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Happy Birthday
um einen tanzenden Stern gebären zu können.
F. Nietzsche
Ich stand an der Kasse im Supermarkt und trat nervös von einem Bein auf das andere. Ich wollte noch etwas - für mich sehr wichtiges - erledigen und Oma Weller wartete bestimmt schon auf einige der Dinge, die vor mir auf dem Band lagen. Die Kassiererin schien die lange Schlange nicht zu stören, denn sie sah keinen Grund ihre Unterhaltung zu unterbrechen. „Schock? Ja was glaubst du denn, ich dachte ich hör’ nicht recht.“ Die Stimme gehörte Frau Suhrbier, die vor mir an der Kasse stand.
Ich schüttelte den Kopf. Diese Familie hatte wirklich Talent, ständig und überall für Aufsehen zu sorgen. Ich konnte mich noch gut an einen Sechsjährigen erinnern, der den Jeep des Vaters im Dorfteich versenkt hatte, oder an Julias Konfirmation, bei der Vater Suhrbier die gesamte Festgesellschaft wegen eines drohenden Gewitters kurzerhand zur Heuernte abkommandiert hatte. Aber der Geburtstag von Julia Suhrbier, sollte das alles noch weit übertreffen.
Klingeln riss mich aus dem Tiefschlaf, so dass ich mehr zum Telefon stolperte, als lief. „Gemeindestation Schwester Lea.“
„Suhrbier hier. Lea, Gott sei dank, du musst ganz schnell mal kommen, ich kann den Doktor nicht erreichen. Der is ja nie da, wenn man den mal braucht.“
„Was … was ist denn los, haben Ihre Wehen eingesetzt?“ Frau Suhrbier war im neunten Monat schwanger und erwartete in Kürze Kind Nummer sechs.
„Nein, mit mir ist alles in Ordnung, der Julia geht es nicht gut, sie hat schlimme Rückenschmerzen, bestimmt wieder die Nieren, wenn sie doch nicht immer so halb nackt und ohne Unterhemd umherlaufen würde. Und das, wo sie doch heute fünfzehn wird. Hach, immer dieser Ärger mit dem Kind und nie hört sie auf mich. Bitte komm schnell. Ja?“
„Okay, bin schon unterwegs“, sagte ich knapp, während ich bereits dabei war, mich anzuziehen und nach meiner Schwesterntasche zu angeln.
Zehn Minuten später stieg ich aus dem Auto, die letzten 500 Meter bis zum Suhrbierhof musste ich laufen. Als ich endlich angekommen war, schäumte ich vor Wut. Meine ehemals hellblauen Turnschuhe waren mit Schlamm übersäht und ich hatte mir den linken Knöchel verstaucht, als ich erst in ein Loch getreten und dann über einen Stein gestolpert war. Verdammte, scheiß Baustelle, unser Bürgermeister hat wirklich zu viel Geld.
„Bin ich froh, dass du da bist.“ Frau Suhrbier empfing mich unter der Haustür und lief vor mir die Treppen nach oben. „Ich glaube sie hat eine Nierenkolik, ich wollte ihr warme Umschläge machen, aber sie hat mich aus dem Zimmer geworfen. Mich, die ich nur helfen wollte. Kannst du dir das vorstellen?“
„Wenn man Schmerzen hat, reagiert man oft völlig anders als normal. Das müssten sie doch eigentlich besser wissen als ich.“ Ich deutete mit einem Lächeln auf ihren mittlerweile beträchtlichen Bauch und betrat das Zimmer.
Julia lag auf der Seite , zusammengekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib, ihre blonden Haare klebten ihr schweißnass im Gesicht und sie war kreidebleich.
„Hallo, ich bin’s, Lea. Kannst du mir zeigen, wo es genau weh tut?“ Das junge Mädchen wollte antworten, doch daraus wurde nur ein Stöhnen. Sie wälzte sich auf den Rücken, zog abwechselnd die Beine an und bewegte sich unruhig hin und her, wobei sie es vermied, ihr Gewicht auf das Steißbein beziehungsweise das Becken zu verlagern. Eine wage Ahnung schlich sich in mein Unterbewusstsein, aber ich hoffte - eigentlich betete ich - dass ich unrecht hatte.
