Hattest Du Angst?
Eine Autohube ertönte und riss mich aus meinen Gedanken. Schlagartig kehrte die Kälte in meine Glieder wieder. Ich sah von meinem Skizzenbuch voller Erwartung hoch und wurde nicht enttäuscht: Der silberne Audio A4, der Dienstwagen von Oli, hielt vor der Einfahrt. Schnell raffte ich meine Zeichenutensilien zusammen und warf sie, ungewöhnlich achtlos, in meine Tasche und sprang von den Stufen unseres Einganges auf. Es war noch einmal richtig kalt geworden für einen Juniabend, aber die langen Abende sprachen dennoch eindeutig für den Sommer – wenn dieser sich bisher auch nicht von seiner besten Seite gezeigt hatte.
Noch etwas steif versuchte ich zum Wagen zu spurten, was jedoch eher zur Belustigung von Oli führte, als zu einem wirklichen Geschwindigkeitsgewinn. Ich öffnete die Beifahrertür, beförderte meine Tasche in den Wagen und ließ mich dann in den weichen Sitz fallen, um jedoch sofort das Gesicht zu verziehen. Amüsiert zog ich Oli’s Diensthandy unter meinem linken Bein hervor, während ich mit der rechten die Tür schloß. „Musstest Du lange warten?“, fragte Oli mich. „Nein.“, antwortete ich lachend, „Nur 1 ½ Stunden.“ „Dann ist ja gut.“, kam als Antwort zurück. Es sollte abschließend und in einer Art „ist-halt-so“ und „kann-ich-ja-nichts-dafür,-dass-ich-so-lange-arbeiten-muss“ klingen, aber ich konnte raushören, dass es ihm leid tat. Nicht umsonst hatte er extra noch einmal angerufen um zu fragen, ob ich mitkommen möchte, den Dienstwagen wieder zurückzubringen, denn ansonsten wäre die Wartezeit noch um mindestens eine Stunde verlängert gewesen. Natürlich war ich etwas enttäuscht, dass unser gemeinsamer Abend nicht so verlaufen sollte, wie geplant, aber ich wollte Verständnis zeigen, denn schließlich hatte Oli den Job erst seit einer Woche. Heutzutage ist es ja nicht leicht, direkt nach der Ausbildung einen Job zu finden und trotz eines nur mittelmäßigen Abschlusses hatte er gleich ein Stelle finden können. Jetzt musste der Dienstwagen nur noch zum Firmengelände zurückgebracht werden und dann hieß es Feierabend für ihn.
Außendienst war schon eine ziemliche Fahrerei, dachte ich während ich aus dem Wagenfenster die dahineilenden Bäume betrachtete, zumal das Firmengelände rund eine halbe Stunde mit dem Auto von der Stadt entfernt lag. Wir erzählten nicht viel und überließen uns allein unseren Gedanken. Das war das Angenehme an Oli: Man konnte auch einfach mal ruhig nebeneinander sitzen.
„Wir sind gleich da.“, kam es von der Seite. „Da vorne rechts ist es.“ Meine Augen folgten der Beschreibung während Oli den A4 eine holprige Einfahrt einbiegen ließ. Schlagartig wurde es dunkler ... zumindestens schien es so, da die unerwartet lange Einfahrtstraße, eingerahmt von einer Natursteinmauer, die beinahe mannshoch waren, geradezu vollständig eingeschlossen von Bäumen und Efeu zu sein schien. Wir hielten vor einem großen Eisentor und Oli stieg aus, um mit einem Schlüssel das Tor elektrisch auffahren zu lassen. Ich blieb im Wagen und betrachtete das ungewöhnliche Bauwerl: Es war ein einstöckiges Gebäude aus Ziegelsteinen, welches auf der linken Seite bis an die Steinmauer ragte und ansonsten von einer Reihe Parkplätze umrundet war – für mehr reichte das Grundstück einfach nicht. Irgendwie wirkte es etwas eng und ich vermutete, dass dies auch an der rechten Seite des Ziegelbautes lag, der zusätzlich eine Art Turm besaß, welcher mich an einen überdimensionaler Funkmast erinnerte.
