Was ist neu

Hanna

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09.01.2005
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Hanna

Donnerstag, 16 September 2004

Nick schaut Julia besorgt an. „Aber wenn dir was zu schwer ist, einfach liegen lassen, ich mach das dann heute Abend.“
Julia nickt, gibt ihm einen Kuss und öffnet die Tür. „Mach dir keine Sorgen, ich pass auf mich auf und werde mich nicht überanstrengen. Versprochen. Du solltest eher Angst davor haben, dass ich gar nichts mache…“ Die beiden lachen dann verschwindet Nick aus der Tür.

Heute ist sein erster Arbeitstag. Nachdem Julia ihm gesagt hatte, dass sie schwanger ist, hat er sich sofort auf die Suche nach einem besseren Job gemacht. Deshalb sind sie vor drei Wochen zusammen nach Frankfurt gezogen. Es ist ihre erste `richtige´ gemeinsame Wohnung. Seitdem sich die beiden vor fünf Jahren kennen gelernt haben, war Julia zwar praktisch immer bei Nick, in seiner Wohnung, hatte aber trotzdem noch einige ihrer Sachen bei ihren Eltern.
Gestern hatte ihr ihre Mutter eine kleine Kiste, die sie auf dem Dachboden gefunden hatte, vorbeigebracht. „Dass ist dann wohl der Rest gewesen und jetzt sind wir dich endgültig los…“, sagte ihre Mutter mit Tränen in den Augen, als sie ihr die Kiste überreichte. Auch Julia musste weinen. Sie schloss ihre Mutter fest in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: „Macht euch bloß keine falschen Hoffnungen.“

Da steht sie nun, allein in der neuen Wohnung, umringt von Umzugkartons und völlig unbeweglich wegen ihres stetig zunehmenden Körperumfangs.
Auf der Suche nach einem möglichst kleinen Karton stößt sie auf die Kiste, die ihre Mutter ihr gestern vorbei gebracht hatte. Bisher war sie noch gar nicht dazu gekommen hinein zu schauen und hatte sie neben all den anderen Kartons schon fast wieder vergessen.
Es ist eine kleine braune Kiste, sie kommt ihr nicht bekannt vor. Irgendwie ist Julia gespannt. Was könnte es sein, dass sie noch nicht mitgenommen hatte und warum hat sie nicht gemerkt etwas vergessen zu haben. Ihr fällt nichts ein, das sie bei dem Umzug hätten liegen lassen können. Julia nimmt die kleine Kiste, die trotz ihrer Größe recht schwer ist, und setzt sich auf die Couch. Die Couch ist neu. Sie ist dunkel-rot und am unteren Rand ist sie mit orientalischen Bestickungen verziert. Julia hat sich von Anfang an in sie verliebt. Nur leider und das ist wohl auch der Grund weshalb Nick ihre Liebe für die Couch nicht teilt, hat sie den stolzen Preis eines Monatsgehalts von Nick gehabt.
Während Julia sich in die Couch sinken lässt, stellt sie erneut fest, was für einen guten Kauf sie doch gemacht haben. `Die Couch sieht nicht nur toll aus, sie fühlt sich auch so an!´ Oder, wie Nick es formulieren würde: „Wenn man für so ein hässliches Ding schon so viel bezahlt, dann ist es das Mindeste, dass es bequem ist.“
Zufrieden stellt sie die Kiste neben sich auf die Couch. Nun ist der Moment gekommen, jetzt wird sie sie öffnen. Sie zelebriert das ganze, obwohl sie sich ziemlich sicher ist, dass ohnehin nur irgendwelcher Kleinkram in ihr drin ist.
Aber sie möchte Zeit schinden, denn wenn sie mit der kleinen Kiste fertig ist, warten sieben große darauf ausgepackt zu werden…
Julia wirft noch einen verstohlenen Blick auf die geschlossene Kiste, dann nimmt sie langsam den Deckel ab. Sie kann mit dem, was sie sieht, im ersten Moment nichts anfangen. Julia zieht die offene Kiste näher an sich heran und legt sie auf ihren Schoß. Es scheint so, als hätte sie Recht gehabt und es ist wirklich nur unwichtiger Kleinkram in ihr.
Ganz oben liegt ein altes Malset. Vorsichtig holt sie es heraus und stellt es vor sich auf den kleinen Tisch. Jetzt kommt ein kleines Stoff-Püppchen zum Vorschein. Es hat ein weißes Kleidchen an, rosafarbene Wangen und rote Haare. Julia überkommt ein komisches Gefühl beim Anblick der kleinen Puppe. Lange hält Julia sie in den Händen, dann legt sie die Puppe Beiseite. Ein Fotoalbum folgt. Es ist ein kleines, höchstens zehn Seiten. Vorne, auf dem Einband steht in der Schrift ihrer Mutter geschrieben: „Wie alles begann…“
Sie legt das Fotoalbum neben sich, ohne hinein zu schauen. Julia will erst nachsehen, was sich noch für Schätze in der kleinen Kiste verbergen.
Sie findet ein buntes Armbändchen, auf dem etwas steht. Ein Name vielleicht, sie kann es nicht entziffern. Als nächstes und letztes holt sie ein Buch aus der Kiste. Auf dem Einband sind Sonnenblumen. Julia dreht das Buch um. Es ist ein Schildchen vorne drauf: „Tagebuch von Julia Bergmann, streng GEHEIM!“
Es ist ihr Tagebuch. Sie ist durcheinander. Julia hatte das Tagebuch völlig vergessen, auch, dass sie je eins gehabt hatte.
Sie klappt das Buch auf der ersten Seite auf.