Als die Schmerzattacke vorbei war, rollte sie sich wieder auf die Seite und blickte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte geweint, und sie hatte Angst, panische Angst. Sie nahm meine linke Hand und hielt sie krampfhaft fest. Ihr Griff war wie ein Schraubstock. „Lea.“
„Schon gut, es kommt alles wieder in Ordnung“, beruhigte ich sie. Ich schob meine Hand vorsichtig unter ihr Nachthemd, tastete über ihren Bauch, dann am Rippenbogen entlang und fand meinen Verdacht bestätigt. Mein Gott, wieso hatte ich denn nie irgendetwas bemerkt? Ich war doch Krankenschwester.
„Was hat das Mädel denn nun?“ Frau Suhrbier stand unter dem Türrahmen und blickte mich fragend an.
„Könnten Sie uns kurz allein lassen?“
„Aber ich bin die Mutter.“
„Bitte, ich muss Julia genauer untersuchen.“ Frau Suhrbier blickte mich missbilligend an, verließ aber ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
„Kannst du dich bitte auf den Rücken drehen.“ Während Julia tat, was ich ihr gesagt hatte, zog ich einen sterilen Handschuh an und schob ihr Hemd nach oben.
„Entspann dich, okay, ich bin ganz vorsichtig.“
Als ich meine Untersuchung beendet hatte, lächelte ich Julia zuversichtlich an: „Keine Angst, das kriegen wir schon hin.“ Tausend Fragen brannten mir im Moment auf der Seele, aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Ich nahm mein Handy und wählte den Notruf, während Frau Suhrbier, vorsichtig durch den Türspalt spähte und dann das Zimmer betrat.
„Rettungsleitstelle Chemnitz.“
„Guten Morgen, Schwester Lea von der Gemeindestation hier. Ich brauche einen Rettungswagen zum Hof der Familie Suhrbier, Waldweg eins in Zwönitz. Fünfzehnjährige Patientin mit Wehen im Abstand von ungefähr zwei Minuten. Geburt am Termin oder nahe dran, das weiß ich nicht so genau. Muttermund vollständig, Kopf steht am Beckenboden, Fruchtblase noch nicht ge...“ Julia stieß ein leises Wimmern aus, ich sah den nassen Fleck auf dem Bettlaken und korrigierte den Satz. „Fruchtblase ist gerade geplatzt.“ Ich konnte hören, wie Frau Suhrbier hinter mir scharf die Luft einsog.
„Ich schicke Ihnen einen RTW“, kam die Antwort vom anderen Ende der Leitung.
„Beeilen Sie sich“, fügte ich unnötigerweise hinzu, bevor ich auflegte.
Frau Suhrbiers Gesicht hatte mittlerweile jegliche Farbe verloren, ihre Unterlippe bebte und ich hatte das Gefühl, sie würde jeden Moment die Fassung verlieren.
„Ich brauche Handtücher und etwas um das Baby darin einzuwickeln.“
Der Satz diente einzig und allein dazu, die werdende Großmutter irgendwie zu beschäftigen. Ich rechnete nicht wirklich damit, Hebamme spielen zu müssen. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Baby gemacht, das es plötzlich sehr eilig zu haben schien.
Julias Wehen kamen in immer kürzeren Abständen, während ich vergeblich versuchte, das Mädchen – und auch mich selbst - zu beruhigen und ihr die richtige Atmung zu erklären. Bei der nächsten Wehe bäumte sie sich auf und begann zu pressen.
„Neeeeeeeein, das ist noch viel zu früh, du musst atmen“, rief ich und drückte sie gleichzeitig mit sanfter Gewalt zurück auf das Bett.