Knarrend fuhr das Tor zur Seite bis es ungefähr halb geöffnet war und stecken zu bleiben schien. Oli kam zum Wagen und beantwortete meine Frage noch bevor ich sie stellen konnte: „Vor lauter Efeu kann das Tor schon gar nicht mehr richtig aufgefahren werden und wenn man nicht aufpasst, bleibt es stecken.“ Mit diesen Worten ließ Oli den Wagen anspringen und suchte sich einen Parkplatz dicht am Eingang. Während ich einige Taschen schon aus dem Wagen wühlte, schloss Oli das Tor wieder. Irgendwie bekam ich das Gefühl, das Gebäude schon einmal besucht zu haben, obwohl ich zum ersten Mal hier war und ich mir sicher war, in dieser Gegend noch nie gewesen zu sein. Es war ein Gefühl, wie eine unangenehme Erinnerung, die ich jedoch gleich wieder verdrängte und mich mit Oli dem Eingang näherte. Der Eingang war eine weiße, schwere Tür mit Fenster. Oli schloss auf und wir betraten den Flur, der gleichzeitig ein Treppenhaus war. Rechts führte eine graue, schwere Brandschutztür in den Bereich des Gebäudes über den der Funkmast lag. Geradeaus führte eine Treppe nach oben und eine nach unten. Oli ging zielstrebig auf eine Tür links zu, die ich fast übersehen hätte: Sie sah wie eine weiße Brandschutztür mit Fenster aus ... irgendwie ungewöhnlich, fand ich, konnte jedoch nicht erklären, warum. Hinter dieser Tür lag ein sehr langer, kahler Flur, mit Linoleumfußboden, nicht mehr weißen Wänden und flackerndem Licht. Es wirkte unrealistisch, fremdartig und dennoch dachte ich sofort: Das kenne ich!
Warum auch immer, wusste ich sofort , dass rechts, nach wenigen Metern wie von Zauberhand eine Tür auftauchen würde, die man noch nicht sehen konnte, weil sie in die Wand eingelassen war. ... und genau dahin folgte ich Oli. Die Tür war auf, obwohl niemand da war und in dem Moment viel mir auf, dass auch das Licht in diesem Gang gebrannt hatte, sodass wir trotz der beginnenden Dämmerung kein Licht hatten selber einschalten müssen. Oli fuhr selbstverständlich seinen Arbeitslaptop hoch und erklärte mir, dass er sich nur noch austragen müsse, was jedoch einen Moment dauern könnte. „Kein Problem“ war meine prompte Antwort und ich hüpft auf einen der drei alten Drehstühle, der ächzend unter meinen Gewicht nach unten sackte, wie es eben die Art von vielen dieser Sitzgelegenheiten war. Im Raum standen drei riesige Schreibtische, die aussahen, als wären sie aus den sechziger Jahren. Sie machten den eh schon kleinen Raum noch kleiner und durch das wahnsinnige Chaos, dass unverkennbar davon herrührte, dass hier mehrere männliche Personen den Raum nur kurzzeitig nutzten (hauptsächlich zum Abladen von irgendwelchem Krempel): Überall lagen Arbeitsmaterialien, klebten Sprüche und auch ein schon klischeehafter Nacktkalender zierte eine leicht versiffte Wand. Ein schiefes Grinsen konnte ich mir bei dem Anblick nicht verkneifen und irgendwo geisterte in meinem Kopf eine zynische Stimme, die sarkastisch äußert „das ist aber nicht mehr erlaubt“ herum, wodurch mein Grinsen nur noch breiter wurde. Ich liebe solche Klischees!
Nachdem ich zu dem Schluss kam, dass es hier super viele interessante Kleinigkeiten zu entdecken gab, ich aber gleichzeitig nicht in der Lage war, die riesige Staubschicht zu übersehen und sowieso gedanklich bei Klischees war, kam ich zu dem Schluss, dass ich jetzt ein weibliches Klischee zu erfüllen hatte. „Oli? Wo kann ich hier denn auf Toilette gehen?“ „Dazu musst du den Gang runter gehen, durch die Tür, weiter geradeaus, noch einmal durch eine Tür und dann gleich links.“ „Ok, dann bis gleich.“, sagte ich lächelnd.
