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Hansen kommt
Hansen kommt
(Gruselige Kurzgeschichte von Karsten Breitung alias Leichnam)
Ein stinkendes, ekeliges Etwas in meinen Händen - ein konserviertes Stück afrikanischer Ochsenfrosch. Hansen hatte es mir gegeben und dabei gesagt, es würde sich um ein ehemaliges Besitztum eines völlig unbekannten haitianischen Stammes handeln, der eine sehr spezielle Art des Voodoo betrieb, jener “Zauberkunst”, die eigentlich ach so böse sein konnte. Mir war durch meinen alten Kameraden erklärt worden, er würde es mir einfach schenken wollen. Nun besaß ich das Ding, von dem ich wusste, dass es seinem Besitzer einen Wunsch erfüllen würde. Danach würde es wertlos sein.
Der gute alte Hansen hatte diesen vertrockneten Streifen auf einer seiner ehemaligen Abenteuerreisen einem alten “Stammeshäuptling oder Medizinmann” abgekauft. Dies hatte Hansen mir in einer vertrauten Stunde einst gesagt, die nun auch schon wieder sehr lange zurücklag.
Wieder und wieder betrachtete ich jenes Teil, diesen Fetisch, wenn man so wollte. Hatte es damit wirklich ernsthaft etwas auf sich? Oder war es Spinnerei, nichts weiter?
Nachdenklich ging ich in meiner Stube auf und ab. Es war ein stürmischer Herbstabend. Die Fensterläden wurden ordentlich durchgerüttelt, und es regnete zusätzlich sehr stark. Das Kaminfeuer war mir immer wieder ausgegangen, da der heftige Wind immer wieder stoßweise in den Schlot pfiff und jede Flamme erbarmungslos auslöschte. Mir war nichts anderes übrig geblieben, als mir eine gut gefütterte Jacke überzuziehen, um nicht zu sehr in meinen kalten vier Wänden zu schlottern.
Unentwegt murmelte ich einen einzigen Satz vor mich hin, der da lautete: “Ist etwas dran?”
Noch zweifelte ich stark. Doch bisher war mir auch noch kein anständiger Wunsch eingefallen, da ich eigentlich im Grunde meines Herzens glücklich war.
Irgendwann begann ich in meiner tiefen Nachdenklichkeit, das gesamte Haus zu durchkreuzen - schließlich war auch der Dachboden erreicht. Der Regen trommelte gegen das Außendach, und dabei kam wieder die berühmte Atmosphäre von Gemütlichkeit und Geborgenheit auf. Mein Blick fiel auf das Fernrohr am großen Giebelfenster, welches auf seiner Halterung mit Ständer befestigt war. Astronomie war ein großes Steckenpferd von mir - oft hatte ich nächtelang durch jene wunderbare Optik den Sternhimmel beobachtet, mir die bizarre Oberfläche des Mondes angeschaut, ja sogar die Ringe des Saturns hatte ich schwach gesehen. Wie oft war auch mein guter Kamerad und Schulgefährte Hansen mit hier oben gewesen und hatte selbst, mit vielen verwunderten Aussagen auf den Lippen, die voller Tiefe und Philosophie, das Himmelszelt durchsucht.
Die Gespräche mit dem Freunde im Salon - immer waren diese äußerst interessant gewesen, vor allem, wenn Hansen von seinen zahlreichen Weltreisen geredet hatte. Schon eine halbe Ewigkeit gab es diese wertvollen und sinnreichen Unterhaltungen nicht mehr, da der alte Haudegen seine Geldmittel aufgebraucht hatte und nun seit etlichen Monaten in einer Stahlbaufabrik arbeitete. Diese lehrreichen Abende und Nächte fehlten mir mittlerweile doch sehr, doch was sollte ich tun? Hansens Zeit war schlichtweg zu begrenzt geworden, als dass es diese illustren Gesprächsrunden auch weiterhin gegeben hätte.
Seufzend stand ich an dem Fernrohre und starrte trübsinnig in den Regen hinaus, während es langsam dunkler wurde. Gerade diese Regennacht wäre optimal geeignet gewesen für Zigarre, Whiskey und schürfende, abwechselnd geführte Reden. Doch der Freund war vom Abend bis in die frühen Morgenstunden hinein in seiner Stahlbaufabrik, wie ich wusste. Er schuftete hart, um das Geld für eine weitere große Reise zu erlangen. Da konnte man eben nichts machen.
Wirklich nicht?