13. 05. 1987

Liebes Tagebuch,

Heute ist mein Geburtstag. Naja, eigentlich ist er ja schon fast wieder vorbei, Mami hat mich grade ins Bett gebracht. Alle denken ich schlafe. Nur du und ich wissen, dass das gar nicht stimmt. Unser erstes Geheimnis. Ich hoffe mal auf dich ist Verlass.
Der Tag heute war sehr schön. Nach dem Aufstehen hab ich mich schnell fertig gemacht und dann auf der Treppe, wie jedes Jahr gewartet, bis Mami und Papi anfangen zu singen und ich endlich ins Wohnzimmer darf. Heute kam mir die Zeit auf der Treppe noch länger vor als sonst, aber egal, ich hab´s überstanden und gaaaaanz tolle Geschenke bekommen.
Mami und Papi haben mir ein Fahrrad geschenkt, das hab ich mir schon sehr lange gewünscht. Es ist gelb und hat ganz viele bunte Punkte drauf. Kein Vergleich zu meinem alten, aber das hab ich ja jetzt auch schon lange gehabt und vorher, da hatte es sogar schon meinem Cousin gehört. Der ist schon dreizehn und will mich immer ärgern. Aber heute nicht. Wahrscheinlich, weil ich jetzt schon acht bin, fast so alt wie er. Jetzt bin ich kein Baby mehr. Nein, das war gemein. Dann wäre Hanna ja noch ein Baby, sie ist nämlich noch sieben. Hanna hat erst nächsten Monat Geburtstag und da freuen wir beide uns schon total drauf, dann sind wir auch wieder gleich alt. Hanna ist übrigens meine allerbeste Freundin. Wir kennen uns schon ewig und wollen noch befreundet sein, wenn wir schon alte Omis sind. Aber du kennst Hanna bestimmt schon. Schließlich hab ich dich ja heute von ihr geschenkt bekommen. Weißt du warum sie dich gekauft hat? Sie hat´s mir erzählt, gleich als ich dich ausgepackt hatte. Sonnenblumen sind nämlich unsere Lieblingsblumen und immer, wenn ich dich anschaue sehe ich unsere Lieblingsblumen. Das ist toll was? So, für die anderen Geschenke bin ich jetzt zu müde. Ich bin nämlich noch nicht so schnell im Schreiben und deshalb würde das jetzt zu lange dauern. Aber von den beiden tollsten Geschenken hab ich dir ja schon erzählt.
Gute Nacht und träum was Schönes,

Deine Julia

Julia erinnert sich an diesen Tag. Es ist ein ganz seltsames Gefühl, so tief in die Vergangenheit einzutauchen. Es kommt ihr so vor, als hätte sie erst gestern geschrieben, was sie gerade gelesen hatte.
Ihre Hände sind feucht und ihr ist kalt. Julia weiß nicht was los ist, warum dieses Tagebuch so viel in ihr auslöst. Sie hat Angst, aber wovor?
Sie atmet tief ein, dann blättert sie weiter.