„Mama Mama, das tut so weh, das tut so furchtbar weh, mach dass das aufhört, es soll aufhören“, schrie Julia.
Mutter Suhrbier kam durch die Tür gestürmt, setzte sich auf das Bett und nahm wortlos die Hand ihrer Tochter. Was musste in dieser Mutter jetzt vorgehen; selbst hochschwanger, saß sie jetzt am Kreißbett ihrer fünfzehnjährigen Tochter, von der sie bis vor zehn Minuten nicht gewusst hatte, dass sie schwanger war.
Meine Gedankengänge wurden unterbrochen, als die nächste Presswehe, das junge Mädchen förmlich überrollte. Ich konnte bereits den Haaransatz des Kindes erkennen und spürte, wie ich in Panik geriet. Tausend Gedanken und Bilder schossen mir durch den Kopf. Der Geburtshilfekurs, den ich im Rahmen meiner Ausbildung absolviert hatte, war schon so lange her. Wie war das mit dem Dammschutz noch mal? Ab wann musste ich ihr sagen das sie nicht mehr pressen durfte? Woher sollte ich denn wissen, wie es dem Baby ging? Wie war das noch mal, welche Schulter musste ich zuerst entwickeln? Was, wenn die Nabelschnur plötzlich nach unten rutschte und der Wehendruck die Blutzufuhr unterbrach? Und was sollte ich tun, wenn das Baby jetzt einfach stecken blieb oder die Wehen aufhörten?
Mein Herzschlag beschleunigte sich in Sekundenschnelle um mehr als das Dreifache, meine Hände begannen zu zittern, ich atmete immer schneller und hatte trotzdem das Gefühl zu ersticken. Schweiß erschien in einem Netz feiner Perlen auf meiner Stirn, rann mir den Rücken hinab. Mir wurde schwarz vor Augen, das ganze Zimmer begann, sich um mich zu drehen, meine Arme und Hände wurden taub, in meinen Ohren rauschte das Blut, und dann war da einfach nur noch diese Leere. Nichts. Vakuum. Alles weg. Alles was ich je gelernt hatte: ausgelöscht, verschwunden, nicht mehr vorhanden, unauffindbar. Ich konnte das nicht, ich konnte das einfach nicht. Sie würden sterben, alle beide würden sterben und wenn nicht das, dann würde das Kind behindert sein, oder Julia nie wieder Kinder bekommen können ... und ich, ich wäre schuld, ich ... ich ganz allein, weil ich eine schlechte, unfähige, hysterische, verantwortungslose Krankenschwester war die abso...
„Leeeeeeeeeaaaa.“ Julias Schrei zeriss die Gedankenkette aus Selbstzweifeln und sich steigernder Panik. Inzwischen konnte ich nicht nur den Haaransatz, sondern auch das Köpfchen des Kindes sehen. Und plötzlich war ich ganz ruhig. Es war so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Angst, Anspannung, Panik, das alles war von einer Sekunde auf die Andere verschwunden und ich tat rein instinktiv das Richtige, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Ja feste Julia. Komm schieb’s raus. Luft holen, Augen zu und pressen. Ja noch mal. Komm du hast es gleich geschafft“, hörte ich mich immer und immer wieder sagen, während ich mit der linken Hand den Durchtritt des Köpfchens bremste, um einen Dammriss zu verhindern, und gleichzeitig mit der rechten auf Julias Bauch, die Presswehen unterstützte.
„Nur noch einmal. Komm schon, nicht aufgeben jetzt, nur noch ein kleines Stückchen, das Köpfchen ist gleich draußen. Ja prima. Gut so, nur noch ein paar Zentimeter.“
Mit einem letzten Schrei sank Julia zurück in die Kissen. Der Kopf des Kindes war geboren. Mit der letzten Wehe zog ich das Köpfchen erst nach oben, dann nach unten und entwickelte so die vordere und hintere Schulter, der restliche Körper und die Beinchen folgten mühelos, durch den Druck der letzten Wehe. Und dann, stand die Zeit still. Einen endlosen Augenblick lang, herrschte vollkommene Ruhe in dem kleinen Zimmer. Ich band die Nabelschnur ab und durchtrennte sie mit einer sterilen Schere aus meiner Schwesterntasche, während das kleine nasse Bündel auf Julias Bauch lag und keinen Ton von sich gab.