Mein Blick fiel auf den haitianischen Ochsenfrosch-Streifen, jenes Objekt eines Wunsches … Sollte ich es tatsächlich versuchen? Wie musste man es gleich tun?
Richtig! Das abstoßende Ding mit einem Zeigefinger intensiv streicheln und dabei langsam seinen Wunsch deutlich vor sich hin sprechen.
Ich setzte mich auf eine alte, staubige Kiste in Nähe des Giebelfensters und begann entschlossen und hoch gespannt mit der kleinen Zeremonie. Ich strich mehrmalig mit dem Zeigefinger über das trockene, längliche Tierleichenteil und sagte dabei meinen Wunsch laut auf.
“Ich will, dass Hansen sich auf den Weg macht, um mich jetzt gleich zu besuchen für einen langen, angenehmen Plauder-Reigen! Er soll alles stehen und liegen lassen und sofort kommen!”
In diesem Moment schlug unten im Salon der Telephonapparat an.
Ich zuckte ruckend zusammen, atmete erst einmal kräftig durch. Schnell! Ich musste schnell hinunter, ehe wieder aufgelegt wurde. Das nun wohl unnütze Teil in meinen Händen legte ich auf die Kiste ab. Dann spurtete ich in Richtung tiefer gelegene Hausbereiche eiligst los.
Während ich die schmale Treppe hinunter polterte, schoben sich blitzschnelle Gedankenketten durch mein Hirn. Seltsamerweise glaubte ich in der Tat an die Wirkung des Reliktes. Dieses Läuten des Telephones musste einfach zu tun haben mit meiner Sache …
Ich kam im Schummerlicht des Salons an. Hinter den Fenstern grollte plötzlich Donner auf. Ein Gewitter, noch ziemlich fern. Doch man wusste, wie schnell so etwas näher kommen konnte …
Es läutete schrill und überlaut. Ich stolperte hin und riss den Hörer herunter, hielt die Muschel ans Ohr, meldete mich verstört.
“Ja?”
“Sind Sie Eugen Spiegel?” Eine männliche Stimme, leicht hektisch klingend.
“Ja. Am Apparat.”
“Sie sind ein Bekannter von Hendrik Hansen, nicht wahr?”
“Das ist richtig.” (Ich wurde noch aufgeregter.)
“Da Sie die einzige Person sind, die wir in den Akten haben - und wir gesetzlich zur Information der Hinterbliebenen verpflichtet sind - muss ich Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass unser Mitarbeiter Hendrik Hansen einen schweren Unfall erlitt … Noch schlimmer: Er ist dabei ums Leben gekommen …”
Ich schluckte nur. Sagen konnte ich zunächst nichts. Nach einer kurzen Pause, in der mein Gesprächspartner wohl auf eine Bemerkung meinerseits wartete - die aber nicht folgte - fuhr der Mann am anderen Leitungs-Ende fort.
“Mein Name ist Bräuer. Ich bin der stellvertretende Chef von 'Stahlbau Saarau'. Ihr Bekannter war sofort tot. Durch eine Unvorsichtigkeit muss er von unserer Blechroll-Maschine erfasst worden sein. Sein Körper ist bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wenn Sie kommen wollen, um sich noch einmal die Leiche anzusehen, dann bitte sofort. In den nächsten Minuten wird … Nein, Moment! Ich sehe gerade, dass der Leichnam nicht mehr da ist. Man hat ihn anscheinend schon entfernt. Ich werde Ihnen morgen das Leichenhaus nennen, wo man ihn hingebracht hat.”
“Wann?”, stammelte ich. “Wann genau ist es passiert?”
“Vor etwa 10 Minuten. Ich dachte, ich informiere Sie lieber schnell als gar nicht, Herr Spiegel.”
“Danke. Das war richtig …”
Ich legte erschüttert auf. Für mich wankte die Welt. Blitze zuckten ins Zimmer, kurz darauf klang Donner auf. Es war ja so klar, dass dieser Bräuer keine Leiche mehr sah. Denn Hansen war auf dem Weg zu mir!