14.05.1987

Liebes Tagebuch,

Ich hoffe es geht dir gut. Mir geht es prima! Gerade war meine Patentante Hilde vorbeigekommen, um mir nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren und mir ein Geschenk zu geben. Eine ganz süße, kleine Puppe, die hat sie selbst gemacht! Die ist ganz toll. Sie hat ein weißes Kleidchen an, ist ganz aus Stoff und sehr weich. Sie hat rote Haare und ihr Gesichtchen ist auch ganz toll. Sie schläft nämlich und das sieht sehr friedlich aus. Ich muss jetzt auch leider schon wieder aufhören. Hanna und ich sind heute verabredet um im Sandkasten Bäckerei zu spielen, dass ist sehr lustig! Wir bekommen immer so viele Aufträge, dass wir bis abends spielen.
Oh, jetzt hat´s geklingelt, das ist Hanna!

Tschüss!


auch heute

Hallo Tagebuch!

Ich schreibe dir heute zweimal. Heute war es gar nicht schön mit Hanna. Direkt als sie vorhin gekommen war, hab ich ihr mein Püppchen gezeigt. Sie fand es auch ganz toll. Dann wollten wir uns einen Namen für es ausdenken und ab da hatten wir Streit.
Hanna hat nämlich immer so doofe Namen vorgeschlagen und da hab ich dann eben gemeint, dass ich mein Püppchen nicht so nennen möchte. Dann war sie beleidigt und hat gesagt, dass sie das Püppchen eh total blöd und hässlich findet. Dann musste ich weinen, weil ich das total gemein fand. Dann ist Hanna gegangen. Jetzt bin ich immer noch traurig. Heute Nacht werde ich bestimmt nicht schlafen können. Ich glaube wir sind keine Freundinnen mehr...

Schlaf gut,

Deine Julia

Julia hat Tränen in den Augen. Sie kann sich an den Streit erinnern, sie weiß welcher Streit es war.
Es war ihr erster Streit, es war ihr – plötzlich ist alles wieder da.
Sie erinnert sich an Hanna.
Julia legt das Tagebuch neben sich. Sie steht auf und geht in die Küche. Ihr Hals ist trocken. Vorsichtig schenkt sie sich Wasser ein. Die Flasche ist schwer, Julia muss sie absetzten. Sie hat keine Kraft, ihre Hände zittern. Sie stützt sich auf dem Küchentisch ab und trinkt einen Schluck. Auf dem Weg zurück zur Couch holt sie sich eine Decke aus einem der Kartons. Julia wickelt sich in sie ein und setzt sich wieder, dann nimmt sie das Tagebuch und liest weiter.


16.05.1987

Liebes Tagebuch,

Es tut mir Leid, dass ich Gestern nicht geschrieben habe. Aber wir hatten so viel aufbekommen, dass ich die ganze Zeit mit Hausaufgaben beschäftigt war. Ich hoffe du bist mir nicht böse.
Mir geht es heute wieder nicht gut. Hanna und ich haben immer noch Streit. In der Schule ist es besonders schlimm. Wir reden gar nicht mehr miteinander und Heute hat sogar die Lehrerin gefragt, ob wir Streit hätten. Alles ist plötzlich voll blöd und gar nicht mehr schön.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, sie fehlt mir so.
Gestern zum Beispiel hab ich im Unterricht gesehen, wie sich Benno den Füller in die Nase gesteckt hat. Ich wollte es ihr gerade zeigen, da ist mir eingefallen, dass das ja jetzt nicht mehr geht.
Ich hatte noch nie Streit mit Hanna, nie nie nie. Das soll jetzt wieder aufhören. Weißt du, wie so was aufhört?

