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Hannas Zuhause
„Meine Schwester sitzt schon wieder auf dem Dach. Was will die da nur immer? Sitzt da in ihrem weißen Kleid,…“ schimpft Hanna vor sich hin.
„Es ist schönes Wetter. Deine Schwester will wahrscheinlich da oben die Sonne genießen“, antworte ich und weiß im gleichen Moment, dass das die falsche Antwort war. Hanna will hören, dass ich mich eindeutig auf ihre Seite stelle. In diesem Fall heißt das, ihre Schwester, die dort unsichtbar in ihrem weißen Kleid auf dem Dach sitzt, ist verrückt, hat auf Hannas Haus nichts zu suchen, und man sollte sich vor ihr in Acht nehmen.
Schon ist es passiert. Eine unbedachte Antwort, und ich bin auch eine, vor der man sich in Acht nehmen muss. Hannas dichte weiße Augenbrauen ziehen sich drohend zusammen, ihr runzliges Gesicht runzelt sich noch mehr. Mit einer Geschwindigkeit, die man einer Achtzigjährigen kaum zutraut, rafft sie alle Decken und Kissen zusammen, die um sie herum liegen, erhebt sich vom Sofa und schimpft: „Dumme Gans, ich gehe nach Hause!“
Leicht schwankend ist sie immer noch schnell und macht sich auf den Weg durch den Flur ins Treppenhaus. Was nun folgt ist unser Alltag: mein Job und Hannas Leben.
Hanna wird mit ihren Decken und Kissen unten auf der Straße ihr Zuhause suchen. Wenn ich Glück habe, bleibt sie vor der Tür stehen und redet leise vor sich hin. Dann kann ich fünf Minuten später einfach neben ihr auftauchen und „Retterin“ spielen – eine ganz neue Person sein, die ihr den Weg nach Hause, die Treppe hinauf in ihr Wohnzimmer zeigt.
Wenn ich weniger Glück habe, bin ich keine ganz neue Person, und sie erinnert sich daran, dass sie auf mich böse war. Wenn ich Pech habe, läuft sie weiter zur Straßenkreuzung und ruft Passanten zu, dass sie nach Hause will. Passanten, die nicht wissen, wie sie mit verwirrten Menschen umgehen sollen, und gut meinend versuchen, der alten Frau eine Realität zu erklären, in der sie schon längst nicht mehr lebt. „Beruhigen sie sich, da hinter Ihnen ist doch Ihre Betreuerin.“ Hanna hat keine Betreuerin, Hanna will nach Hause. Und hinter sich die Person zu sehen, die sie gerade gar nicht sehen will, regt sie nur noch mehr auf.
Wenn ich wirklich Pech habe, versucht Hanna Autos anzuhalten, die sie nach Hause bringen sollen. Zum Glück kann man hier nicht schnell fahren, und Hanna, die halb auf die Straße springt und mit den Armen rudert, ist wenigstens nicht in Gefahr.
Heute habe ich den Fünfminutentrick schon mehrmals erfolglos probiert, bin immer noch die Böse und wünsche mir inständig, dass jemand auftaucht, den ich kenne, der für Hanna Retter spielen kann. Am besten ein Mann, denn Hanna liebt es zu flirten, darüber vergisst sie sogar ihre Suche nach ihrem Zuhause.
Der ersehnte Held taucht nicht auf, dafür Eva mit ihren Zwillingstöchtern, das ist beinahe noch besser. Eva wohnt unten in Hannas Altbremer Haus und ist ihr in den letzten Jahren vertrauter als alle anderen Menschen geworden. Als Hanna Eva sieht, läuft sie strahlend auf sie zu, so schnell sie mit ihrem Gepäck eben kann. „Bring mich nach Hause! Wo warst du denn so lange? Hier sind nur Verrückte!“, japst sie mit einem Seitenblick auf mich.
Ich habe verstanden und laufe noch eine Weile auf der kopfsteinpflasternen Straße auf und ab, bis ich mich hoch zu den beiden wage. Eva und Hanna sitzen bei Kaffee und Kuchen in Evas durchsonnter Wohnung und Hanna begrüßt mich wie einen lange ersehnten Gast. Immer noch Decken und Kissen festklammernd sitzt sie da, als wäre sie die Gastgeberin, und freut sich über alles. Über den winzigen Hund, der um ihre Beine herumspringt, über die kleinen Mädchen, die durch die ganze Wohnung spielen, über die Vögel vor dem Fenster und sogar über mich. Wenn Hanna lacht, kann man sich vorstellen, dass sie früher mal ganze Partygesellschaften unterhalten hat, in einem Leben, in dem wir sie nicht kannten. In einem Leben, das noch Zusammenhang hatte, in dem sie noch nicht jeden Satz mindestens zehn Mal sagte.