Kaum war ich auf den Flur getreten, erlosch mein Lächeln. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen bei dem Anblick des so lebloswirkenden Ganges, den ich vor mir hatte. „Stell Dich nicht so an! Du liebst Horrorfilme und gehst liebend gerne Nachts dunkle Gassen entlang! Was soll schon an so einem Gang sein?! Jetzt setz Dich schon in Bewegung!“, ermahnte ich mich selber und trottete mit mulmigen Gefühl über das Linolium direkt auf die nächste graue Brandschutztür zu. Meine Hand legte sich auf das kalte Metal des Türgriffes und wie erwartet musste ich mich bemühen, die schwere Tür aufzuziehen. Deswegen zog ich sie nur so weit auf wie nötig und huschte dann durch den entstandenen Spalt. Ich stand in einem fast genauso aussehenden Gang, der nur wesentlich kürzer war ... vielleicht 4 Meter lang? Höchstens, schätzte ich. Ein lauter Knall. Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich um, als die Metalltür scheppernd hinter mir wieder zuviel. Für einen Moment hatte ich sie schon wieder vergessen gehabt und nun schlug mein Herz drei Takte schneller. Ich stieß ein kurzes Lachen aus, dass mich eher beruhigen sollte, aber das matte Echo des so unnötig erscheinenden Ganges verunsicherte mich eher. Noch einmal redete ich mir ein, dass es völliger Quatsch ist, mich so zu benehmen. Also ging ich entschlossen weiter und öffnete die zweite Tür und war überrascht: Hier brannte kein Licht und hier war ich wieder in einem Treppenhaus. Ich tastete nach einen Lichtschalter. Obwohl ich Ihn sehr schnell ertasten konnte, schien mir jede Sekunde endlos lang bis ich den kleinen Schalter endlich fand. Rechts lag eine Treppe, welche nach oben führte und eine welche nach unten führte. Das Licht beleuchtete jedoch nur den linken Bereich, sodass das rechte Treppenhausbereich weiter im Dunklem lag. Links lag ein Duschraum. ... ein Duschraum?! Verwundert las ich das Türschild noch einmal: „Herrenduschraum“ stand hier. Irritiert lugte ich durch die offenen Tür in den Raum. „Erinnert mich an meine Nacht mit meiner Judotruppe in einer leerstehenden Kaserne“, überlegte ich. Der Raum ließ vermuten, dass hinten links noch ein Weg in einen weiteren Raum führte. Ich beschloss jedoch erst einmal das Treppenhaus zu begutachten, weil es schien, als wenn von irgendwo leichtes Licht von draußen das Treppenhaus, das keine Fenster zu besitzen schien, zu erleuchten. Neugierig woher es denn sonst kommen könnte, ging ich an das Geländer und blickte hoch. Fasziniert stellte ich fest, dass drei runde kleine Fenster in die Decke eingearbeitet waren und leichtes Sternenlicht ins Treppenhaus fallen ließ. Für einen Moment war ich einfach nur verwundert etwas Derartiges in diesen ansonsten so schlichten, eher lieblosen Bau zu finden, dann stockte ich. Wieso denn Sternenlicht? War es mittlerweile schon so spät? Waren wir schon so lange hier? Beim Betreten des Hauses hatte es doch gerade erst gedämmert!
Da jedoch der Ruf von Mutter Natur immer stärker wurde, beschloss ich erst einmal nachzusehen, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag und in dem Duschraum auch ein weiterer Raum, vermutlich die Toiletten, zu finden waren. Bingo, dachte ich, wie ich durch den mit altbackschen Fliesen ausgelegten Duschraum ging und einen in die Wand eingelassenen Durchgang zu zwei Toiletten fand. Es ist ja keiner hier, dann wird’s auch keinen stören, wenn ich die Herrentoilette benutze, dachte ich und schloß mich in eine Kabine ein.
Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte und wieder im Treppenhaus stand, kam ich nicht drum herum noch einen Blick zu den Fenstern an der Decke des Treppenhauses zu werfen. Ich starrte sie an und bewunderte den Himmel. Kurz bevor ich zurückgehen wollte, schweifte mein Blick auf die erste Etage, wo das Geländer nur schemenhaft zu erkennen war. Gänsehaut lief mir den Rücken runter. Da war etwas! Ich strengte mich an und versuchte mich auf den dunklen Schatten am Geländer zu konzentrieren. ... es sah aus ... wie eine Person ... eine Frau ... eine ältere Dame ... es sah aus, wie eine ältere Dame im NACHTHEMD! Ich kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und dachte nur „Quatsch! Das kann nicht sein, was sollte eine alte Dame, im Nachthemd, hier machen?!“ Also öffnete ich die Augen erneut und ich suchte mit den Augen abermals das Geländer ab. Sie stand immer noch da. Bewegungslos. „Moment mal ...“, dachte ich, „Wenn da eine ECHTE Frau stehen würde, wenn ich sie mir nicht einbilde, dann würde sie sich auch bewegen! Dann würde sie fragen wer ich bin! Dann würde sie IRGENDETWAS tun!“ Dem war ich mir sicher. „Folglich“, ich bildete mir ein mein Gehirn würde wieder in der Realität auf Hochleistung arbeiten, „kann das keine alte Dame im Nachthemd sein! Es muss etwas anderes sein! Entweder strenge ich meine Augen jetzt noch einmal an oder ich gehe hoch und sehe nach, was mir hier für einen Moment so einen Schrecken versetzt hat.“ Also zurück in der Realität bemühte ich mich vergeblich mit den Augen etwas anderes zu erkennen. Dennoch fühlte ich mich, je länger ich da unten stand und vergeblich versuchte etwas anderes zu erkennen, nur bestätigt davon, dass keine alte Dame im Nachthemd so lange ruhig dagestanden und ins Treppenhaus hinunter geguckt hätte! Also musste ich herausfinden, WAS da oben stand! Das war für mich klar!