Eine gute Nacht mit vielen Träumen wünscht dir,

Deine Julia


17.05.1987

Liebes Tagebuch,

Ich bin heute noch verzweifelter. Hanna hat sich in der Schule von mir weggesetzt. Ich möchte das nicht. Alles was ich mir wünsche ist, dass sie wieder neben mir sitzt und wir wieder Freundinnen sind. Ihr Armbändchen hat sie auch nicht mehr an. Wir haben nämlich beide das Gleiche, als Beweis für unsere Freundschaft. Auf meinem steht Hanna und auf ihrem Julia. Sie soll es doch bitte bitte wieder anziehen. Ich möchte doch gar keinen Streit mehr. Mir ist jetzt auch egal wie mein Püppchen heißt. Ich hätte nicht so gemein sein dürfen, als sie mir ihre Namen gesagt hat. Die waren gar nicht so schlecht. Nein, die waren sogar richtig gar nicht schlecht, die waren gut. Morgen sag ich ihr das. Dann kommt sie bestimmt wieder neben mich und wir können endlich wieder miteinander reden und spielen. Bäckerei alleine ist nämlich auch total blöd.
Ich male ihr jetzt noch ein Bild mit ihr und mir drauf, dann ist bestimmt wieder alles gut. Wünsch mir Glück für Morgen!

Schlaf gut,
deine Julia

Julia zögert mit dem Weiterblättern. Sie hat die Wahl. Wenn sie das Buch jetzt weg legt, dann kann sie zwar an der wieder wach gewordenen Erinnerung nichts mehr ändern aber immerhin verhindern, es ein zweites Mal zu durchleben.
Aber Julia blättert um. Sie möchte nicht weiter vor ihrer Erinnerung davonlaufen, sie hat es lange genug verdrängt, vergessen.


18.05.1987

Liebes Tagebuch,

Du bist sicher schon gespannt, wie es mit Hanna heute gelaufen ist. Ich muss dich enttäuschen, sie war heute gar nicht zur Schule gekommen. Das war auch ganz gut, ich bin gestern nämlich noch nicht mit dem Bild fertiggeworden. Ich hab mir überlegt, dass ich es ihr einfach zu Hause vorbeibringe. Da freut sie sich bestimmt noch mehr, jetzt wo sie krank ist. Deshalb muss ich auch leider schon wieder aufhören, das Bild fertig malen damit ich gleich zu ihr kann.

Tschüss,

Deine Julia

Die nächste Seite ist schwarz. Die darauf folgenden sind leer. Julia weiß, das sie sich jetzt alleine erinnern muss. Sie schließt ihre Augen. Nun erlebt sie zum zweiten Mal - sie erinnert sich…

`Es klopfte an der Tür.
Ich habe gerade Hannas Augen gemalt, die Augen fand ich immer am Schwersten.
Es war Mama. Sie steckte den Kopf durch die Tür zu mir ins Zimmer. Ich fragte sie, wer gerade angerufen hatte, es hätte ja sein können, dass Hanna wissen wollte, welche Hausaufgaben wir aufbekommen hatten. Nachdem sie mir nicht geantwortet hatte, drehte ich mich zu ihr um. Mittlerweile stand sie im Zimmer. Ich hatte Angst, dass sie verärgert sein könnte, weil ich kein Zeitungspapier zum Malen untergelegt hatte. Vorsichtig schaute ich an ihr hoch. Sie hatte geweint, ihre Augen waren rot. „Was ist denn passiert Mami, warum weinst du denn?“ ´


Sie öffnet ihre Augen, sie will nicht weiter daran denken. Julia möchte unwissend bleiben, sie will die Worte ihrer Mutter nicht hören.
Es geht nicht. Die Erinnerung in ihrem Kopf läuft weiter, irgendetwas in ihr will sich erinnern. Sie schließt wieder ihre Augen, und öffnet somit die, der achtjährigen Julia.

` „Schatz“ , sie brach sofort wieder ab. „Was ist denn? Hab ich was gemacht?“ Sie setzte sich auf mein Bett. „Komm mal her zu mir und setz dich auf meinen Schoß.“ Ich stand von meinem Schreibtischstuhl auf, während ich zum Bett ging blendete mich die Sonne. Es war warm. Ich kuschelte mich in die Arme meiner Mutter und legte meinen Kopf an ihre Brust, so dass ich ihr Herzklopfen hören konnte. Das machte ich immer so, es war beruhigend. An diesem Tag war es anders. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, es musste etwas furchtbares passiert sein, etwas, dass sie mir nicht sagen wollte.´

Julia bricht in Tränen aus, es tut so weh. Wieder will sie stoppen. Aber es geht nicht...