Komm schon, schrei. Schrei doch endlich! Doch das Neugeborene gab keinen Laut von sich. Ich spürte, wie meine Hände wieder zu zittern begannen und kalter Schweiß auf meine Stirn trat. Nein, bitte nicht, nicht nach alledem. Schrei doch endlich. Schrei! Aber nichts tat sich. Sah das Kind schon blau aus? Mein Puls raste, meine Gedanken auch. Wo blieb der verdammte Notarzt?
Plötzlich kam mir eine Idee. Ich pustete dem kleinen Jungen vorsichtig ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal. Dann endlich der erlösende erste Schrei und ich hatte das Gefühl, noch nie im Leben etwas Schöneres gehört zu haben.
Ich wickelte ihn in die Handtücher ein und legte ihn Julia auf die Brust. Dankbar und glücklich schloss sie ihren kleinen Sohn in die Arme, Tränen glitzerten in ihren Augen. In meinen auch.
„Er soll Maximilian heißen“, sagte sie, mit einem Blick zum Kalender.
„Ab heute, könnt ihr Doppelgeburtstag feiern“, schmunzelte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn, während der neue Erdenbürger fleißig seine Lungen trainierte.
„Nein Lea, ich glaub daraus wird eher ein Dreiergeburtstag“, stöhnte Frau Suhrbier, während sie sich den Rücken massierte und mit einem Blick, auf den nassen Fleck am Boden deutete.“
Ungläubig blickte ich sie an. „Das ist ein Scherz. Bitte sagen Sie mir, das dass da unten nur verschüttetes Wasser ist. Das kann ... das glaub ich jetzt nicht.“
„Ooooooh! Glaub’s ruhig.“
„Aber ... aber Sie können doch nicht ... nicht Sie jetzt auch noch ... “, stotterte ich. Das war nun wirklich zu viel für mich. Das wäre es für jeden gewesen.
Aber sie konnte und wie sie konnte.
Pünktlich mit dem Eintreffen des Notarztes, legte ich der frisch gebackenen Großmutter den kleinen Moritz in den Arm, der mit seinem vierzehn Minuten älteren Neffen um die Wette schrie.
Meinen Blick zur Uhr kommentierten die erstaunten Rettungssanitäter nur mit einem atemlosen: „Umleitung, Baustelle, alles gesperrt.“
"Naja du weißt ja selbst, wie das mit den Kindern ist, erst krabbeln sie in Strampelhosen über den Teppich und dann machen sie einen ohne Vorwarnung zur Großmutter. Großmutter, wie das klingt", hörte ich Frau Suhrbier sagen.
"Aber, was ist denn das?" Die Verkäuferin deutete mit dem Finger auf Frau Suhrbier Einkäufe auf dem Band und ich ließ vor Schreck meine Geldbörse fallen.
"Ja der ist für Miriam. Ich glaub' unsere Älteste macht mich bald zur zweifachen Großmutter." Frau Suhrbier drehte sich zu mir um und lächelte mich an. "Na, wie wäre es, wenn du dann wieder die Hebamme bist?" Es musste wohl ziemlich deutlich an meinem Gesicht abzulesen sein, was ich davon hielt, denn Frau Suhrbier zwinkerte mir zu und sagte: "Hey, das war doch nur ein Scherz und außerdem denke ich, du wirst dann auch ziemlich beschäftigt sein. Vielleicht wird es ja wieder ein Doppelgeburtstag", flüsterte sie und blickte in meinen Einkaufskorb, in dem eine kleine hellblaue Schachtel mit der Aufschrift Schwangerschaftstest lag.