Ich fühlte zunächst kurz eisige Erstarrung bei mir. Dann aber wurde mir klar, dass ich schnellstens etwas tun musste. Der Fußweg von jener Fabrik bis zu meinem Hause war bei normalem Gang in etwa 15 bis 20 Minuten geschafft. Ich kam aus meiner Vereisung heraus, denn ich wollte nur eines tun: Verhindern, dass die von einer Maschine zerfetzte Leiche mein Haus betrat …
Ich rannte in den Keller hinunter und holte Bretter, Nägel und einen Hammer. Damit rannte ich zum Portal und machte es schwitzend niet- und nagelfest. Ich arbeitete verbissen und ohne eine Sekunde Pause. Denn in mir gab es einen Satz, den Hansen einst gesagt hatte - der mir nie aus der Erinnerung entgangen war: ´Wenn ich tot bin, werde ich spuken!´
Dies hier nahm sich zumindest in meinen entstellten Vorahnungen mehr als ein Spuk aus. Als das Werk an der Tür vollbracht, stürmte ich auf den Dachboden hinauf und klemmte mich hinter das Fernrohr, das ich in Richtung Landschaft herunter drückte.
Regen, Regen, Regen. Der Boden war längst matschig geworden. Ein Blitz. Kurz darauf Donner. Das Gewitter kam näher. Genau wie Hansen …
Nach ihm hielt ich Ausschau. Ich hoffte, eine Gestalt heranwanken zu sehen. Meine Taschenuhr sagte mir, dass mittlerweile nach dem Anruf fast 10 Minuten vergangen waren. Eigentlich müsste Hansen bald zu sehen sein!
Noch sah ich nur wilde, frühnächtliche Natur da draußen - ansonsten streunte bei diesem Sauwetter nicht einmal ein Tier umher.
Innerlich vernahm ich die Stimme Bräuer´s. 'Durch eine Unvorsichtigkeit muss er von unserer Blechroll-Maschine erfasst worden sein. Sein Körper ist bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt …'
Ich nahm rasend den Blick aus dem Sucher. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Ich schwenkte meine Aufmerksamkeit hin zu jenem Stück Frosch, welches auf der Holzkiste lag. Ich hatte nun einen wahnsinnigen Respekt davor, schob die Kiste mit dem Fuße dicht an einen Bretterverschlag heran, mich dabei schier ekelnd vor dem verflixten konservierten Leichenteil. Dann fasste ich mich und schaute nochmals durchs Fernrohr.
In der Ferne, im Düster des Unwetters, sah ich, wie etwas Dunkles nahte. Es schien mir mühevoll zu kriechen …
Ich musste logisch handeln und tat es auch! Der Streifen Frosch wurde aufgenommen, und ich konzentrierte mich kurz. Dann tätigte ich die Striche mit dem Zeigefinger.
“Ich will, dass Hansen in die Fabrik zurückkehrt!”
Erneut hetzte das Auge zum Fernrohr. Noch immer war dieses Kriechende dort. Und kam unaufhaltsam näher! Wortlos ließ ich den makaberen Gegenstand fallen.
Grauen packte mich! Mir schnürte es die Kehle zu! Die Position, die erreicht worden war, befand sich vielleicht noch reichlich 5 Minuten von meinem Hause entfernt …
Ich versuchte, Einzelheiten der Gestalt zu erkennen. Dies gelang nicht. Zum einen hüllte die Dunkelheit ein, zum anderen war dieses Ding in ständiger Bewegung. Ich sah nur, dass Deformationen vorhanden waren - Proportionen stimmten auf der ganzen Linie nicht, vermutlich lag es an den Quetschungen durch die unbarmherzigen Stahlrollen, die den Körper brutal herangezerrt hatten …
Erschüttert beendete ich die Beobachtung. Was würde folgen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hansen zu einem Plauder-Stündchen anrückte, wie ich es mir eigentlich gewünscht hatte … Er verfolgte wohl eher den Befehl, hierher zu kommen. Ob er dabei noch denken konnte, entzog sich völlig meiner Kenntnis. Er kam - Hansen kam - dies war alles, was glasklar auf der Hand lag. Und er würde in den nächsten Minuten das Haus erreicht haben …
Ich schloss kurz die Augen. In mir tauchten Bilder auf. Ich sah das einstige lachende Gesicht des Kameraden, die Gutmütigkeit in den Augen. Dann schlug es jäh um. Ich sah einen um sich schlagenden, zappelnden Menschen, der in eine Maschine gezogen wurde und sich nicht wehren konnte. Ringsum kein Mensch, der es bemerkte und zu Hilfe eilen konnte. Ich sah Blut wie einen feinen Schleier durch die Luft schweben, und das geistige Bild endete in Rot, Rot und nochmals Rot. Ich riss die Augen krampfhaft auf und mir war, als erschalle draußen vor den Mauern des Hauses ein lang nachhallender Schmerzensschrei voller Pein und Irrsinn …
Wahnsinniger!