`Ich schloss meine Augen und klammerte mich fest an sie. „Sag´s mir ruhig, ich bin doch schon groß.“ Normalerweise hatte sie immer gelächelt, wenn ich diesen Satz gesagt hatte, diesmal blieb ihr Blick traurig. „Das weiß ich meine Große, das weiß ich.“ Sie schaute zum Fenster und streichelte über mein Haar. „Du musst jetzt ganz stark sein, hörst du?“ Ich nickte. Die Angst vor dem, was sie mir sagen wollte, vor dem Unbekannten, sie rannte mir als Gänsehaut über den Rücken. Ich spürte, immer noch an Mutter geklammert, wie sie tief einatmete. Jetzt würde sie es sagen. Sie atmete wieder aus. Ich machte die Bewegung ihres Bauches mit, zuerst war ich mit ihm kleiner und dann wieder größer geworden. Das passierte noch ein paar Mal, immer dachte ich, jetzt würde sie es mir sagen. Sie tat es nicht. Ich schloss wieder die Augen und bewegte mich im Gleichschritt ihres Atems hin und her. Es war still, warm und beängstigend.
Ich merkte wie etwas Feuchtes auf meine Haare tropfte. Meine Augen hielt ich geschlossen, ich wollte nicht schauen, ich musste nicht schauen - sie weinte, dass wusste ich.
Plötzlich hörte ich, wie sie zum Sprechen ansetzte. Wenn man mit jemandem redet, dann bemerkt man es normalerweise nicht. Aber es war still. Und man konnte es hören. Ihre Lippen öffneten sich, ich konnte es hören. Dann war da ein leises Zischen, Luft die sie einatmete, ich hörte es. Und sie tat es, sie begann zu sprechen. „Julia, gestern Abend ist etwas Schlimmes passiert.“
Sie machte eine Pause - eine kurze- dann redete sie weiter.
„Hanna und ihre Eltern waren mit dem Auto unterwegs gewesen und - und dann war da plötzlich noch ein anderes Auto. Hannas Papa konnte nicht mehr richtig lenken...“
Ich presste die Augen ganz fest zusammen. Ich stellte eine Frage, dessen Antwort ich nicht hören wollte.
„Was ist jetzt mit Hanna?“
Meine Mutter drückte mich fester an sich und sagte ganz leise: „Hanna ist nicht mehr am Leben.“
Wir saßen noch den ganzen Abend gemeinsam auf dem Bett.
„Bist du müde?“ fragte Mutter mich sanft, als es schon sehr spät gewesen sein musste.
„Ja, aber ich möchte noch nicht schlafen.“
„Das verstehe ich.“ Sie schaukelte ein bisschen hin und her. Ich wollte das nicht.
„Mami, kannst du mich jetzt alleine lassen?“
Sie schaute mich an, nickte und setzte mich langsam neben sich, dann stand sie auf und ging. Ich saß eine Weile alleine auf dem Bett, dann setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich schaute das Bild an, Tränen rollten über meine Wangen. Schließlich nahm ich es und zerriss das Bild. Ich konnte es Hanna ohne hin nicht mehr geben, warum hätte ich es also behalten sollen.