Plötzlich runzelt sich Hannas Gesicht wieder. „Alles juckt“, klagt sie. „Das juckt so. Das waren die anderen. Nimm das weg. Kratz mal.“ Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.
„Wo denn, Hanna?“ „Am Rücken.“
Ebenso wie ihre Decken und Kissen ist auch Hannas Mantel ihr heilig. Nur wenn sie wirklich gut gelaunt ist, lässt sie sich überreden, ihn auszuziehen. Dieser Moment ist günstig, und tatsächlich liegen Decken, Kissen und Mantel einen Moment später neben Hanna und sie lässt sich erleichtert am Rücken kratzen.
Ermutigt und leichtsinnig will ich die Gelegenheit nutzen, um Hannas Taschen auszuleeren, die meist voller Brötchenreste sind, Reste trockener Brötchen, die Hanna sich im Bäckerladen an der Ecke schenken lässt. Doch Hannas Augen sind überall. „Die klaut meine Sachen!“, schreit sie. „Diebe und Verbrecher!“ Ich habe wieder verspielt.
Mir bleibt keine Zeit, das zu bedauern, denn es klingelt an der Tür. Dort steht ein Gast, über den sich keine von uns wirklich freut, Herr Behrmann, Hannas gesetzlicher Betreuer. Er ist Rechtsanwalt und hat die Betreuung übernommen, als Hannas einziger Bruder sich damit überfordert fühlte. Er hat noch siebzehn andere „Betreute“ und hält sich für eine Art Fachmann. Es ist ihm ein Dorn im Auge, dass Hannas kleines Vermögen darauf verwendet wird, eine Riege von Studenten zu bezahlen, die seiner Meinung nach nicht viel anderes tun, als auf Hannas Kosten mit ihr Kaffee zu trinken.
„In einem Pflegeheim würde man sich professionell um Frau Wohltorf kümmern, und es wäre kostengünstiger“, sagt Herr Behrmann zu Eva, kaum dass er an ihrem Kaffeetisch sitzt, von Hanna misstrauisch beäugt. Mich beachtet er nicht weiter, ich bin ja nur eine von diesen unqualifizierten Studentinnen. Eva dagegen ist Altenpflegerin. Sie ist in dieses Haus gezogen mit der Auflage, ab und zu ein Auge auf die leicht verwirrte Eigentümerin zu werfen. Inzwischen reicht ein Auge längst nicht mehr aus, Hanna braucht rund um die Uhr Betreuung. Über die Nachbarschaftshilfe des Roten Kreuzes kam eine Schar junger Leute. Junge Menschen, die Hanna mögen und sich in ihrer Welt auskennen, auch wenn sie es nicht immer schaffen, sie zum Waschen und Zähneputzen zu motivieren. Junge Menschen, die sich mit Hanna im Halbstundentakt auf die Suche nach einem Zuhause machen, das es für Hanna nur noch in Bruchstücken gibt.
„Sie weiß doch sowieso nicht mehr, dass dies ihr Haus ist. Sie erkennt ihre Umgebung doch nicht mehr wieder. Warum sollte sie unbedingt hier wohnen bleiben?“, sagt Herr Behrmann gerade mal wieder. Und wie um zu beweisen, was er schon längst für bewiesen hält, schaut Hanna ihn feindselig an und stößt hervor: „Ich will nach Hause!“.
„Wo sind sie denn zu Hause, Frau Wohltorf?“, fragt Herr Behrmann mit ein wenig zu sanfter Stimme.
„Ich will nach Hause!“, wiederholt Hanna störrisch. „Alles Verrückte hier. Klauen meine Sachen. Alles haben sie mir geklaut. Schmeiß die mal raus!“
„Ich werde mich darum kümmern“, erwidert Behrmann noch sanfter mit kaum verhüllter Selbstzufriedenheit in seiner Stimme.
Na wunderbar, denke ich, jetzt kündigt er uns allen, und behauptet noch, es auf Hannas Wunsch hin getan zu haben.
Vor stiller Aufregung vergesse ich, dass ich mich wegen der ausgeraubten Manteltaschen außerhalb von Hannas Sichtfeld aufhalten wollte. Ich komme aus meiner Ecke, Hanna erblickt mich und strahlt.
„Da“ ruft sie und zeigt auf mich. „Da bin ich zu Hause! Da werde ich am Rücken gekratzt, da bin ich zuhause!“
Wir fallen beinahe beide über den Hund, als sie mich stürmisch an sich drückt.
Herr Behrmanns flüchtiger Abschied geht unter in Hannas Begeisterung. „Aber sehen Sie zu, dass Sie sie zweimal in der Woche baden…“, hören wir noch.
Für dieses Mal bleiben wir hier, in dem einzigen Zuhause, das Hanna noch hat.