Ich eilte keuchend nach unten zum fest verrammelten Portal und legte mein Ohr ans Holz. Bumm! Bumm! Bumm! Mein eigener Herzschlag …
Oben hatte ich es nicht mehr gewagt, nochmals durchs Fernrohr zu schauen. Ich ahnte jedoch, dass Hansen die unmittelbare Umgebung des Hauses erreicht hatte …
Wieder das Getöse des Donners, ein mächtiges Krachen und Nachschallern. Regen rauschte gegen die Türe, und die Nacht da draußen hatte sich zu purer Ungemütlichkeit gewandelt.
Still! Hörte ich nicht ein weiteres Geräusch? Etwas Schleifendes? Ich drückte mein Ohr noch fester gegen das Holz. Wieder Donner-Grollen - diesmal entfernter. Das Gewitter schien ein gigantisches Gebiet zu überspannen. Wieder Stille.
Ein gequältes Stöhnen! Überdeutlich und direkt vor der Haustür!
Mir lief es eiskalt den Rücken hinab wie noch nie vorher im Leben! Der Entstellte war angelangt!
“Eugen …” Kraftlos fiel mein Name. Eine Hand - oder das, was von ihr übrig war - kratzte am Portal im untersten Bereich. Hansen lag draußen im Schlamm.
“Euuugen! …”
Ich wich furchtsam zurück in die Dunkelheit der Vorhalle. Warum nur hatte ich Geizkragen meinem Freunde kein Geld gegeben? Nie hätte er in diese verdammte Fabrik gemusst!
“Euuugen! …”
Noch gequälter klang die Bitte. Und noch eindringlicher das Schaben und Kratzen am Türholz. Ich kam mir alleingelassen und unendlich hilflos vor. Die Torturen des Zerquetschten mussten unsagbar tragisch sein … Wesentlich schlimmer als die düstere Situation, in der ich mich befand. Leid und Grauen hatten sich wie ein unsichtbares, riesiges Leichentuch über die Mauern des Hauses gelegt. Und vor meinem geistigen Auge sah ich die zerschmetterte Hand, die tastend meine Kehle suchte …
Entnervt schüttelte ich die Vorstellung von mir ab. Im Banne der Tortur näherte ich mich wieder ganz langsam der vernagelten Eingangstüre.
Ein Blitz zuckte auf. Durch das weit oben gelegene Hallenfenster schoss das übergrelle Licht herein und sorgte für scharfe, zackige Schatten. Ich schaute wild um mich, stierte wieder in Dunkelheit. Es schien fast, als wäre Hansen überall …
Aber er war da draußen, gleich hinter dem Türholz. Nachdem der harte Donnerschlag geendet hatte, vernahm ich das lang gezogene, weinerliche Wimmern, welches aus dem Mundloch des Angekommenen strömte. Ein Geräusch, dass leise war - und trotzdem unter dem Firmament des schwarzen Himmels nachhallte! Das Grauen ließ mir die Nackenhaare nach oben schnellen …
Doch ich wagte den letzten Schritt hin zum Eingang, und wieder legte ich - zögernd zwar, doch ich tat es - das Ohr auf, um zu lauschen. Kaum tat ich dies, als wieder das Kratzen begann. Diesmal wurde es zum Pochen, wirkte fordernder.
“Euuugen! Lasse mich rein!”
Dieser eine Satz klang in einer derartig schauderlichen, leicht zittrigen Tonlage auf, dass es mich zur Flucht bewog. Ich begab mich verstört und wankend nach oben in die kleine Bibliothek, wo ich mich in einen Lehnstuhl fallen ließ, welcher gleich an der Außenmauer stand. Überdies saß ich nun über dem Portale, über Hansen, der da unten liegend Einlass begehrte. Langsam kam der fliegende Atem zur Ruhe, und im Verein mit den unheimlichen Tönen des langsam wieder abziehenden Gewitters mischten sich die Klagelaute Hansens.
Die Nacht war entsetzlich, und nie im Leben werde ich sie vergessen! Unentwegt winselte und bettelte der Zerstörte. Er wollte ins Haus gelassen werden. Ich selbst aber wagte es nicht einmal, einen Blick nach unten zu werfen - hin zu der bemitleidenswerten Kreatur. Etwas anderes war er in meinen Augen nicht mehr.