Am nächsten Morgen hatte ich fast vergessen, was passiert war. Dieses Vergessen hielt nicht lange an. Das flaue Gefühl im Magen und die Gedanken an Hanna holten mich schnell wieder ein.
Beim Zähne putzen konnte ich mich wegen der Tränen kaum im Spiegel erkennen, trotzdem war ich fest entschlossen heute in die Schule zu gehen. Es hatte sich so viel geändert durch Hannas Tod, ich wollte wenigstens ein bisschen Normalität, so tun als wäre nicht geschehen, was geschehen war.
Als ich die Treppe hinunter kam sah mich Mutter besorgt an. Sie lächelte schließlich und fragte, ob ich heute schon wieder in die Schule möchte. Ich nickte und ging an ihr vorbei in die Küche. Dort stand, wie jeden Morgen eine Tasse mit warmem Kakao für mich bereit. Ich trank ihn, dann nahm ich meinen Ranzen und machte mich auf den Weg zur Schule. Alles war wie immer.
Als ich in das Klassenzimmer kam, waren die anderen alle schon da. Nur Hanna nicht, denn Hanna würde nie wieder da sein. Damit die anderen die in mir aufsteigenden Tränen nicht bemerkten setzte ich mich schnell auf meinen Platz. Kurz darauf betrat auch die Lehrerin das Klassenzimmer. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie schaute mich an - so hatte sie mich vorher noch nie angesehen. Ich wusste was los war. Ich wusste, dass sie davon erfahren hatte und es nun den anderen sagen würde.
Die Lehrerin stellte ihre Tasche auf den Pult und blickte in die Klasse. Jeden Schüler sah sie für einen Moment an, dann begann sie zu sprechen. „Kinder, ich möchte euch etwas mitteilen.“ Sie war sehr ernst, traurig und ihre Stimme zitterte.
„Vorgestern ist etwas sehr trauriges passiert.“ Wieder schaute die Lehrerin in der Klasse umher, dann sprach sie weiter. „Eure Mitschülerin Hanna Jacob ist vorgestern bei einem Autounfall mit ihren Eltern verunglückt.“
Der Schock über diese Nachricht hing wie ein Schleier über der Klasse. Ein schmerzhaftes Ziehen ging durch meinen Körper. Ich konnte nicht mehr Schlucken, es war, als ob mein Hals zugeschwollen war. Ich nahm meine Tasche und rannte aus dem Klassenzimmer. Tränen strömten über mein Gesicht. Als ich endlich draußen, raus aus dem Schulgebäude war, blieb ich kurz stehen und schnappte nach Luft. Dann rannte ich weiter - nach Hause.
Ich klingelte und als Mutter die Tür aufmachte umklammerte ich fest ihre Taille. Sie streichelte über mein Gesicht und flüsterte: „Es wird alles wieder gut – alles wird wieder gut.“
Ich drückte sie von mir und sagte weinend: „Das wird nicht wieder gut, das wird nie wieder gut!“
Wieder war da dieses Ziehen, wieder tat es weh. Schließlich schrie ich: „Hanna ist tot! Hanna kommt nie wieder!“
Ich rannte hoch auf mein Zimmer. Ich holte aus dem Schrank einen Schuhkarton. Es war ein brauner, er war recht schön. Ich nahm mein Tagebuch. Dann holte ich mir einen dicken schwarzen Stift. Tränen rollten über mein Gesicht, ich malte die erste leere Seite schwarz. Dann legte ich es auf den Boden der Kiste. Alles was mich an Hanna erinnerte musste verschwinden, es tat zu weh und dass sollte es nicht, ich wollte mich schützen. Ich streifte unser Freundschaftsbändchen von meinem Handgelenk und legte es auf mein Tagebuch. Das gemeinsame Fotoalbum aus Hannas und meiner Kindergartenzeit kam als nächstes, dann das Püppchen. Bei dem Anblick des Püppchens begann ich erneut jämmerlich zu weinen. Ich verfluchte dieses Püppchen, ich hasste es. Wegen ihm hatte ich Streit mit Hanna gehabt, nur wegen ihm. Ich schmiss es in die Kiste.
Dann packte ich meine Malsachen zusammen und legte sie ebenfalls hinein.
Jetzt gab es Hanna nicht mehr.
Ich nahm die Kiste und stellte sie auf den Dachboden.
Seit diesem Tag sprach ich nie wieder von Hanna und von dem, was passiert war. Mutter versuchte ein paar Mal ein Gespräch anzufangen, gab es aber nach einer Weile wieder auf. Ich hatte sie durch mein Schweigen dazu gezwungen, genauso wie ich mich dazu gezwungen hatte, nicht mehr an Hanna zu denken. Ich habe alles verdrängt. Vergessen habe ich, was tief in mir war. Ich habe mir meine Trauer verboten, sie tat zu weh, alles tat zu weh.´