Ich ging also zielstrebig die ersten Stufen der Treppe hoch und blieb dann auf der dritten wie angewurzelt stehen. „Und wenn das doch ein Mensch ist? Vielleicht eine Verrückte? Mal davon abgesehen, wie soll sie hier reingekommen sein??? ... aber man weiß ja nie!“ Also lehnte ich mich über das Geländer und blickte wieder hoch.
Sie stand immer noch da.
Unheimlich, dachte ich erneut und meine mutige und ich-bin-ein-realistisch-denkender-Mensch-Einstellung schwand dahin. Aus irgendeiner Idee heraus rief ich dann einfach ein „Hallo!“ in das totenstille Treppenhaus und ich dachte noch stolz während ich es aussprach, dass ja kein GEGENSTAND darauf antworten kann.
„Hallo!“, krächzte die alte Damen im Nachthemd.
Ich erstarrte zur Salzsäule. Hallo?! Sie hat GEANTWORTET?! Die Haare standen mir am ganzen Körper zu Berge. Unschlüssig, was ich jetzt machen sollte, öffnete ich den Mund - bekam keinen Ton heraus - schloss ihn wieder - schnappte nach Luft - und versuchte schließlich einen klaren Gedanken zu fassen ... einen Gedanken, der nicht mit dem Wort PANIK beschrieben werden konnte.
Ich brachte dann ein „Entschuldigung“ hervor und stürmte zur Tür. Warum ich mich entschuldigte? Ich weiß es nicht ... ein Reflex? Ich dachte nur noch eins: Weg hier! Wie die erste Brandschutztür schwer hinter mir ins Schloss fiel, erschreckte mich das Geräusch keines Wegs, sondern beruhigte mich eher, denn nun war schon mal eine schwere Tür zwischen mir und dieser Frau, dennoch begannen sich meine Gedanken zu überschlagen:
Was machte eine alte Damen, die mindestens schon 80 war, im Nachthemd, abends, ich schätzte so gegen 10, in einem leerstehenden Firmengebäude?
War es eine Verrückte?
... ich passierte die zweite Brandschutztür und stand wieder in dem langen Gang in dem auch die Tür zu dem Gemeinschaftsbüro lag ...
Warum war überall das Licht an, aber nicht im Treppenhaus?
Wenn es die Frau angelassen hat, warum hatte es Oli nicht gestört und warum hatte sie es dann nicht im Treppenhaus eingeschaltet?
Wohnt sie vielleicht hier?
Das würde das Nachthemd erklären, wäre es aber dann nicht unwahrscheinlich, dass die Firma alle Räume auflässt, einfach so?
Ich bemühte mich verzweifelt wieder zur Ruhe zu kommen, aber vergeblich! Zu unwirklich wirkten die Räume, zu verrückt war die Tatsache, dass die Dame mir geantwortet hatte. Mit schnellen Schritten betrat ich das Büro und stellte erleichtert fest, dass Oli noch selig an seinem Platz saß. Ich ließ mich in denselben Drehstuhl wie zuvor fallen und atmete tief durch. Wie ich da so saß, kam mir alles wie ein Traum vor.
War ich je auf Toilette gewesen?
War ich der Frau wirklich begegnet?
Es war ruhig im Büro und Oli sagte nichts. Also fing ich an und meinte, dass ich eine alte Dame gesehen hätte und mich total erschrocken hätte. „Ja, das ist ein ehemaliges Postgebäude und die alten Mitarbeiter dürfen hier noch wohnen.“
Stille.
„Das ist alles? Und das sagst Du mir jetzt?!“, war meine fassungslose Antwort. Jetzt erst blickte Oli von seinem Laptop hoch „Wieso? Hattest Du Angst?“ Ich lief rot an und antwortete „Natürlich nicht!“, dennoch rutschte ich, bis Oli seine Eintragungen beendet hatte, unruhig auf dem Drehstuhl hin und her und behielt die offene Tür immer im Auge ...