' sagte er erst nach längerer Zeit.
Die Geschichte traf bei mir erst viel später ein, viel später als erwartet, als ich das gewohnt gewesen war. Er hatte sich Zeit gelassen. Ich gönnte mir ein Glas Wein dabei, las Seite um Seite, eine traurige aber ehrliche Geschichte über einen traurigen aber ehrlichen Mann. Einem Familienvater, der an der schlechten Berufssituation leidet, der um seine Ehe fürchtet und - nicht zuletzt - dessen erst neun Jahre alte Tochter sich abends weigert auch nur einen Happen vom Abendessen anzufassen. Und als ich fertig gelesen hatte, war das Glas Wein noch voll, und ich verstand das Geheimnis, denn diese Geschichte, diese kleine, absurde Geschichte hatte mich verändert.
Und seitdem, ja, ich glaube das stimmt, seitdem nenne ich ihn erst öffentlich einen Freund, meinen Freund.
So, nun bin ich jedenfalls hier gelandet. Ich werde nicht lang bleiben. Obwohl, ich könnte mich zurecht finden.