Das Klingeln des Telefons reißt Julia aus ihren Gedanken. Sie springt auf - zu spät. Es muss schon eine Weile geklingelt haben, ohne dass sie es bemerkt hatte. Gerade als sie wieder zurück zur Couch gehen möchte klingelt es wieder.
Es ist ihre Mutter. „Hallo Schatz! Ich wollte mal hören, was du so machst.“ „Ich habe gerade in die Kiste geschaut, die du gestern vorbei gebracht hattest.“ „Und? War was Wichtiges drin?“ Julia überlegt einen Moment, dann antwortet sie schließlich: „Ja.“ Sie macht eine Pause.
„Verrätst du mir auch was?“ Fragt ihre Mutter neugierig.
„Hanna“ antwortet Julia.
Es herrscht eine Weile Stille am Telefon.
„Was meinst du damit?“
„Ich hatte an dem Tag, an dem Hanna und ihre Eltern verunglückt waren alles, was mich an sie erinnerte, in diese Kiste getan. Ich wollte damals vergessen. Und ich habe vergessen, siebzehn Jahre lang.“

 

Hallo Dannelchen,

herzlich Willkommen auf KG.de!

Leider hat mir deine Geschichte nicht sonderlich gefallen.
Du hast ein sehr trauriges Thema gewählt. Ein Mädchen, dass ihre beste Freundin verloren und zu allem Übel vorher mit ihr gestritten hat.
Ich fand diesen Streit als unnötig. Er hat das ganze quasi noch schlimmer gemacht, aber tatsächlich war doch schon der Tod des Mädchens schlimm genug.

Die Idee den Rückblick mittels diesem Tagebuch zu machen fand ich eigentlich ganz gut, aber du hast zu erwachsen für eine achtjährige geschrieben, so dass ich mir dann dachte, du hättest die Geschichte besser gleich aus der Sicht des Kindes geschrieben.

Sprachlich hat mir deine Geschichte an weiten Teilen nicht gefallen, weil ich die Formulierungen manchmal etwas zu umständlich fand. Versuche doch mal deine Geschichte mit der Hälfte der Zeichen zu schreiben. Ich denke, dass du dich dann auf das Wesentliche beschränken musst und auch einige deiner umständlicheren Formulierungen herausfallen werden.

Heute ist sein erster Arbeitstag. Nachdem Julia ihm gesagt hatte, dass sie schwanger ist, hat er sich sofort auf die Suche nach einem besseren Job gemacht. Deshalb sind sie vor drei Wochen zusammen nach Frankfurt gezogen. Es ist ihre erste `richtige´ gemeinsame Wohnung. Seitdem sich die beiden vor fünf Jahren kennen gelernt haben, war Julia zwar praktisch immer bei Nick, in seiner Wohnung, hatte aber trotzdem noch einige ihrer Sachen bei ihren Eltern.

Dieser ganze Absatz wirkt auf mich etwas "leblos". Es wirkt ein bißchen runtererzählt, so als wolltest du diese Infos dringend unterbringen, ohne jedoch wirklich Lust zu haben sie auszuführen. Das solltest du noch ändern.

Gestern hatte ihr ihre Mutter eine kleine Kiste, die sie auf dem Dachboden gefunden hatte, vorbeigebracht.

Dieses "ihr ihre" klingt für mich unschön. Vorschlag: Gestern hatte ihre Mutter eine kleine Kiste, die beim Stöbern auf dem Dachboden aufgetaucht war, vorbei gebracht.

(So umgehst du auch die Wiederholung von "hatte".)

Da steht sie nun, allein in der neuen Wohnung, umringt von Umzugkartons und völlig unbeweglich wegen ihres stetig zunehmenden Körperumfangs.

Ich weiß ja nicht, in welchem Monat die gute Schwanger ist, aber ich denke vor dem sechsten Monat ist der Körperumfang nicht so heftig, dass man sich nicht mehr bewegen könnte. Nachdem du aber schreibst ihr Freund hätte sich sehr schnell um einen neuen Job gekümmert, kann sie noch nicht so "unbeweglich" sein.

Irgendwie ist Julia gespannt.

"Irgendwie" würde ich streichen. Man braucht es nicht.

Sie zelebriert das ganze, obwohl sie sich ziemlich sicher ist, dass ohnehin nur irgendwelcher Kleinkram in ihr drin ist.

Könntest du leicht umgehen, indem du schreibst: Sie zelebriert das ganze, obwohl sie sich ziemlich sicher ist, dass sich nur Kleinkram in ihr befindet.

Aber sie möchte Zeit schinden, denn wenn sie mit der kleinen Kiste fertig ist, warten sieben große darauf ausgepackt zu werden…

Ich würde diesen Satz streichen. Er bläht die Geschicht unnötig auf.