So zog die Morgendämmerung im noch leichten Regen auf. Es gab sich dicht bewölkt, lediglich ein Grau in Grau zeigte sich. Und noch immer saß ich im Lehnstuhle und lauschte erstarrt auf dieses unfassbare, todtraurige Stöhnen und Rufen vom Portale her. Langsam dämmerte mir, dass Hansen nicht aufhören würde. Solange, bis ich mich ihm zeigte …
Doch bis in weite Vormittagsstunden blieb ich reglos sitzen wie gelähmt. Der Regen wurde wieder stärker.
Unten pochte es immer wieder. Und das quäkende Wimmern des Gerufenen nahm kein Ende. Ab und an fiel mein Name. Ich bewunderte voller Entsetzen die Geduld Hansens.
“Euuuugen!” Wieder rief er mich direkt. Und obwohl ich es nun mittlerweile stundenlang vernommen hatte: Ich konnte mich nicht an die Situation gewöhnen …
Allerdings trat endlich die Angst mehr und mehr ins Hintertreffen. Ich hörte weder Verlockung noch Aggression aus der schwächlichen Stimme heraus. Es war einfach ein gebrochenes Reden, das ab und an in einen Klang völliger Verzweiflung ummündete. Schon lange war mir klar, dass ich Mitleid hatte …
Der Regen rauschte gegen Bleiglasfenster. Ich hatte es gemütlich hier oben. Aber draußen vor der Türe …
“Euuugen!”
Er forderte und forderte mich auf. Und endlich konnte ich nicht mehr. Ich sprang regelrecht aus meiner sitzenden Position auf die Beine. Dann eilte ich in den Keller, holte ein Brecheisen. Und später noch fand ich mich vor dem Portale wieder, hinter dem wie ein Leierkasten Hansen redete.
ICH hatte ihn gerufen! ICH! War es nicht meine Pflicht, ihm wenigstens für eine Sekunde in die Augen zu sehen?
Ich setzte das Brecheisen an und begann damit, die aufgenagelten Schutzbretter hinfort zu hebeln …
Es knackte, krachte und knarrte. Ich hielt kurz inne. Hansen schwieg jetzt … Schwieg und wartete darauf, dass sich endlich vor ihm die Tür auftat …
Vorsichtig legte ich das Brecheisen zur Seite. Dann nahm ich den Schlüssel, drehte ihn. Und ich tat die Tür Stück für Stück auf, angestrengt schräg nach unten starrend, mit halb offenem Munde. Und mir schallte ein geckerndes Lachen entgegen - ein schlimmes, glucksendes Geräusch … Ich sah - Hansen!
Mein Mund ging noch ein wenig mehr auf. Was da vor mir lag und mich aus einem noch verbliebenen Auge anstarrte, war quasi der Inbegriff einer lebenden Leiche. Völlig deformiert, verstümmelt, blutverkrustet. Der Regen hatte es nicht geschafft, das eingetrocknete Blut von der zerfetzten Haut zu waschen. Rohes, gerissenes Fleisch, wohin man schaute - die Arbeitskleidung in Fetzen - geborstene Knochen als offene Brüche - eine Hand vollkommen flachgedrückt … Ich zog die Tür endgültig nach innen auf.
“Euuugen …”
Ich schluckte. Er hatte den Namen nur mehr gehaucht. Zur Antwort konnte ich nur nicken. Zum Sprechen war ich nicht in der Lage. Da war er also, mein alter Kamerad. Was mochte jetzt in der Werkhalle los sein, da der Leichnam seit Stunden fehlte?
“Euuugen … Wir sprachen … über … eine Reise-Empfehlung … Vai, ich … schlage Dir Vai vor … Im Nordosten Kreta´s.”
Ich nickte. Mit trockener Kehle antwortete ich.
“Ja. Vai! Das ist gut. Ich werde mich informieren. Ich werde reisen, ein paar freie Tage dort verbringen. Vai, das ist wirklich gut!”
“Ich freue mich … dass … Du es … so siehst!”
Er röchelte. Der Kopfrest, der auch Blick aufs Hirn zuließ, sackte schwächlich ab. Aus dem Mundloch, das im Dreck lag, kamen pfeifende Geräusche. Dann zuckte der Körper, kam zur Ruhe.
Die letzte Unterhaltung hatte stattgefunden. Ich hatte mir ja eine Plauderei mit Hansen gewünscht.
Sanft verwischte der Regen jegliche Kriechspur … Und nun lag endgültig die Leiche dort.
ENDE