Julia wirft noch einen verstohlenen Blick auf die geschlossene Kiste, dann nimmt sie langsam den Deckel ab.

Würde ich ebenfalls streichen. Du hast oben schon ständig geschrieben, dass sie auf den Inhalt gespannt ist, sie keine Ahnung hat, was sich darin befindet und das Öffnen regelrecht zelebriert. Hier kaust du nur wieder das gleiche durch.

Sie kann mit dem, was sie sieht, im ersten Moment nichts anfangen. Julia zieht die offene Kiste näher an sich heran und legt sie auf ihren Schoß. Es scheint so, als hätte sie Recht gehabt und es ist wirklich nur unwichtiger Kleinkram in ihr.
Ganz oben liegt ein altes Malset. Vorsichtig holt sie es heraus und stellt es vor sich auf den kleinen Tisch. Jetzt kommt ein kleines Stoff-Püppchen zum Vorschein. Es hat ein weißes Kleidchen an, rosafarbene Wangen und rote Haare. Julia überkommt ein komisches Gefühl beim Anblick der kleinen Puppe. Lange hält Julia sie in den Händen, dann legt sie die Puppe Beiseite. Ein Fotoalbum folgt. Es ist ein kleines, höchstens zehn Seiten. Vorne, auf dem Einband steht in der Schrift ihrer Mutter geschrieben: „Wie alles begann…“
Sie legt das Fotoalbum neben sich, ohne hinein zu schauen. Julia will erst nachsehen, was sich noch für Schätze in der kleinen Kiste verbergen.
Sie findet ein buntes Armbändchen, auf dem etwas steht. Ein Name vielleicht, sie kann es nicht entziffern. Als nächstes und letztes holt sie ein Buch aus der Kiste. Auf dem Einband sind Sonnenblumen. Julia dreht das Buch um. Es ist ein Schildchen vorne drauf: „Tagebuch von Julia Bergmann, streng GEHEIM!“
Es ist ihr Tagebuch. Sie ist durcheinander. Julia hatte das Tagebuch völlig vergessen, auch, dass sie je eins gehabt hatte.
Sie klappt das Buch auf der ersten Seite auf.


13. 05. 1987

Liebes Tagebuch,


Der gesamte Tagebucheintrag klingt so, als hätte ihn nie im Leben ein achtjähriges Mädchen geschrieben. Sorry.

Es kommt ihr so vor, als hätte sie erst gestern geschrieben, was sie gerade gelesen hatte.

Den zweiten Teil des Satzes würde ich streichen. Es ist klar, dass sie das, was sie gerade gelesen hat mein. Unnötig es explizit zu erwähnen.

Die Angst vor dem, was sie mir sagen wollte, vor dem Unbekannten, sie rannte mir als Gänsehaut über den Rücken.

Guter Satz!

Es hatte sich so viel geändert durch Hannas Tod, ich wollte wenigstens ein bisschen Normalität, so tun als wäre nicht geschehen, was geschehen war.

Kann ein achtjähriges Kind sicht wirklich zur Normalität entschliessen? Ich glaube es nicht - zumindest kann es das nicht bewusst.

LG
Bella

 

Hallo Bella! Zuerst einmal vielen Dank, für deinen Kommentar! Deine Kritik im Bezug auf das Sprachliche und Stilistische kann ich gut verstehen und ich finde, dass du recht hast. Ich muss halt noch an mir arbeiten... :)
Was das Inhaltliche angeht bin ich nicht deiner Meinung. Sicher, der Tod der Freundin war schlimm genug, aber es ging mir nicht um die Schlimme, sondern darum, dass Julia Hannas Tod deshalb verdrängt hatte, weil sie nicht damit klar kam, dass sie mit ihr im Streit auseinandergegangen ist. Gerade weil es der erste Streit der beiden war, war das besonders schwer für sie. Sie wollte sich mit dem Bild sogar noch entschuldigen und durch den Unfall wird Hanna davon nie etwas erfahren.
Wenn man einen geliebten Menschen verliert, ist es einfacher damit klarzukomen, wenn man nicht im Streit auseinander gegangen ist.
Also nochmal Danke, ich werd bei meiner nächsten Geschichte auf deine Tipps achten.
Liebe Grüße, Dani

 

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